Fremder Mann an der richtigen Tür. Arno Alexander
das Wohnzimmer betrat.
Seine mühsam errungene gute Stimmung wurde hier aber alsbald auf eine harte Probe gestellt. Was er sah, war wirklich geeignet, ihn zur Verzweiflung zu bringen: Heinrich Großfeld, ein blonder Mann von vielleicht zweiunddreißig Jahren, lag weit zurückgelehnt in dem altertümlichen Schaukelstuhl und beobachtete einige Wellensittiche, die im Zimmer herumflögen.
„Wer hat denn die Vögel herausgelassen?“ knirschte Liegnitz und starrte auf die offene Tür des Käfigs in der Ecke.
„Ich“, sagte der junge Mann ruhig. „Die Tierchen wollten gern mal fliegen…“
„Und an die Möbel haben Sie nicht gedacht, Herr…?“ fragte Liegnitz zornig und machte einen vergeblichen Versuch, einen der Vögel wieder einzufangen.
„Nein“, antwortete Großfeld, „nur an die Vögel.“
„Und dabei rauchen Sie auch noch wie ein Schlot?“ zürnte Liegnitz und stürzte auf seinen Stuhl zu. jetzt hatte er einen der Vögel erwischt. „Meine Sittiche vertragen keinen Rauch! Und überhaupt — so, meine Dore, jetzt kommst du wieder in dein Häuschen — und überhaupt möchte ich wissen — schlaf gut, mein Liebling — was sie hier mitten in der Nacht eigentlich wollen!“
„Unter guten Freunden ist ein Besuch zur Nachtzeit doch nichts so seltsames?“ meinte Großfeld und blickte dem Rauch seiner Zigarette nach. „Wir sind doch Freunde, nicht wahr?!“
„Na, wissen Sie —“, Liegnitz war aufs Sofa gestiegen und fuchtelte mit seinen kurzen Armen, doch die beiden Sittiche auf der Gardinenstange flatterten wieder davon, „— so dicke ist die Freundschaft nicht… Brauchen Sie vielleicht Geld?“
Großfeld lächelte. „Arthur Amadeus“, sagte er vorwurfsvoll, „wäre ich dann hier?“
„Also das ist es nicht? Es wäre auch aussichtslos gewesen, völlig aussichtslos… Was wollen Sie denn nun eigentlich? Hallo! Halten Sie das Tier! Auf Ihrem Knie sitzt es — halten Sie’s!“
„Warum denn?“ gab Großfeld aufreizend ruhig zurück. Es hält sich selbst — mit den Krallen.“
„Jetzt ist es wieder weg!“ stöhnte Liegnitz. „Also was wollen Sie hier? Ich hab’ es jetzt satt! Sie kommen da mitten in der Nacht hierher, stellen die ganze Wohnung auf den Kopf und wollen mir nicht einmal sagen — —“
„Doch, ich will!“ unterbrach ihn Großfeld. „Der Leiner ist wieder da.“
Liegnitz hatte eben Anlauf genommen, einen Sittich auf dem Tisch zu überfallen. Er blieb stehen, wo er stand, und vergaß sogar, die ausgestreckte Rechte wieder sinken zu lassen. Sein Gesicht drückte etwas wie Schrecken aus, aber nur vorübergehend, und ebenso vorübergehend hatte sich die gesunde rötliche Färbung seiner Wangen ein wenig verloren. Gleich darauf war er wieder ganz der alte. Sogar sein Ärger über die nächtliche Störung schien überwunden. „Was Sie sagen!“ rief er lächelnd. „Hat man ihn rausgelassen? Ich dachte, er hätte noch so etwa ein Jährchen abzubrummen…“
„Stimmt! Aber wegen ausgezeichneter Führung wurden ihm ein Jahr und etliche Monate geschenkt.“
„Hätt’ ich ihm nie zugetraut — die ausgezeichnete Führung“, meinte Liegnitz und setzte sich. Die Sittiche schien er vergessen zu haben. „Woher wissen Sie das denn?“
„Man hat so seine Verbindungen… Heute ist er entlassen worden, wird jetzt wohl schon zu Hause sein. Das gibt ein Freudenfest — was, Arthur Amadeus? Wie wird Änne glücklich sein!“
„Ja, gewiß, sehr…“
„Und sein Wiedersehen morgen mit Ihnen, stelle ich mir geradezu rührend vor“, plauderte Großfeld weiter.
Liegnitz zuckte die Achseln. „Warum soll es nicht rührend sein, lieber Großfeld? Ihre Frage klingt ja beinah so, als zweifelten Sie an unserem guten Einvernehmen. Wir standen prächtig miteinander…“
„Standen —!“ unterstrich Großfeld kurz.
