Mond über Beton. Julia Rothenburg

Mond über Beton - Julia Rothenburg


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bei ihm, weiß er nicht. Merken wohl, dass ihm keiner dumm kommen kann. Dass er schon alles gesehen hat. Hat er natürlich nicht, aber ist egal, kommt drauf an, wie man wirkt. Weitere Lektion seines Lebens: Kommt immer drauf an, wie man wirkt.

      Ario steht auf dem Platz, und die Sonne scheint, nur irgendwie hier nicht, Wolke überm Kotti. Ist grell trotzdem, graues Grell, spiegelt sich tausendfach im Beton. Beton ist sein Element. Grau und Beton, das ergibt eine Wörterreihe: grau, Beton, Ario. Ach Quatsch, Alphabet: Ario, Beton und so weiter. Alphabet, da denkt er immer an seine Grundschullehrerin, die einzige, die er noch vor Augen hat, Knoten am Kopf hinten, Brille ohne Rand, weiche Hände auf seinen Schultern. Wörterreihen schreiben, Schönschrift. Ario, Ario, Ario, Beton, Beton, Beton, Cent, Cent, Cent, Dach, Dach, Dach, Elektrozaun, Elektrozaun, Elektrozaun, Flur, Flur, Flur, grau, grau, grau.

      Die U-Bahn reihert massenweise Touristen auf den Platz, und trotzdem war er heute noch nicht erfolgreich. Er hat kaum Geld übrig. Die letzten Tage, ein Jammertal. Da hat auch die Aspirin aus dem Café nicht geholfen. Die Ehrenamtliche hat ganz erschüttert geguckt. Wie siehst du denn aus? Soll ich den Arzt?

      Bloß nicht, nein, nein, nicht so schlimm, hat er gesagt. Bin das ja gewohnt. Die schluckt echt alles. Nie ist er krank gewesen. Mal abgesehen von dem einen Besuch in der Psychiatrie. Emmendingen. Der ganze Ort ist eine Psychiatrie. Erinnert sich an die weißen Gänge. An das Geschrei nachts am anderen Ende des Korridors. Irgendein Schizophrener. Jesusfantasien in der Mittagspause. Das ist der Herr Jesus, hat seine Mutter mal zu ihm gesagt, Kindheit, Kirche, Kruzifix, ein Holzjesus an der Wand. Das ist der Herr Jesus, genau in diesem Ton, eins der wenigen Dinge, die die Mutter mal gesagt hat und die er noch weiß. Und beim Mittagessen kamen zu ihm dann die Schizophrenen, auserwählt von Jesus, von Maria. Lange weiße Gänge, durch die die Erwählten schlurften, eine Reihe von Heiligen, braune Pantoffeln. Spitze Schuhe durfte man nicht tragen.

      Gab eine hübsche Doktorandin in Emmendingen, immerhin. Blond, Grübchen in den Wangen. Einmal hat er sie in den Arsch. Hat sie aufgequiekt. Hat ihm fast eine gescheuert. Aber hat sie dann doch nicht gemacht, sah nur die kleine Hand zucken und der Mund, ein O. Ihm hat noch keine was. Dafür kann er zu gut zwinkern. Ups, ein Versehen. Hübsche Augen hast du.

      Setz dich, Ario, hatte die Ehrenamtliche gesagt, ihn an der Schulter auf den Stuhl gedrückt. Setz dich, ich hol dir ein Glas Wasser.

      Hatte die Aspirin für ihn drin aufgelöst, ihm Tee gebracht. Da war er natürlich schon weg. Hat nur von der Tür aus gesehen, wie sie dastand, den Pony vorm Gesicht, gebeugt über eine Schüssel, in die sie die Zitrone ausdrückte. Ein paar Kerne flutschten rein, und sie schaute, ob jemand hinguckte, dann pulte sie die Kerne aus der Schüssel heraus mit ihrer bloßen Hand. Dummes Ding. Aber niedlich.

      Vor ihm unterhalten sich drei Engländer. Ario glaubt zumindest, dass es Engländer sind. Klingen so und sehen außerdem nicht dumm genug aus für Amerikaner. Andererseits, diese Frisuren. Fuchteln mit ihren Smartphones rum. Plötzlich hat er keine Lust mehr. Geht er sich eben bei Wolfgang durchschnorren. Den hat er auch schon eine Weile nicht gesehen. War ja ewig ausgeschaltet von der Krankheit. Oder was das war. Verschimmelte Paprika, pah, das hat ihn noch nie.

      Ario will sich umdrehen, da sieht er ihn plötzlich, den Engel. Oder zumindest glaubt er das. Er hatte ja Fieber. Hat gedacht, er träumt. Kann sich an das Gesicht jetzt erst erinnern, wo er es sieht. Sonst: schwarze Fläche. Kennt nur noch die Stimme. Aber sie sagt ja gerade nichts, ihr Schritt ist schnell. Wird von allen angeglotzt.

      Ario beschleunigt seinen Schritt. Ignoriert sogar das Smartphone, das dem einen Engländer keck aus der Arschtasche linst.

      Wo will sie denn so schnell hin? Würde ein Engel nicht fliegen? Genau, flieg, Engel, flieg über das Kottbusser Tor, diesen Riesenklotz, dieses herrlich schwarze Loch von Berlin.

