Man erzieht nur mit dem Herzen gut. Daniel Zindel
Die Gebäudehülle
Wir Eltern haben außerdem die Verantwortung für die Gebäudehülle. Raum entsteht durch Begrenzung. Familiengrenzen haben eine Abschluss- und Schutzfunktion, wie sie die Haut bei unserem Körper wahrnimmt.
Mehrere Familien verbringen zusammen eine Ferienwoche am Meer. Die Kinder wären am liebsten Tag und Nacht zusammen. Die Eltern jedoch haben ein Gespür dafür entwickelt, wann die Familie Zeit für sich selbst und Abgrenzung nach außen braucht.
Gut gesetzte Grenzen stärken den Zusammenhalt und die Identität der Familie: Das sind wir. Wir musizieren. Wir sind Genießer. Bei uns wird laut gelacht und gestritten. Bei uns wird gebetet. Bei uns ist vieles nicht perfekt, aber es lebt!
Gute Grenzen funktionieren für eine Familie wie eine Gore-Tex-Haut. Sie schützen und lassen vieles abperlen, was dem Einzelnen schaden könnte. Das Wir-Gefühl stärkt die einzelnen Familienmitglieder.
In der Schule wird Peter ausgelacht, als er von seinen Ferien erzählt, weil sie mit Fahrrad und Zelt unterwegs gewesen sind. Zu Hause meint sein älterer Bruder: »Deine Klassenkameraden sind Banausen. Die haben keine Ahnung, wie cool Fahrradtouren sind!«
Eingeengt
Die Gore-Tex-Haut ist zugleich atmungsaktiv und durchlässig. Wenn Grenzen in einer Familie zu eng gezogen werden, wird die Familie zur Festung. Wir bekommen im geschlossenen System keine Luft mehr. Es fehlt der Austausch mit den anderen. Es gibt keine Anregung, keine Befruchtung, keine Korrektur. Kein Ausgang ist möglich, nur noch Ausbruch.
Der Vater bestimmte alles. Er wusste haargenau, was biblisch war. Seine Frau ordnete sich ihm in allem unter. Ebenso seine drei Kinder. Zunächst. Mit 18 Jahren brach die Mittlere aus dem engen Regelkorsett der Familie aus. Der Vater duldete das nicht und schloss sie aus der Familie aus. Manchmal telefonieren die Mutter und die Tochter miteinander. Heimlich.
Durchzug
In manchen Familien sind die Grenzen zu wenig entwickelt. Es herrscht Durchzug. Das »Wir« ist unterentwickelt, das Zusammengehörigkeitsgefühl fehlt und die Familienidentität ist brüchig. Hielt früher der gemeinsame Kühlschrank die Familie zusammen, so ist es heute zusätzlich noch der gemeinsame WLAN-Anschluss. Alle Familienmitglieder starren auf ihre Screens. Was jedoch vordergründig als trauliches Zusammensein erscheint, ist im Grunde sprachlose Einsamkeit, wo sich jeder in seiner Medien-Blase befindet.
Auch hier ist es hilfreich, wenn wir als Eltern über unsere Familiengrenzen im Gespräch bleiben. Haben wir als Familie zu wenig Zeit für uns allein? Was könnte unser Wir-Gefühl stärken?
Wir können außerdem betend mit Gott ins Gespräch über unsere Familie kommen:
Guter Gott, wie sind wir als Familie in deinen Augen aufgestellt? Wie denkst du darüber? Hast du für mich, hast du für uns als Eltern einen Hinweis dazu? Füllen wir unsere Plätze aus? Hast du eine Idee, wie sich jede und jeder von uns weiter entfalten kann, trotz der Enge, in der wir leben?«
Nehmen Sie die Impulse, die Ihnen in diesen betenden Fragen kommen (Gedanken, Ideen, innere Bilder etc.), ernst. Gott kann durch solche intuitiven Eindrücke zu Ihnen sprechen.
ZUSAMMENLEBEN UNTER EINEM DACH
Die Familie ist der sichere Ort, wo das Leben von Erwachsenen und Kindern behütet und entfaltet wird. Es geht um das Kindswohl und das Elternwohl. Die Familie ist kein Schon-, aber ein Schutzraum, wo wir den täglichen guten Umgang miteinander üben, damit das Leben gelingt. Familie ist wie eine Heimat, wo wir sichere Bindungen und Urvertrauen entwickeln. Wir vertrauen einander und haben Respekt voreinander, obwohl wir manchmal streiten. Jeder von uns macht Fehler und wir brauchen Korrektur und Ergänzung. In einer Familie geht es nicht primär um Erziehung, sondern um Beziehung. Alle entwickeln sich aneinander und miteinander.
