Die Todesotter. Hans Heidsieck
er. „Nur wenn sie tot ist, wird man uns glauben, daß sie unschädlich gemacht worden ist.”
Mit diesen Worten hieb er in blinder Wut auf das Tier ein.
Die nicht sehr große Schlange war bald erledigt. Der Hausmeister faßte den noch lange zuckenden Körper am Schwanz und hob ihn empor. Triumphierend zog er, von dem Prokuristen begleitet, davon.
Im Hauptbüro wurde die Schlange herumgezeigt. „Die Gefahr ist vorüber. Niemand braucht jetzt mehr Angst zu haben.”
Die meisten lächelten. Angst? Pah — Angst hatte doch überhaupt niemand gehabt!
Ihren Mienen sah man jedoch die Erleichterung an.
Eine Viertelstunde später kam Doktor Ricardi. Er sah elend und blaß aus. Seine sonst immer frischen und lebhaften Züge waren erschlafft. Ein schwacher Bartansatz umrahmte seinen Kinn. In der Eile hatte er keine Zeit gefunden, sich zu rasieren. Es war ihm darum zu tun, sofort mit dem Professor zu sprechen.
Da Costa empfing ihn mit einem Lächeln. „Da kommt ja der plötzlich unsolide Gewordene!” rief er. „Nehmen Sie Platz, Herr Doktor. Wie fühlen Sie sich?”
Ricardi ärgerte sich über die Art, wie er empfangen wurde. Auch wunderte er sich darüber, daß der Professor nicht gleich auf die Schlange zu sprechen kam. Er erkundigte sich deshalb danach, ohne auf die Frage da Costas zu antworten.
„Oh — die Otter?” sagte da Costa ruhig, „die ist inzwischen gefunden worden. Sie hatte wohl nur einen kleinen Ausflug durch Ihr Zimmer gemacht. Wahrscheinlich wollte sie einmal eine Abwechslung haben.”
Die ganze Art, wie der Professor sprach, paßte dem Doktor nicht. Aber er schwieg dazu. Endlich fragte er: „Hat man sie wieder in den Kasten gesperrt?”
„Nein, — leider muß ich Ihnen berichten, daß der Hausmeister sie erschlagen hat. Das wäre allerdings nicht nötig gewesen — aber man muß es schon seiner Erregung zugute halten. Auch dem übrigen Personal gegenüber war es wohl besser, wenn man sich überzeugen konnte, daß das Tier tot ist.”
Doktor Ricardi fuhr erschrocken zusammen. „Was — tot?” rief er. „Man brauchte die Schlange doch nicht gleich zu erschlagen. Das werde ich dem Hausmeister nicht verzeihen. Ich machte gerade eingehende Experimente mit dem Gift dieses Tieres. — Wo hat man es hingebracht?”
Da Costa zuckte mit den Achseln. „Was weiß ich! Jedenfalls bin ich froh, daß der Aufruhr im Hause beigelegt und kein Grund mehr zu Befürchtungen da ist. Ich verstehe nur nicht, wie das Tier hat entweichen können.”
Der Doktor rückte nervös auf seinem Stuhl hin und her. „Ich auch nicht. Meines Wissens ist der Kasten, als ich fortging, fest verschlossen gewesen.”
„Hm. Ihres Wissens. Sie sind also nicht ganz fest davon überzeugt?”
„Doch. Ich möchte einen Eid darauf leisten.”
Der Professor blickte seinen Assistenten von der Seite an. „Mit Eiden muß man vorsichtig sein, lieber Doktor!”
„Möglicherweise hat jemand anders den Kasten aufgemacht.”
„Wer sollte das denn gewesen sein?”
Doktor Ricardi schwieg. Er erhob sich und trat ans Fenster.
Man hatte von hier aus einen weiten Blick über den Hafen. Eben lief ein großer Frachter aus Übersee ein und bewegte sich majestätisch langsam zwischen den unzähligen anderen Fahrzeugen hindurch auf die Mole zu, an der er festmachen wollte.
An einer anderen Stelle strömten zahlreiche Menschen zusammen, um einen Passagierdampfer zu besteigen, der nach Ostindien ausfahren wollte. Die verwehten Klänge einer Kapelle schallten herüber. Der schrille Pfiff einer Pinasse klang jäh dazwischen.
Dieses Bild prägte sich der Doktor mit einer unnatürlichen Schärfe ein. Es war ihm zu Mute, als sei er auf einmal aus einem Traum in die Wirklichkeit zurückversetzt worden.
