Die Todesotter. Hans Heidsieck
geöffnet hatte, bemerkte er, daß der Obersteward neben ihm stand. Was wollte dieser Mann hier?
„Herr Doktor”, sagte der Steward, „eben wurde ein Funkspruch empfangen, der Sie betrifft. Der Herr Kapitän läßt Sie bitten — —”
Komisch drückte der Kerl sich aus. Ein Funkspruch, der ihn, Doktor Colonna, betraf? Der Kapitän ließ ihn bitten—? Warum brachte man ihm nicht das Telegramm?
„Ist etwas Besonderes vorgefallen?” fragte Colonna.
Der Steward hob zuckend die Schultern hoch.—
„Welchen Kurs haben wir?” fragte der Arzt.
„Soviel ich weiß, steuern wir gerade Spezia an.”
Colonna sprang auf, nickte dem Steward zu und folgte ihm durch verschiedene Gänge zur Wohnung des Kapitäns.
Der schaute dem jungen Arzt ernst entgegen. Colonna erschrak. Lag nicht so etwas wie Mitleid in diesem Blick?
„Eben”, sagte der Capitano, „ist ein Funkspruch gekommen, Colonna. Für Sie bestimmt. Eine sehr traurige Nachricht; ich wollte sie Ihnen persönlich — hm — —”
Colonna flimmerte es vor den Augen. Sollte vielleicht seiner alten Mutter etwas passiert sein? Sie war schon so lange kränklich — — der Vater war immer noch rüstig und frisch.
„Ihre Braut, lieber Doktor — hm — —” Der Kapitän zögerte weiterzusprechen. Es wurde ihm sichtlich schwer. Endlich gab er sich einen Stoß. „Ach was — — wozu soll ich Sie lange quälen — — lieber sage ich es schon gleich gerade heraus. Ihre Braut ist einem schweren akuten Grippeanfall erlegen. Ich spreche Ihnen mein herzliches Beileid aus.”
Colonna faßte mechanisch nach der ihm dargebotenen Hand. Er schluckte. Brachte kein Wort hervor. Zu plötzlich war diese Nachricht gekommen, zu unvermittelt war er aus allen Himmeln gestürzt. Mitten aus seinen schönsten Träumen heraus.
Endlich sagte er tonlos: „Wir steuern auf Spezia zu?”
„Jawohl. In wenigen Stunden werden wir dort sein. Sie können von dort aus gleich mit der Bahn nach Genua weiterfahren.”
In wenigen Stunden!
Für Doktor Colonna wurden die Stunden zu Ewigkeiten ...
Doktor Ricardi stand vor der Toten. Leona, hatte ihn auf seine Bitten hin in das Zimmer geführt. Zögernd, im Tiefsten erschüttert, legte er einige Blumen nieder. Verzweifelt starrte er in das liebe, vertraute Gesicht, das vom Todeskampf etwas verzerrt erschien.
Leona stand schweigend neben dem Trauernden. Seltsame Gefühle durchströmten sie. Früher war ihre Liebe zu Doktor Ricardi bisweilen in Haß umgeschlagen, weil er sie garnicht beachtete. Auch gegen die Freundin hatte sie manchmal etwas wie Haß empfunden, — Haß, weil sie durch Viola immer wieder in den Schatten gestellt worden war. Doch sie bekämpfte tapfer solche Gefühle, — sie sagte sich, daß ein solcher Haß ungerecht und lächerlich sei. Gegen Schicksalsfügungen konnte man doch nicht an. Außerdem nahm ihr Viola ja den Geliebten nicht fort. Ihr Herz hatte einem anderen gehört. Dafür, daß Doktor Ricardi sich in sie so hartnäckig verliebt hatte, konnte die Freundin nichts.
Nun stand er neben ihr — — vor der Toten. Sicherlich sah es furchtbar in seinem Innern aus. Eigentlich war ihm Viola schon durch ihre Verlobung verloren gegangen. Er hatte sie einem anderen überlassen müssen. Nun aber würde er sie fortan nicht einmal Wiedersehen.
Auch dem anderen, Glücklicheren, ist sie genommen worden. Ob Francesco darüber wohl eine gewisse Genugtuung empfand?
Leona traute ihm keine Gehässigkeit zu, obwohl sie selbst eine gewisse Erleichterung fühlte, die ihr geradezu sündhaft vorkam. Viola stand nun nicht mehr zwischen ihr und Francesco.
Dadurch zur Milde gestimmt, spürte sie ein starkes Gefühl, ihn zu trösten. Sie wußte selbst nicht, was sie sagte, aber es mußten zu Herzen gehende Worte sein.
