Chefarzt Dr. Norden Staffel 5 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Er lief um das Fahrzeug herum und riss die Türen auf.
»Moritz Loibl, 32 Jahre alt. Sturz nach Bewusstlosigkeit. Verdacht auf Unterschenkelfraktur. Seit er wieder zu sich gekommen ist, kämpft er zudem mit Atemnot.« Während er seinen Kollegen Dr. Matthias Weigand mit den nötigen Informationen versorgte, schoss ein schwarzer Wagen haarscharf um die Ecke der Notaufnahme. Einen Moment lang waren die beiden Ärzte abgelenkt. Sie starrten den Fahrer an, der aus dem Auto sprang.
»Wie geht es Moritz? Ist er wieder bei Bewusstsein? Was ist mit seinem Bein?«
»Parken Sie den Wagen erst einmal anständig auf dem Besucherparkplatz und stellen Sie den Motor ab. Dann reden wir weiter.« Matthias wandte sich ab und verschwand mit dem Kollegen Huber und der Transportliege in der Ambulanz.
»Ich krieg keine Luft«, japste Moritz auf dem Weg in die Schockbox. Die Sauerstoffmaske war verrutscht.
Dr. Huber rückte sie wieder an ihren Platz.
»Atmen Sie ruhig und gleichmäßig.« Dr. Weigand signierte das Protokoll, das der Kollege ihm hinhielt. Dann gehörte seine ganze Aufmerksamkeit dem Patienten. »So ist es gut.«
Ledersohlen klapperten auf dem Boden.
»Moritz ist in der Fußgängerzone zusammengebrochen und von der Balustrade gestürzt«, keuchte die Stimme von vorhin. So schnell hatte Matthias den Besucher nicht zurückerwartet.
»Wer sind Sie?«
»Wie? Was?« Vincent stemmte die Hände in die Hüften. Seine Brust hob und senkte sich stoßweise. Es dauerte einen Moment, bis er weitersprechen konnte. »Ach so. Ja. Natürlich. Vincent Trautmann. Moritz ist mein bester Freund. Mein Trauzeuge.« Er starrte auf Moritz, der noch immer verzweifelt nach Luft rang. »Was ist mit ihm?«
Ein schneller Blick auf das Protokoll.
»Vermutlich ein Herzinfarkt.« Dr. Weigand trat an die Seite seines Patienten und machte sich an die Arbeit.
Vince riss die Augen auf.
»Wie? Ein Herzinfarkt? Aber er ist doch noch so jung.«
»Trotzdem ist es möglich, schon im zarten Alter von 20 Jahren einen Herzinfarkt zu erleiden.« Eine Elektrode nach der anderen fand ihren Platz auf Moritz’ Brust. »Ein Grund dafür kann die frühzeitige Entstehung einer Arteriosklerose sein.«
»Aha.«
»Bevor wir uns aber irgendwelchen Spekulationen hingeben, schreiben wir ein EKG. Danach wissen wir mehr.« Matthias schaltete das Gerät ein.
Matthias erinnerte sich gut daran, als er zum ersten Mal bei einem EKG zugesehen hatte. Besonders fasziniert hatte ihn die Nadel, die leise ratternd über den Streifen Papier gesaust und die Ausschläge aufgezeichnet hatte. Damals war er noch ein Kind gewesen. Heute ratterte nichts mehr. Und auch die Nadel gehörte längst der Vergangenheit an.
Lautlos schob sich der Streifen Papier aus dem Drucker. Das einzige Geräusch war Vincents Schuhspitze, die unablässig auf den Boden tappte.
»Und? Sehen Sie schon was?«, fragte er nach einer Weile.
Dr. Weigand sah hinüber zu seinem Patienten. Die Sauerstoffgabe zeigte Wirkung. Moritz hatte sich inzwischen beruhigt. Er verstand die stumme Frage des Arztes und blinzelte eine stumme Zustimmung. Matthias betrachtete die Aufzeichnungen. Er wiegte den Kopf.
»Das EKG zeigt nur eine dezente ST-Hebung.«
»Wie bitte?«
Der Notarzt unterdrückte ein Seufzen. Natürlich verstand er, dass die Angehörigen informiert sein wollten. Aber dass er jede noch so kleine Bemerkung übersetzen musste, war manchmal anstrengend.
»Die ST-Hebung ist ein bestimmtes Muster im EKG. Sie spiegelt die Veränderung der Stromfrequenz wieder, die ein Infarkt im Herzen auslöst.«
»Also doch kein Herzinfarkt?«
Wenigstens dachte der Bräutigam mit.
