Mond über Beton. Julia Rothenburg

Mond über Beton - Julia Rothenburg


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sitzt immer still, seit Jahren schon. Sitzt dort, und der Fernseher plappert vor sich hin, und Onkel Mutlu spuckt Sonnenblumenkernschalen in eine Schüssel. Er nickt ihr zu, als sie hereinkommt.

      Du siehst müde aus, amca, sagt Aylin.

      Setz dich kurz zu mir, sagt Mutlu.

      Das Essen wird kalt, sagt Aylin.

      Onkel Mutlu schiebt die Schale von sich, steht auf, breitbeinig, natürlich, die Hände auf den Hüften. Im Laden, zwischen all dem Gemüse, fällt gar nicht auf, wie groß er ist.

      Ich mach’s schnell fertig, sagt Aylin.

      Onkel Mutlu nickt wieder.

      In der Küche kann sie selbst mit geschlossenen Augen alles aus den Schränken holen. Barış, brüllt sie, und es rumpelt im Nebenzimmer. Die leise Musik verstummt. Bemerkt man erst, dieses ständige Gedudel aus seinem Zimmer, wenn das aufhört. Und dabei sind die Wände hier ja schon aus Stahlbeton. Das Beste, was so ein Haus zu bieten hat, wie Onkel Mutlu ihr mal erklärt hat, ewig her ist das. Da waren ihre Eltern noch hier, ihr Vater noch dick, ihre Mutter noch nicht so verbiestert, und Barış war noch der kleine Pups, den er jetzt mit diesem Flusenbart zu leugnen versucht.

      Aylin holt die Styroporpackungen aus der Tüte, zieht sie auseinander und schaufelt alles in Schüsseln, stopft das Plastikzeug ganz weit nach unten in den Mülleimer.

      Wo ist Burak?, fragt Mutlu aus dem Esszimmer, seine Stimme ist immer so laut, die dringt durch die Wände, als wären sie nicht da, als wäre das doch kein Stahlbeton.

      Barış, wo ist dein Bruder, antworte mir!

      Weiß ich doch nicht, sagt Barış, lässt sich auf den Stuhl fallen, nimmt den Teller, den Aylin ihm hinstellt. Wieder asiatisch. Keiner sagt was.

      Barış fängt schon an zu schlingen. Etwas rote Soße spritzt auf sein weißes Muskelshirt.

      Du stinkst, sagt Aylin. Benutz wenigstens nicht dieses Prolldeo.

      Mhm, sagt Barış, also eigentlich sagt er es nicht, ist eher so ein Röhren, das aus ihm rauskommt, zusammen mit kleinen Stückchen Frühlingsrolle.

      Barış, wir warten mit dem Essen, bis dein Bruder –, sagt Mutlu.

      Burak kommt, gerade als sie auch ihm Frühlingsrollen auf den Teller gelegt hat. Lässt sich auf den Stuhl fallen, genau wie Barış vorhin, dieselbe Bewegung. Da sieht man eben doch, dass sie Brüder sind.

      Und jetzt legt los, ich hab nicht viel Zeit, sagt Aylin.

      Sie schaut den Jungs zu, während sie essen. Im Essen sind sie gleich. Wie sie Gabel für Gabel hineinschlingen in die großen Münder. Sie muss dringend Dilek anrufen, ob sie morgen Poğaça abholen kann. Sie hat keine Zeit, welche zu machen. Und auch keine Lust.

      Ich hab jetzt Schicht, sagt sie. Onkel Mutlu nickt, die Cousins schauen wie hypnotisiert auf ihre Handys. Burak spielt Candy Crush, Barış tippt nur irgendwie herum.

      Der Onkel sagt nichts dazu. Nur alle paar Tage murmelt er: Was bin ich gestraft mit diesen Kindern.

      Das ist die Jugend, amca. Total verblödet.

      Burak schaut auf und verdreht die Augen, und Barış hat schon wieder ein YouTube-Video laufen.

      Wenn ihre Mutter das sehen würde, sagt Mutlu.

      Es gibt noch mehr Frühlingsrollen, sagt Aylin. Sind im Kühlschrank, für später. Bin dann kurz oben.

      Beim Hinausgehen schaut sie auf die Uhr. Zehn Minuten, bis die Schicht anfängt. Das reicht, um das Kopftuch loszuwerden, und vielleicht die Schminke.

      Hast du auch die Einladung bekommen, fragt Mutlu, sie hört die Stimme, als stünde er neben ihr. Und da steht er plötzlich tatsächlich. Sie tritt einen Schritt vom Spiegel weg. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass ihr Kopftuch verrutscht ist.

      Sie hat jetzt keine Zeit, mit ihm zu streiten. Er streitet ja eh nicht gerne. Meistens wird er gleich wütend und rennt dann aus dem Zimmer.

      Du kommst doch, sagt Mutlu.

      Aylin zuckt irgendwie die Schultern und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Bis später.

