Mond über Beton. Julia Rothenburg
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Zwölf Etagen Stahl umarmen das Kottbusser Tor, wo das Herz aus Beton seit Anfang der Siebziger in unruhigem Takt schlägt. Gefährlich sei der Kotti, schreibt die Presse, ein sozialer Brennpunkt, Drogenumschlagplatz. Hier, im Gebäuderiegel Neues Zentrum Kreuzberg, leben Mutlu, Barış, Aylin, Stanca, Marianne und Günther. Ihre Geschichten, eine Chronik persönlicher Schicksalsschläge, sind eng verwoben mit dem Leben des Viertels. Als Stanca eines Nachts einen schrecklichen Fund macht und Mutlus Söhne ins Drogenmilieu abzurutschen drohen, bildet sich eine Bürgerwehr. Unbemerkt bleibt dabei eine ganz andere, allumfassende Gefahr, die im Verborgenen an einem eigenen Ende schreibt.
Julia Rothenburg erschafft empathische Porträts ihrer Figuren, die jede für sich um eine selbstbestimmte Existenz kämpfen. Ein Bild urbaner Vielstimmigkeit entsteht, das auf Risse hinweist, die einzelne Leben und eine ganze Gemeinschaft auseinanderbrechen lassen können.
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Freitag
Traum
Samstag
Die Menschen sind wie Kinder, wenn es um ihre Häuser geht. Sie stellen sie in die Stadt hinein wie Klötze in eine Legowelt, sie malen sich aus, wie das alles funktionieren soll, die hübschen Plastikbäume in den Teppich gedrückt, sie halten nicht, das Kind wird ungeduldig, lässt die Bäume sein. Die Häuser werden aufgetürmt. Das Kind hat eine Vision: Das Haus soll hoch sein, das Haus soll schön sein, es sollen Mütter darin wohnen. Die Kinderwagen stehen vor dem Haus, kleine Plastikkinderwagen mit kleinen Plastikbabys. Das Kind baut weiter, ein Fähnchen aufs Dach, fertig. Das Kind hat einen Traum: Es weiß genau, wie in diesem Haus gelebt wird. Es weiß genau, wer dort ein und aus geht, wie der Mensch ist, der dort wohnt. Es sind Bauarbeiter und Piloten, und die Mütter gehen morgens mit ihren Kinderwagen vor dem Haus spazieren.
Und da sitzt das Kind also schließlich und glotzt vergnügt auf dem Teppich umher, auf dem schon die Straßen aufgemalt sind, damit das Kind üben kann, was vom Erwachsenen später erwartet wird: Häuser in die Welt zu setzen und Babys und gute Ideen.
Das Kind ahnt nicht, was passiert, wenn es das Zimmer verlässt, und die Erwachsenen verstehen nicht, dass nicht nur ihre Babys ungehalten schreien, wenn es Nacht wird.
»Wer hier aus der U-Bahn steigt, ist selber schuld«
Die Welt, 7.3.2016
Da sitzen sie, die kleinen Gangster, und trinken Capri-Sonne. Es ist Frühling. Die Muskelshirts schlackern am Körper. Das sieht sie ja sogar von hier. Es ist viel zu kalt. Alle vier haben ihre Caps ins Gesicht gezogen. Ab und zu springt einer auf, fuchtelt vor den anderen herum. Die Stimmen hallen über den ganzen Kanal. Aylin hat sie schon von weitem gehört, da stand sie noch bei den Schwänen, die Plastiktüte fest umklammert, damit die Schwäne bloß nicht denken, dass da was für sie drin sein könnte.
Aylin beschleunigt ihren Schritt, viel zu lange hat sie hier rumgestanden. Seit ihrer Kindheit schon kriegt sie den nicht los, diesen sinnlosen Drang, sich an Details aufzuhalten: riesige Schwanenfüße, die auf dem Boden rumwatscheln.
Das Essen in der Tüte wird kalt.
Laut kieksen die Stimmen, sie hört dazwischen Buraks Kinderstimme, auch aus der Entfernung, sie sticht hervor wie die komplett weiße Kleidung von diesem Marcel, der auch immer bei der Gruppe abhängt. Genauso ein Assi-Kind wie die anderen.
Von außen verschwimmen die vier zu einer Einheit.