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen«, erwiderte Matthias. »Wir haben nämlich einen dritten Herzton, der durchaus ein Anzeichen für einen Infarkt sein kann. Um Gewissheit zu bekommen, machen wir einen Herzultraschall und eine Blutuntersuchung.« Er wandte sich an seinen Patienten. »Danach wissen wir, was mit Ihnen los ist.« Er nickte den beiden Männern zu, ehe er hinüber zur Schwester ging, um seine Anweisungen weiterzugeben.
*
»Mein Privatleben ist Verschlusssache. Das geht niemanden etwas an. Schon gar nicht die Kollegen in der Klinik.« Krachend fiel die Tür des Aufenthaltsraums hinter Milan Aydin ins Schloss. Wenigstens in dieser Hinsicht war ihm das Schicksal gnädig gestimmt. Das Zimmer war leer und würde es hoffentlich noch so lange bleiben, bis er seinem Bruder die Leviten gelesen hatte.
Deniz durchquerte in aller Seelenruhe den Raum. Öffnete das Fenster und sah hinunter auf den Platz vor der Klinik. Dort unten herrschte ein reges Kommen und Gehen. Der Anblick erinnerte ihn an den Hauptbahnhof. Menschen mit Rollkoffern und Reisetaschen strebten auf die Glastüren zu. Ein Paketbote zog einen vollbeladenen Wagen hinter sich her. Doch auch ganz normale Passanten überquerten den Platz. Deniz überlegte nicht lange. Er öffnete den Fensterflügel weiter und beugte sich hinaus.
»Hey, Leute! Dr. Aydin war nicht immer so spießig wie jetzt!« Seine Stimme hallte durch die Luft.
Die Menschen unten blieben stehen. Sahen sich suchend um.
Milan fiel fast in Ohnmacht.
»Bist du total übergesch …« Mitten im Satz hielt er inne. »Ach, was will ich überhaupt?« Er winkte ab. »Ein Mann, der mit dreißig Jahren noch T-Shirts bedruckt, ist nicht zurechnungsfähig.«
»Aber der Herr Neurochirurg hat natürlich die Weisheit mit Löffeln gefressen.« Deniz drehte sich um und musterte seinen Bruder. »Ist dir schon zu Ohren gekommen, dass Vielwisserei noch lange nicht Verstand bedeutet?«
»Verschone mich mit deinen Kalendersprüchen!«
»Und meine T-Shirts werden der Renner. Du wirst schon sehen.«
Milan saß im Rollstuhl vor seinem Bruder und musterte ihn von oben bis unten. Langsam schüttelte er den Kopf.
»Deniz, wann wirst du endlich erwachsen? Wann suchst du dir endlich einen richtigen Job? Nimm dir ein Beispiel an mir. Obwohl ich ein Krüppel bin, habe ich es geschafft.«
Deniz lächelte.
»Entspann dich, Mil! Ich bin nicht gekommen, um mir anzuhören, wie genial du bist. Eigentlich wollte ich nur ein bisschen Spaß mit dir haben, in Erinnerungen schwelgen, die Stadt unsicher machen. Solche Sachen.«
Milans rechter Mundwinkel wanderte ein Stück hoch.
»Und warum bist du wirklich hier?«
Schweigen. Deniz presste die Lippen aufeinander. Sah sich um und ließ sich schließlich auf einen der Stühle am Tisch fallen.
»Samantha hat mich verlassen.« Er nahm einen Keks vom Teller. Bevor Milan ihn warnen konnte, kaute er schon darauf herum. Verzog das Gesicht. »Wo habt ihr denn die Dinger her? Da schmeckt ja Sams Kuchen besser. Und die kann überhaupt nicht backen.«
»Restbestände vom alten Verwaltungschef«, erwiderte Milan knapp. »Samantha … Samantha … ist das nicht die Wünschelrutengängerin?«
Deniz’ schwarze Locken flogen hin und her.
»Das war Christa. Samantha verkauft Handarbeiten auf Märkten. Blumenampeln aus Makramee, gehäkelte Einkaufsnetze, solche Sachen.«
Milan Aydin schnalzte mit der Zunge.
»Du und deine Frauen.«
»Tu doch nicht so! Gut, du schleppst wahrscheinlich Ärztinnen und Unternehmerinnen ab. Trotzdem läuft es bei dir auch nicht besser.« Deniz fuhr sich durch die Mähne. Er konnte schon wieder lächeln. »Deshalb dachte ich, ich bleibe ein paar Tage bei dir. Dann können wir uns gegenseitig trösten.«
Milans