Mond über Beton. Julia Rothenburg

Mond über Beton - Julia Rothenburg


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im Stadtteilmuseum. Das ist natürlich nicht immer so. Aber wenn es mit dem Kotti so schwierig ist, muss man zusammenhalten, irgendwas muss man schließlich tun dagegen, gegen die eigene Angst auch. Die wird ja gefüttert von Einsamkeit und Nichtstun. Hat sie neulich zu Günther gesagt: dass wir da jetzt eben alle zusammenhalten müssen.

      Ob Günther zugehört hat? Das fragt sie sich in letzter Zeit häufiger. Manchmal schaut er einfach so vor sich hin. So wie jetzt. Er kommt ja immer, zu jeder Veranstaltung, zu jedem Bürgergespräch. Aber dann sitzt er da und hat so glasige Augen. Früher hätte er das nicht auf sich sitzen lassen, dass die ganzen Türken das Wort an sich reißen, die Versammlung dominieren. Wollen immer allen ihre Geschichte erzählen, wie schlecht es ihnen geht. Dem Handel. Die Verdrängung.

      Da regt sich Günther ja schon drüber auf, abends dann aber erst. Was sollen wir denn da sagen? Werden wir etwa nicht verdrängt? Gab’s hier nicht früher auch ein paar Läden, weißt du noch, die Metzgerei, andere, bevor die Gemüseläden kamen? Riecht unser Fahrstuhl nicht auch nach Pisse? Und was sollen wir überhaupt mit dieser ganzen komischen Spitzpaprika? Wo ist die gute alte Paprika, die runde, hin? Wohl zu fein für die alte, immer neu, immer schick, und dann aber im Fahrstuhl in die Ecke spucken. Und dieser Uringeruch überall. Und vor allem im Fahrstuhl. Was man selber halt nicht braucht, bei sich hui, bei anderen pfui.

      Ach Günther, sagt sie dann. Jetzt reg dich nicht so auf. Wir haben doch hier ganz andere Probleme. Und überhaupt: benutzen doch alle denselben Fahrstuhl.

      Aber recht hat er ja, zumindest teilweise, auch wenn sie das jetzt nicht so negativ sehen würde. In Kreuzberg, da hat sich eben einiges verändert. Manchmal weiß sie schon gar nicht mehr, wie es früher war, so anders ist es jetzt. Aber da hilft ihr die Arbeit im Stadtteilmuseum, da sieht sie Bilder, ein ganzes Archiv voller Bilder, als schon blass gewordene Erinnerungsstützen für ein fast vergessenes Damals. Neulich erst hat sie darüber nachgedacht und eine Liste erstellt. Nicht in echt, also drüber nachgedacht hat sie schon. Einfach mal mehr aufschreiben. Die Liste gibt es bisher nur in ihrem Kopf, vorerst sozusagen. Aber ordentlich angewachsen ist sie bereits, ewig könnte sie Sachen aufzählen. Zum Beispiel.

      Was es früher mehr gab als heute: Wurststände waren anders, weniger Engländer, aber auch generell weniger Menschen, vor allem weniger Kinder und ganz vor allem weniger Jungen, Fässer zum Drauflehnen vorm Imbiss, nicht so schicki Alutische, Holzrollläden vor den Läden, nicht elektrisch. Straßen schmutziger und leerer, alles hatte mehr Platz: der Ort und die Menschen, und dann kam der Beton. Und die Türken hatten damals auch noch vollgestopfte VW-Busse, vollgestopft bis oben hin, und auf dem Dach die Koffer festgeschnallt für den Urlaub, das sah immer lustig aus und irgendwie heimelig, nicht wie jetzt glänzender Mercedes, hup hup, und dann ab mit Easyjet in den Urlaub.

      Das Mikrofon knackt, die Bezirksbürgermeisterin hustet hinein, Günther schweigt.

      Ach, da ist ja Mutlu, der Gute. Sitzt wie immer hinten, starrt auf einen Zettel. Sie darf nicht vergessen, wieder etwas zu essen vorbeizubringen. Einen Kuchen vielleicht. Himbeerschmand, den mochte er gern. Nicht dass er das gesagt hätte. Aber er und die Jungs, alles verputzt haben die, bis auf den letzten Krümel.

      Die Meyer-Bonscheidt macht die Anmoderation, in der Hand Mariannes Artikel. Schon jetzt, du lieber Himmel, dermaßen ausgefranst. So ein Laminiergerät, das wäre wirklich eine sinnvolle Anschaffung. Gerade wo nun ständig solche schrecklichen Artikel, eine regelrechte Welle ist das ja. Das wird in ein paar Jahren wieder keiner glauben, was da los war. Hoffentlich zumindest, also wenn es dann wieder besser ist, denkt Marianne. Ob es das wird, kann man natürlich nie genau wissen, nur vertrauen, darauf vertrauen, dass es immer wieder besser geworden ist, in all den Jahren.

      Jetzt liest Meyer-Bonscheidt die schlimmsten Zeilen vor, hat Marianne extra angemarkert. Das war kein Spaß, das alles noch mal zu lesen. Da wird selbst Günther unruhig, das lässt keinen kalt. Vorne lacht jemand. Sie beugt sich vor, um zu sehen, wer da so blöd. Aber ist natürlich doch nur irgendein Punk. Dass die zum Bürgergespräch immer aus ihren Löchern gekrochen kommen. Für solche aus der Zeit Gefallenen, nein, extra in die Zeit Hineinstochernden, hat sie ja kein Verständnis. Damals, klar, wer da kein Punk war. Da hatte sie ja durchaus auch, ach, und Punkrock, was haben sie und Günther getanzt.