      Das Klacken der Tür hallt im Treppenhaus.

      Bis zu ihrer Wohnung ist es nur ein Stockwerk, und sie schaltet das Licht nicht an. Durch die Fenster blinkt der Kotti in all seinen Farben, bunte Lichter auch auf dem Gangboden.

      Unten fällt die Haustür ins Schloss, und sie hört Günthers schweren Schritt, Schnaufen auf den Treppenabsätzen.

      Ein Glück ist sie schon an ihrer Tür, dreht schnell den Schlüssel, nicht dass der gleich hier oben ankommt und sie wieder so blöd anglotzt.

      Sie wirft den Schlüssel auf die Kommode, direkt neben die Ankündigung, die Marianne ihr heute in den Briefkasten gesteckt hat. Schon die zweite dieses Jahr. Einladung zur Bürgerversammlung. Mit schnellen Schritten geht sie ins Bad, das Licht der nackten Glühbirne flimmert. Aber für einen Lampenschirm hat sie weder Zeit noch Geld. Aylin nimmt das Kopftuch ab, schüttelt die Haare.

      Selbst hier oben glaubt sie Barış’ dämliche YouTube-Musik zu hören.

       Auch ich hatte Eltern. Auch ich wurde geboren in diese Welt, die einen Abdruck auf einem hinterlässt, in der Sekunde, in der man die Augen öffnet. Und auch, wenn man sie nicht öffnet.

      Man muss ordentlich schneiden, sonst reißt das Zeitungspapier. Das ist ja nicht gut, immer schlechter geworden in all den Jahren, selbst die Kreuzberger Kiezzeitungen damals waren besser als die Zeitungen jetzt. Das ist zumindest ihr Eindruck, wenn sie das Blatt zwischen die Hände nimmt. Früher war das dicker, das hätte man als Klopapier benutzen können. Hat man ja auch.

      Vielleicht haben sich auch einfach ihre Finger verändert. Das Gefühl für das Dicke, für das Dünne. Sie muss mal Günther fragen, was er dazu denkt. Liest doch Zeitung, seit sie ihn kennt. Oder tut zumindest so. Schon länger hat sie ihn im Verdacht, dass er nur die Werbung anschaut. Drauf reinfallen tut er ja auch. Wie er sich neulich diese goldfarbene Uhr gekauft hat. Dabei haben sie ja nun wirklich kein Geld zum Rauswerfen. Schön, wenn es ihn glücklich macht. Wenn er denkt, dass er so irgendwen beeindrucken kann, seinen Minigolfverein oder am Ende noch Birgit, diese Dampfschratel. Aber ihr kann man nicht so leicht etwas vormachen. Gab’s im Sonderangebot bei Karstadt, ja ja. Die Werbung hatte sie auch gesehen, war eine ganzseitige Anzeige.

      Wenn die Zeitung so ausfranst, an den Rändern so einreißt wie jetzt, dann kann man sie nicht gut archivieren. Aber was soll man machen. Und es gibt ja jetzt auch Internet. Ein Laminiergerät, laminieren für die Nachwelt, das wäre mal eine Investition, die das Stadtteilmuseum voranbringen würde. Aber sie haben kein Geld übrig für so was, und überhaupt, wenn, dann müsste sie sich drum kümmern, sonst macht es keiner.

      Wo kam denn dieser bittere Gedanke jetzt schon wieder her? Nein, Marianne schneidet weiter, sie nimmt das ja niemandem übel, sie macht es gerne, aber Pause, das sollte sie eben auch mal wieder machen. Ohne ein Innehalten kommt man auch nicht wirklich weiter, aber es hilft schließlich nichts. Im Stadtteilmuseum ist man auf sie angewiesen, und das: nichts Neues eigentlich. Meistens ist es sie, die mehr gibt, das muss man einfach mal so sagen. Was sie ihr ganzes Leben schon gibt, damals für die Bewegung, dann im Ehrenamt im Obdachlosencafé, immer mit Günther, für Günther. Aber jammern, nein, das ist auch nicht ihre Sache. Mit dem Kotti ist es ja dasselbe: Sie erträgt das nicht nur, den Lärm, den Schmutz, ohne Murren, sie kümmert sich auch drum, von Anfang an schon, sie sorgt sich, vielleicht zu viel, aber so ist das eben, wenn man an etwas wirklich hängt.

      Marianne schiebt die Brille höher auf die Nase und beugt sich über die Zeitung, schnipselt an der Kante entlang, die Werbung unten, die halbnackte Frau mit geöffnetem Mund, die hat sie weggeschnitten. Den Artikel streicht sie glatt, tut ihn zu den anderen. Lesen will sie ihn lieber nicht noch mal. Sie würde ja gerne sagen: alles Gerede. Und ganz sicher ist auch viel Gerede dabei. Aber dass da so viel kommt, immer wieder. Sie merkt das ja selbst. Merkt, wie die Angst sich einschleicht. Dabei ist sie ja wirklich, nein, ängstlich


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