„Nun ja, und stehen natürlich auch heute noch ebenso zueinander. Genau so.“
Großfeld begann plötzlich zu lachen — ein langes, herzliches Lachen.
„Worüber lachen Sie?“ forschte Liegnitz mißtrauisch.
„Über — Ihre Sittiche“, sagte Großfeld ruhig und stand auf. „Na, wohl bekomm‘s, Arthur Amadeus! Auf Wiedersehn! Ja, und sollte er Sie gar zu herzlich an sich drücken, dann rufen Sie mich an! Rührende Szenen liebe ich sehr. Ich gehe immer ins Kino, wenn so ein gefühlvolles Stück gegeben wird, oder auch — wenn scharf geschossen wird…“
Liegnitz begriff nicht ganz. „Sie wollen gehen?“ fragte er stimrunzelnd. „Aber was war denn nun der Zweck Ihres Besuches? Sie werden mir doch nicht weismachen wollen, daß Sie nur gekommen sind, um mir diese Neuigkeit mitzuteilen?“
Großfeld war an der Tür stehengeblieben und wandte sich langsam um. „Es gibt für mich nichts Schöneres, als zu sehen, wie ein Mensch sich freut“, sagte er bedächtig. „Aber nein, Sie haben recht: Nicht das allein war der Zweck meines Besuches. Ich hab’ Ihnen doch ein Geschenk mitgebracht.“ Er griff in die Tasche und brachte ein in blaues Papier gewickeltes verschnürtes Päckchen zum Vorschein. Und ehe Liegnitz mit dem Aufschnüren fertig war, hatte Großfeld das Zimmer verlassen.
Endlich war der Faden gelöst, das Papier entfernt. Liegnitz starrte es an — das Geschenk, um dessentwillen er mitten in der Nacht hatte aufstehen müssen: und sein Gesicht wurde bleich. Es war ein dickes gelbes Buch. Es war ein ganz gewöhnliches Reichskursbuch…
IV
Am nächsten Tage gegen elf Uhr vormittags wurde Liegnitz in seinem Geschäftszimmer ein neuer Besucher gemeldet: Gerhard Leiner.
Liegnitz saß an seinem breiten Schreibtisch, wie immer rosig im Gesicht, wie immer vollendet vornehm. Er starrte das kleine Kärtchen an, und seine Hand fuhr dabei ein paarmal über die blanke Glatze.
Diese Bewegung deutete die schlanke, schwarzhaarige Sekretärin, die vor ihm stand, mit Recht als Zeichen der Verlegenheit „Soll ich ihn abweisen, Herr Liegnitz?“ erkundigte sie sich. „Ich hab’ ihm nicht gesagt, daß Sie anwesend seien, und daher…“
Liegnitz atmete tief auf. „Nein: Vorlassen, Fräulein Diersch!“ sagte er freundlich und bestimmt.
Die Hände an die Schreibtischkante gepreßt, wartete er, bis sie das Zimmer verlassen hatte. Dann zog er schnell ein Schreibtischfach auf, nahm einen Revolver heraus, entsicherte ihn und steckte ihn in die Rocktasche. Das alles tat er mit einer Miene des Abscheues, die in jedem Beobachter Zweifel erweckt hätte, ob der Mann je fähig wäre, Von der Waffe Gebrauch zu machen.
Die Tür öffnete sich: Werner trat ein. Unentschlossen blieb er an der Schwelle stehen und musterte mit raschem Blick den Mann am Schreibtisch, diesen Mann, den er noch nie gesehen hatte und den er nun wie den besten Freund begrüßen mußte.
Liegnitz war aufgestanden. Sekundenlang standen sich die Männer gegenüber und keiner tat einen Schritt vorwärts, keiner verriet durch die kleinste Bewegung, was für Gefühle er dem anderen entgegenbrachte. Es waren überaus peinliche Augenblicke, und alles in Werner drängte dazu, ihnen ein Ende zu bereiten. Aber er fürchtete, sich im Ton zu vergreifen, und daher lächelte er nur ein krampfhaftes, unnatürliches Lächeln.
Die Wirkung dieses Lächelns war überraschend. Mit einem Ruck riß Liegnitz die Hände aus den Taschen, breitet die Arme weit aus und ging mit strahlendem Gesicht auf Werner zu. Im nächsten Augenblick lagen sich die beiden Männer in den Armen, und es gab eine Begrüßung, wie man sie sich zwischen zwei Freunden nicht herzlicher hätte denken können.
„Gerd! Altes Haus!“ stöhnte Liegnitz und schnappte nach Luft. „Endlich wieder da! Komm, setz dich! Ein Likörchen, ja?Du sagst doch nie nein. Na also!“ Er trat an den kleinen Wandschrank und holte eine dickbauchige Flasche mit zwei Gläschen heraus, die er rasch füllte. „Hab’ dich