Der Professor sprach weiter: „Jedenfalls wollen wir froh sein, daß die Sache behoben ist, — und da nichts passierte, brauchen wir ihr auch nicht weiter nachzugehen. Aber ich möchte Sie doch bitten, auf Ihre gefährlichen Pfleglinge in Zukunft ein noch wachsameres Auge zu haben, Herr Doktor!”
Ricardi empfand diese Mahnung als unberechtigt. Aber er wollte sich jetzt nicht streiten. Er hob nur bedauernd die Schultern und ging hinaus.
Leona hatte beim Friseur und in verschiedenen Geschäften nach ihrer Freundin Umschau gehalten. Aber Viola war nirgends zu finden.
Endlich kehrte das junge Mädchen zu dem Häuschen zurück, um dort noch einmal sein Glück zu versuchen.
Es wurde ihm wieder nicht aufgemacht.
Daraufhin wandte sie sich an die Bewohner der Villa, zu der das Häuschen gehörte. Ob man Viola heute noch nicht gesehen habe?
Nein. Weder die Herrschaften noch das Personal hatten das junge Mädchen erblickt. Was jedoch nichts zu bedeuten habe, da man Viola des öfteren tagelang nicht zu Gesicht bekam. Sie pflegte selten den Haupteingang zu benutzen. Meistens betrat sie das Grundstück vom Garten her.
Leonas Unrute wuchs. Irgend etwas, das fühlte sie deutlich, stimmte hier nicht.
Sie kehrte zu dem Häuschen zurück. Von der Veranda aus konnte man in Violas Schlafzimmer blicken. Leona ging die kurze Treppe hinauf und hielt Umschau. Das Fenster war nicht völlig geschlossen. Die junge Späherin drückte es vollends auf.
Da sah sie in höchstem Erstaunen, daß Viola in dem Zimmer auf ihrem Bett lag.
Ohne Bedenken stieg Leona über Sims und Blüstung und drang in das Zimmer ein.
Der Hausmeister hatte die tote Schlange herumgezeigt und war im Begriff, sie in den Hof zu bringen, um den Kadaver dort in einem Abfalleimer verschwinden zu lassen.
Unterwegs hielt ihn der Tierpfleger Pucci an. „Zeige mal her das Biest! Ich habe eben ein wenig abseits gestanden und konnte es nicht recht sehen.”
„Was ist daran schon zu sehen!” versetzte der Hausmeister mürrisch und schickte sich an, seinen Weg fortzusetzen. „Eine Schlange wie jede andere.”
Pucci tippte sich an den Kopf. „Hast du eine Ahnung! Wie jede andere! Weißt du, wie viele verschiedene Arten es gibt?”
„Wenn du fachsimpeln willst, mußt du zu Doktor Ricardi gehen.”
„Zeig mal die Schlange her!”
Der Hausmeister hielt das Tier dem Pfleger so dicht vor den Kopf, daß es fast die Nase des Mannes berührte.
„Da hast du sie! Kannst sie dir sauer einlegen lassen oder auch um den Hals hängen, wenn du willst! — Warum starrst du das Vieh denn so an?”
Tatsächlich hatte Pucci die Augen weit aufgerissen. Dann schüttelte er den Kopf. Aber das einzige, was er hervorbrachte, war: „Sehr merkwürdig!”
„Was ist merkwürdig?” fragte der Hausmeister, „wieso kommt dir diese Schlange merkwürdig vor?”
„Ach — ich vergleiche sie in Gedanken mit einer anderen. Legst du großen Wert darauf, sie auf den Müll zu werfen?”
„Was heißt das?”
„Ich möchte sie haben.”
„Brate sie meinetwegen und friß sie auf!” rief der Hausmeister, warf dem anderen das tote Tier vor die Füße und ging davon.
Pucci nahm einen Zeitungsbogen aus seiner Tasche, raffte die Schlange auf und wickelte sie vorsichtig, als ob sie etwas besonders Kostbares sei, in den Bogen ein.
Eine Minute später ließ er sich bei Doktor Ricardi melden.
Ricardi hatte sich nach der Aussprache mit dem Professor rasieren lassen, um dann gleich in sein Zimmer zurückzukehren. Er hatte verschiedene wichtige Arbeiten vor, in die er sich mit Eifer versenkte. Auf diese Weise kam er am besten über alles hinweg.
Es