      Jetzt hustet der Punk extra laut, damit man nicht hört, wie Meyer-Bonscheidt die Diskussionsfragen verliest.

      Aus den Augenwinkeln sieht sie Aylin, die an der Wand lehnt. Dabei sind doch noch Stühle frei. Das macht so eine unangenehme Atmosphäre, wenn so viele Leute an der Wand herumlungern. Aylin ist nicht die Einzige, die sich nicht hinsetzt. Sind immer junge Leute, die lungern.

      Aylin trägt heute kein Kopftuch. Versteht sie auch nicht, nach welchem Muster Aylin das an- und auszieht. Mit zwölf ungefähr, da hat sie das das erste Mal bei ihr gesehen. War bestimmt der Einfluss der Mutter. Sind ja immer die Mütter, die religiösen. Das war bei ihr damals nicht anders, da will sie ja auch gar nichts gegen sagen.

      Setz dich zu mir, winkt Marianne. Aylin schüttelt den Kopf, verschränkt die Arme. Dem Mädchen ist auch nicht zu helfen. Marianne möchte seufzen, lässt es sein. Die Diskussion beginnt.

      * * *

      So viele Menschen, die hier zusammenhocken, so viele Geldtaschen. Unruhe, die sitzt mit den Körpern auf den Stühlen fest, lässt die Beine wippen. Versteht er ja. Wenn einer Unruhe versteht: dann Ario.

      Vorne sprechen Leute ins Mikro, es knackt und rauscht und knackt. Klingt wie Knochenbrechen, so ein Mikro. Manche Knochen brechen leichter, seine sind aus Stahl. Harten Untergrund ist er gewohnt. Die Beleuchtung ist komisch. Alles ist gelb. Durchdringend gelb, die Gesichter sehen gleich aus, die Mäntel gleich, im Frühling noch Mäntel, da stecken die besonders Dummen ihre Geldbeutel vorne in die Taschen.

      Seinen Engel sieht er nicht, sosehr er sich auch anstrengt. Also erst mal setzen. Ist ja auch nicht ganz uninteressant, was hier passiert.

      Worum geht’s denn eigentlich, fragt er die blonde Dicke neben ihm, pscht, sagt die blonde Dicke, und vorne redet tatsächlich eine andere blonde Dicke in das Mikro. Knack knack, ihre Stimme ist viel zu laut, in den vorderen Reihen gibt es schon wieder Unruhe, geht durch die Menge wie Wind durch ein Feld. Dass ihm noch immer so ländliche Vergleiche einfallen. Da merkt man den Landknaben, irgendwo tief innen drin. Das ist sein Liebstes, wenn in Berlin was aussieht wie Wind, der durch Felder kämmt. Gibt ja auch überall Wind. Wie schnell er als kleiner Junge war. So schnell kann er jetzt nicht mehr rennen, durchs Feld, dem Wind hinterher. Am Weiher entlang, in den Weiher, hinein in die Mückenlarven. Neulich wär’s besser gewesen. Dann hätte er gar nicht erst aufs Revier. Aber ach was, einmal kurz geblinkert mit den Augen, dann geht es ja auch so.

      Vorne brüllt einer rum: Was macht denn die Polizei hier?, was macht denn die Polizei hier?, das hier ist ein Bürgerdialog!

      Eine blonde Dünne auf dem Podium guckt ganz böse. Ach, eine Politesse. Heute mal in Zivil unterwegs. Oh, und da ist er ja, sein Engel. Lacht jetzt gerade, süßes Lachen, irgendwie feist im sonst so zarten Gesicht, gar nicht nett, wie sie jetzt so vor sich hin grinst, während doch die blonde Politesse da vorne fast zu weinen anfängt.

      Darf ich mal?

      Da steht plötzlich eine Frau neben ihm, ach, die kennt er doch, hat er schon mal gesehen mit ihrer Einkaufstasche, wohnt im NKZ, reicht ein Mikro über seinen Kopf. Geruch von Flieder. Die Dicke neben ihm fängt an, ins Mikrofon zu reden, jetzt starren alle in ihre Richtung. Ario nickt und lächelt, sieh an, jetzt hat sogar der Engel geguckt. Aber gleich wieder weggeguckt. Kennt er ja von Frauen, dass die immer erst mal nicht hinschauen wollen. Nicht interessiert, als ob. Er hat noch jede zum Zwitschern gebracht.

      Die Frau neben ihm redet und redet, und in ihrer Jacke steckt ja tatsächlich ein Portemonnaie. Blitzt hübsch heraus. Aber so, wo alle zu ihnen schauen, eine Menge aus glotzenden Kühen, das ist ihm nichts. Man darf sein Glück auch nicht überstrapazieren. Junge, hat die Oma immer gesagt, man muss wissen: Wo Schluss ist, ist Schluss. Ario ist der Beste im Schlussmachen. Schluss und aus. Ach, noch so eine Erinnerung: Schultheaterstück. Er war ein Halunke, so wurde das genannt. Seine Mutter saß im Publikum. Der Scheinwerfer war ihr Gesicht, Applaus, Applaus, zu Hause gab es Haferbrei. Er dürfte das ja gar nicht, Schultheater,


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