Unsere Kinder hatten auf meine eigene Entwicklung einen entscheidenden Einfluss: Als unsere erste Tochter zur Welt kam, begann ich, Tagebücher zu schreiben. Vor Kurzem habe ich wieder mal meine Tagebücher aus jener Zeit der frühen Mutterschaft hervorgenommen. Pulsierendes Leben kommt mir beim Lesen entgegen. Ich lese von intensiven Gefühlen der Freude und Dankbarkeit, aber auch von meinem Unvermögen. Ich lernte in diesen Jahren meine Schwächen und Grenzen schmerzlich kennen. Gefühle der Scham, der Ohnmacht und des Versagens erlebte ich wie nie zuvor. Immer wieder war ich enttäuscht über meine lieblosen und ungeduldigen Reaktionen gegenüber meinen Kindern. Ich stellte mich damals meinem Unvermögen. Es war mir eine Hilfe, mit Gott darüber zu sprechen. Das ermutigte mich immer wieder, mich selbst nicht zu verurteilen, sondern Neues zu lernen.
Gerade weil es in unserem Zusammenleben in der Familie oft eng wird und wir nicht einfach ausbrechen können, sind wir herausgefordert, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Das verbindliche Leben wirft einen immer wieder auf die eigenen Muster zurück. Wir nehmen am Werden unserer Kinder teil. Das ruft in uns unsere eigene Kindheit wieder wach und das Verhalten unserer Eltern wird vergegenwärtigt. Das alles vertieft unsere Selbsterkenntnis und ist eine große Chance, in der Selbstbeziehung und Selbsterziehung zu wachsen. Wie bei allem Wachstum ist das beglückend und manchmal schmerzlich zugleich.
Ich begegnete durch meine Vaterschaft der Angst, wegen der Familie und meiner Kinder im Beruf oder in meinen sonstigen Interessen etwas zu verpassen. Der gelegentliche Rückzug aus der Öffentlichkeit in die Verborgenheit der Familie zwang mich, Vertrauen aufzubauen, dass ich dadurch nicht »zu spät kommen« und vom Leben bestraft werden würde.
Lernen am Vorbild
Ich habe mir einen Ratschlag des genialen katholischen Pädagogen Don Bosco an seine sozialpädagogischen Mitarbeitenden in mein Tagebuch geschrieben:
»Predige deinen Kindern am Morgen, am Mittag und am Abend – und wenn es sein muss, auch noch mit Worten.«
Wir prägen mit dem, was wir sind, und nicht mit dem, was wir sagen. Unsere Lebensfreude oder unser Missmut als Eltern färben ab. Wie ich mit meiner Frau umgehe, prägt das Frauenbild meines Sohnes. Wie ich über andere spreche, formt den Respekt unserer Kinder gegenüber ihrer Mitwelt. Ob ich mich von meinen Gefühlen überschwemmen lasse oder sie reif reguliere, wird beeinflussen, wie unsere Kinder mit ihren Emotionen umgehen.
Ich bin ein eher kontrollierter Mensch und war als Vater recht distanziert und spröde, wenn es um Nähe und körperliche Berührung geht. Ich war kein »Teddydaddy« zum Anfassen. Als Vorbild war ich prägend in Bezug auf Respekt und Achtung, aber nicht so sehr in vertraulicher Nähe und Emotionalität. Zum Glück schaffte meine Frau auf diesem Gebiet den Ausgleich.
Kinder sind wie ein Spiegel und manchmal können wir uns selbst in ihrem kindlichen Spiel erkennen, das unsere Erwachsenenwelt nachahmt. Im Guten und Schlechten. Im Inneren unserer Kinder formt sich aus unzähligen erlebten Szenen und Situationen mit uns Eltern ein Bild, das vor ihren Seelen steht: unser Vorbild. Von diesem Vorbild geht eine prägende, verändernde Kraft aus: Was ein Mann oder eine Frau ist; wie man zu seinem Leib, seiner Nacktheit und seiner Sexualität steht; was es bedeutet, zu arbeiten, und wie man sich erholt; wie man Entscheidungen fällt; wie man mit Scheitern und Enttäuschungen umgeht. Das, was unsere Kinder an uns sehen und hören, wirkt tiefer und nachhaltiger als das, was wir ihnen sagen und sie lehren.
Hältst du die Ordnung, hält die Ordnung dich
Ein junges Paar ist zuversichtlich, dass das erste Kind sie beide nicht in ihrer Flexibilität stören wird. Sie schlendern abends spontan durch die Stadt, besuchen Kneipen und treffen sich mit Freunden. Erstaunt stellen sie dabei fest, dass der Kleine nach solchen Abenden lange schreit und kaum in den Schlaf findet. Umlernen ist für die Eltern angesagt. Sie stellen ihre Zeitstrukturierung zum Wohl des Kindes und zu ihrer eigenen Entspannung um. Ihnen wird dabei schmerzlich bewusst, dass sie jetzt auf manches verzichten müssen. Sie entwickeln ein Einschlafritual für ihr Kind, an welchem oft beide beteiligt sind. Das stärkt sie in ihrer Intimität. Sie