Francesco sah sie groß an. Aber es war ihr, als blicke er durch sie hindurch in ein fernes Land seiner Träume, das nun versunken war.
Die beiden Ärzte, Doktor Viano und sein Kollege, Doktor Perini, betraten das Villengrundstück, um sich zu Viola zu begeben. Lebhaft plaudernd schritten sie durch den gepflegten Garten — als Doktor Viano plötzlich einen Schreckensruf aussieß.
„Donnerwetter — mich hat etwas gebissen!”
Beide wandten sich blitzschnell um und erblickten am Boden sich hinwindend eine Schlange, die im nächsten Moment unter einer großen Blattpflanze verschwand.
„Binden Sie ab! Ich verfolge sie!” rief Perini und setzte der Schlange nach, während Viano hastig sein Taschentuch aus dem Rock nahm und mit geübter Hand oberhalb seiner rechten Wade das Tuch fest verknotete. Dann nahm er sein Zigarettenetui aus der Tasche, steckte sich eine Zigarette an, streifte die Socken herunter und brannte die Wunde aus, ohne auch nur eine Miene dabei zu verziehen.
Perini jagte dem flinken Tiere nach.
„Hallo!” rief ihm mürrisch der Gärtner zu, der in der Nähe beschäftigt war, „was fällt Ihnen ein, über die Beete zu laufen!”
„Kommen Sie rasch!” rief Perini. „Hier ist eine Schlange. Bringen Sie ihren Spaten mit!”
Der Gärtner blickte betroffen. „Wie — eine Schlange?” Er stürzte herbei, um dem Doktor zu Hilfe zu kommen. Wie ihm geheißen war, brachte er seinen Spaten mit.
Nach einer kurzen Verfolgung wurde das Tier gestellt. Dabei wandte das Reptil sich plötzlich um, richtete seinen Kopf drohend auf und versuchte abermals zuzubeißen.
In diesem Augenblick traf es der tödliche Schlag.
Doktor Viano kam humpelnd herbeigelaufen. „Das ist eine schöne Bescherung!” murmelte er. „Wissen Sie, ob das eine Giftschlange ist?”
Perini starrte den noch zuckenden Körper an. „Weiß der Teufel!” erwiderte er. „Unheimlich genug sieht sie aus. Haben Sie Ihren Fuß gut abgebunden?”
„Ja. Auch schon ausgebrannt. Für alle Fälle!”
Perini sah sich die Wunde an. „Kommen Sie bitte gleich mit mir. Ich habe ein Serum zu Hause. Spüren Sie etwas?”
„Hm — ich fühle mich stark benommen.”
Perini wandte sich an den Gärtner. „Holen Sie uns bitte doch gleich ein Gefäß oder auch eine Schachtel. Ich nehme die Schlange mit.”
Während der Gärtner davoneilte, führte Perini seinen Kollegen dem Ausgang zu. Sie bestiegen den Wagen, der vor der Tür stand. Gleich darauf brachte der Gärtner die erschlagene Schlange in einer Schachtel an.
Doktor Vianos Benommenheit nahm rasch zu. Zehn Minuten später war er in Perinis Wohnung auf eine Couch gebettet. Hier spritzte ihm der Kollege das Serum ein. Auch alle sonstigen Maßnahmen, die notwendig waren, um die Wirkung des Giftes aufzuheben, wurden sofort getroffen.
Glücklicherweise folgten keine ernsthaften Erscheinungen mehr. Einige Stunden später war Doktor Viano schon wieder wohlauf.
Inzwischen hatte Perini festgestellt, welcher Art jene Schlange war, die seinen Kollegen gebissen hatte. Es handelte sich — wie er nachlas — um eine Todesotter, die in Australien zu Hause war und hier zu den gefürchtetesten Giftschlangen gehörte.
Wie war das gefährliche Kriechtier ausgerechnet nach Pegli und in jenen Garten gelangt?
Perini stellte die verschiedensten Erwägungen an. Plötzlich blitzte ein ungeheuerlicher Gedanke durch seinen Kopf. Wie, wenn das so unerwartet rasch verstorbene junge Mädchen gleichfalls von dieser Schlange gebissen worden war?
Herzlähmung — hatte der Kollege gesagt. Eine Herzlähmung war stets das Ende solcher Vergiftungen, wenn nicht rechtzeitig Hilfe kam.
Perini schlug das Buch zu, das noch auf seinen Knien lag, eilte zum Lager Vianos und sprach seine Mutmaßungen aus.
Viano