      Dass Engel immer da sind, wo man sie nicht erwartet. Gab’s doch in Freiburg auch manchmal. Ein Lichtschimmer hier, und die dummen Studenten da, die ihr Mensafutter immer nicht schafften. Dabei ist das doch, diese kleinen Studentenmägen, von ihren Mamis zu Walnussgröße zusammengeschrumpft. Da passt nur Müsli rein. Hat Alnaturagröße.

      Da hat er sich immer hingesetzt an die gedeckten Tische, wo noch die halbvollen Teller standen, und ordentlich zugelangt.

      Der Engel geht tatsächlich zum Museum. Was er da will? Das Haar glänzt so schön. Links und rechts vom Eingang Müll. Im Museum war er auch schon. Klar war er da, gleich als Erstes, als er angekommen ist. Heimat ist immer da, wo man informiert ist. Über die Gegend. Und wo man weiß, wo man Wasser, Essen herkriegt, wo man ficken und schlafen kann.

      Ario wartet vor der Tür. Will sie ja nicht verschrecken. Aber sie kommt nicht wieder hinunter. Kommt nicht rausgeflattert. Da oben ist irgendwas. Andauernd läuft wer an ihm vorbei, durch die Fenster des Glasturms sieht man sie die Treppe hinaufschnaufen. Das könnte sich lohnen. Drei fette Männer verschwinden in der Tür. Wo Menschen sind, da ist Geld, da ist Dummheit. Matheunterricht, weiß er auch noch: Menschen wachsen linear, Geld und Dummheit exponentiell.

      Ario spuckt auf eine Taube und hält mit einem Zwinkern einer alten Trulla die Tür auf.

      * * *

      Mutlu macht sich auf den Weg.

      Flur: oben kaputte Rundglaslampe, staubig, von unten sieht man mit verzweifelten Flügelschlägen Fliegen oder Motten oder Mücken gegen das Gehäuse klatschen. Surrende Geräusche, kaum wahrnehmbar, dazu sein eigener fester Schritt. Mutlu bleibt stehen. Seine Schritte verstummen. Das Sirren bleibt. Er hat vergessen, die Wohnungstür abzuschließen.

      Tür: noch immer der Fußabtreter, das Willkommen, voller Flecken schon. Vages Licht darauf. Am Gangende die Fenster: schmierig, ölig, Blick auf das Kottbusser Tor. Kottbusser Tor, Kotti.

      Gut sichtbar auf dem Platz die Jungsgruppe, Burak irgendwo darunter. Die Dämmerung hat noch nicht einmal begonnen, und trotzdem blinken schon die Werbetafeln, die Anzeigen. Sonne, Sterne, Mond überm Kotti. Das Licht auf den Köpfen der Jungs.

      Mutlu steht da und hat einen Moment vergessen, wohin.

      Warum will ein Mensch sich selber quälen?

      Mutlu hat damals gleich das Bad herausgerissen, die Kacheln, jetzt hängt dort Elektromüll aus den Wänden. Den Rest hat Mutlu so gelassen. Die ganze Wohnung ist ein Museum. Nur Barış und Burak, die altern, die werden immer älter, die verweigern sich dem Museum. Sind keine Exponate. Lassen sich nicht abstauben.

      Neulich ist Mutlu nachts aufgewacht, weil sein Penis unter der Bettdecke hart geworden war, nach oben stakte. Er hatte dagelegen und sich nicht bewegt. Am nächsten Morgen ist er wieder zur Arbeit gegangen. Cemal hatte die Warenbestellung in den Sand gesetzt, und es gab schon wieder zu viele Aprikosen.

      Die Versammlung fängt in zehn Minuten an, und Mutlu dreht den Schlüssel im Schloss. Er hat sich einen Zettel geschrieben, damit er nicht vergisst, was er sagen will. Den Stift hattest du immer im Schlafzimmer aufbewahrt. Weil Mutlu vergesslich ist. Lesen macht ihm Freude, aber zum Schreiben fehlt ihm meistens die Lust.

       Bei meiner Grundsteinlegung war alles schon vorbei. Dabei war das Wetter so schön. Wo ich hinsollte, war ein Loch.

       Schon wieder kamen Journalisten, aber diesmal hatten sie keine freudige Aufregung zu verbreiten, keine Utopie, sie sperrten ihre kleinen rosa Münder auf stattdessen, und die Sätze hatten sie schon vorgeschrieben, zu Hause in der Redaktion.

       Man würde die Einwohner verdrängen! Luxus hieß es erst, dann Sozialwohnung. Ein Investor war dick, einer dünn. Man konnte Geld anlegen in mich. Die schöne Altbausubstanz, heulten die ersten. Dabei hatte Willy Brandt zehn Jahre zuvor noch unter Jubel verkündet, man dürfe kein Geld mehr investieren in überalterte Gebäude. Neu, macht neu, Genossen!

       Das alles – das hatte nichts mit mir zu tun!

       Man stopft Geld in etwas, immer mehr, und dann ärgert man sich, wenn unten Kacke herauskommt. Ich war ein Baby. Man hätte es wissen müssen: Mein Stillstuhl war aus Beton.

      Die Stühle stehen richtig, Marianne ist zufrieden. Sind die


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