Sie denkt schon seit Jahren, dass Onkel Mutlu mal härter durchgreifen sollte. Das bisschen Handyverbot. Nicht dass sie wüsste, was da jetzt noch helfen könnte. Sie weiß ja selbst, dass Burak eigentlich ein hoffnungsloser Fall ist. Hat andauernd geflennt, als er klein war. Man musste ihm nur sein Spielzeug wegnehmen. Hat auch geheult, wenn sie gegangen ist. Geh nicht, Aylin, geh nicht. Traumatisiert, hatte Marianne gesagt. Aber das war doch erst später. Vor dem mit Hilal hat der noch viel mehr geheult als hinterher. Hinterher: große feuchte Kinderaugen, aber oft stumm. Zumindest als sie ihm das erklärt hat, ihm und Barış, weil Onkel Mutlu es ja nicht konnte. Onkel Mutlu, der ebenfalls stumm war, danebensaß, dann hinausging, die Tür zuknallte. Da zuckten sie zusammen, die Jungs. Noch größere Kinderaugen. Und sie saß allein im Wohnzimmer mit diesen Kinderköpfen, Raspelhaare hatten die beiden damals, weich wie Fell, passte fast in die Hand hinein, so ein Kinderkopf, mit dieser kleinen Einbuchtung hinten.
Schuld an dem ganzen Geheule war natürlich Marianne. Die ganzen deutschen Märchen sind ja voll von Kindern, die von ihren Eltern allein gelassen werden. Da war Marianne erbarmungslos, die hat sie trotzdem vorgelesen. Einmal hat Marianne dann selbst angefangen zu heulen. Natürlich hat sie so getan, als würde sie nicht heulen, hat einfach weitergelesen, mit diesem Bruch in der Stimme, feuchter Spucke und Rotze zwischen den Wörtern. Das war nicht zu ertragen. Ich mach, hatte Aylin gesagt, dabei ist sie echt mies im Vorlesen. Sie erinnert sich genau an den Moment, wie peinlich das war, das schwere Buch auf den Knien, ein deutsches Märchenbuch, und die Wörter viel zu klein für ihre Augen, weil sie ja eigentlich eine Brille braucht. Aber musste dann halt.
Marianne ist seitdem sowieso nicht mehr gekommen. Aylin hat das mit dem Vorlesen noch ein paar Tage lang durchgezogen. Und schließlich hat sie es sein lassen. Die Jungs waren ja eigentlich eh schon zu alt zum Vorlesen. Und was ist überhaupt die Moral von diesen ganzen Storys? Wenn man Burak und Barış in den Wald schicken würde, die würden keine Sekunde überleben, die kleinen Scheißer.
Jetzt haben die Jungs angefangen, ihre Capri-Sonnen in den Kanal zu werfen. Einer springt auf und versucht, einen anderen hinterherzuschubsen. Ein Riesenzirkus ist das. Aylin kneift die Augen zusammen. Es ist kalt, viel zu kalt, ein mickriger Frühlingsanfang, und trotzdem glitzert die Sonne im Wasser. Wie kleine Schiffe fahren die Capri-Sonnen im Kanal davon.
Aylin schwenkt die Plastiktüte.
Gleich gibt’s Essen, brüllt sie rüber.
Burak sitzt als Einziger noch, während die anderen sich gegenseitig dem Kanal entgegenrangeln, zuckt zusammen. Die anderen drei Jungs kichern. Stoßen sich an, als sie näher kommt.
Braucht gar nicht so dumm zu gucken, sagt Aylin.
He, Aylin, sagt einer. Jan, Gesicht wie ein Ochse. He, krieg ich deine Handynummer?
Davon träumst du.
Komm, ich bin der Richtige. Wirst sehen, wir sind füreinander bestimmt.
Die kleinen Jungskörper werden geradezu geschüttelt von diesem Kichern. Nur Burak schaut betreten auf den Boden.
Ich kenn deinen Vater, Jan, sagt Aylin.
Sie kennt auch Jans Geschwister. Nur die Schwester ist in Ordnung. Ein bisschen viel Schminke, ein bisschen zu gerne beim Friseur, ansonsten okay. Aber dieses In-der-Gegend-Herumlungern, breitbeinig, und zwischendurch kleine Spuckepfützen auf den Gehweg pflanzen, sich an die Eier fassen, ein Mini-Jan wie der nächste, ein Jan-Quartett, die ganze Familie.
Du weißt, was dein Vater sonst sagt, sagt sie zu Burak und dreht um. Das Kichern folgt ihr den vom Regen noch matschigen Fußweg entlang, Poltergeistmelodie.
* * *
Stanca schaut durch den Türspion. Weiße Gänge, so weiß. An der Seite gedehnt, ein rundes Bullauge, durch das man die Leute alle als Kugeln sieht. Immer als kleine Figürchen, wenn sie vorbeikommen, wenn sie am Treppenabsatz stehen. Je näher sie kommen,