Immer noch wach. Fabian Neidhardt

Immer noch wach - Fabian Neidhardt


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       Abspann

       Fabian Neidhardt

       Zum Autor

       Impressum

      Für die, denen du wichtig bist.

      Und jetzt sind es beinah auf den Tag sieben Jahre, dass weggegangen ist, nein, dass hat weggehen lassen – und nun stürzen die Erinnerungen nur so herunter, alle zusammen. Ich weiß, was ich in Ihm und an Ihm beklage:

      unser ungelebtes Leben.

      […] Wäre die Zeit normal (und ich auch), so hätten wir jetzt ein Kind von, sagen wir, 12 Jahren haben können, und, was mehr ist, die Gemeinsamkeit der Erinnerungen.

      Kurt Tucholsky in seinem letzten Brief an Mary Gerold, 19. Dezember 1935

      And if you get into a jam – call me. I stay up late.

      Lester Bangs in „Almost Famous“

      Die Geräusche des Regens und der vorbeifahrenden Autos sind längst Grundrauschen. Die Sonne ist schon seit Stunden nicht mehr durch die Wolkendecke gekommen, als die Bremslichter eines Wagens aufleuchten und er ein paar Meter hinter mir am Straßenrand stehen bleibt. Ich betrachte das Auto für einen Moment, die Tropfen zwischen uns reflektieren das rote Licht. Ich bin mir sicher, dass es nicht für mich gehalten hat. Dann aber lasse ich den Daumen sinken, packe meinen Rucksack und den Koffer und laufe los, vollkommen durchnässt und ausgekühlt.

      Ein weißer Passat, Kombi, relativ neu. Nach unten hin verläuft die Wagenfarbe ins Graue. Nur die Fingerabdrücke am Kofferraum lassen erkennen, dass es Dreck ist. Der Deckel gleitet auf, ich schmeiße mein Gepäck hinein und gehe zur Beifahrertür. Bei jedem Schritt spüre ich das Wasser in den Schuhen und meine Boxershorts unter der Anzughose, die zwischen den Beinen klebt. Ich öffne die Tür, zwänge mich durch den Spalt und lasse mich in den Sitz sinken. Hemd und Hose drücken sich klamm und kalt an den Körper und ich bin froh, raus aus dem Regen zu sein.

      Der Fahrer ist um die 60, das hellgraue Haar kurz, bis auf eine geflochtene Strähne, die er sich hinters Ohr schiebt. Er sieht mich durch die eckigen Gläser seiner Nickelbrille an und hebt eine Augenbraue.

      „Vielen Dank! Entschuldigung, ich bin ganz schön nass.“

      Er macht eine wegwerfende Handbewegung.

      „Den Sitzen ist das egal. Deinem Anzug tut das nicht gut.“

      „Ich hatte das anders geplant.“

      „Wo willst du denn hin?“

      „So weit in den Süden, wie Sie fahren. Ich muss nach Stuttgart.“

      Ich wische mir das Wasser aus dem Gesicht und die Hand an der Hose ab. Aber die Hose ist genauso nass und macht die Hand nicht trockener.

      „Was sind das? 700 Kilometer? Das ist eine ganz schöne Strecke.“

      Mein Blick verliert sich in den Tropfen auf der Windschutzscheibe, die immer nur kurz alleine bleiben, sich dann sammeln und abfließen.

      „Ich wollte weit weg.“

      „Scheint ja geklappt zu haben.“

      Ich nicke langsam.

      „Wenn Sie wüssten.“

      Ich leere meine Hosentaschen. Die Ränder des Notizbuches sind aufgeweicht und ein Teil der Schrift hat sich in dunkle Schlieren verwandelt. Scheiße. Ich lege es vorsichtig auf meinen Schenkel und krame den Rest heraus, zwei nasse Fünfer und ein paar Münzen. Ich zähle und reiche es ihm.

      „So viel habe ich noch, das kann ich Ihnen geben.“

      Er betrachtet meine ausgestreckte Hand, dann schüttelt er den Kopf, legt den Gang ein und setzt den Blinker.

      „Einmal hat mir eine Frau einen Blowjob angeboten, damit ich sie mitnehme. Anschnallen, bitte.“

      Ich sehe ihn irritiert an, er blickt über die Schulter und gibt Gas.

      „Aber ich bin mit einer Coke Light und einem Kaffee zufrieden.“

      Haus Leerwaldt war einmal ein Gehöft. Zwei Gebäude aus rotem Backstein, ein alter Schuppen und ein Stall drängen sich um den Innenhof, in dem das Auto hält. Es liegt vielleicht zwei Kilometer außerhalb der Gemeinde, inmitten von Wiesen und direkt an einem Wäldchen. Die Luft ist kalt und frisch, der Wind fährt mir in den Kragen und bläht die Jacke auf. Auf der Wiese neben der Zufahrt stehen Pferde, ich kann kilometerweit sehen, die Sonne scheint und ich habe einen metallisch-salzigen Geschmack im Mund.

      Hier lässt es sich sterben.

      Ich rede eine Weile mit Doktor Münchenberg, bis er einlenkt und mir ermöglicht, in ein Hospiz zu gehen.

      Wir sitzen in seinem Sprechzimmer, zwischen uns die Ergebnisse der Untersuchungen und die Röntgen- und CT-Aufnahmen. Er hört sich meine Beschreibungen der Symptome an, die schlimmer werden. Der Druck unter den Rippen, der mittlerweile ständig spürbar ist. Die Übelkeit, das Übergeben, die Kopfschmerzen und die Müdigkeit, die trotz viel Schlaf nicht nachlässt. Er schiebt die Brille nach oben und fährt sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen.

      „Herr Fink. Ich sage Ihnen, lassen Sie sich helfen. Wir haben immer noch viele andere Möglichkeiten. Ich kann das nicht gutheißen, was Sie sich antun.“

      „Das ist meine Entscheidung.“

      Er verschränkt die Arme vor der Brust.

      „Wollen Sie nicht wenigstens in Ihrem gewohnten Umfeld … viele Patienten empfinden es als heilsam, von Familie und Freunden umgeben zu sein.“

      „Sie wollen mir helfen? Dann helfen Sie mir dabei.“

      „Ich sage Ihnen ausdrücklich, dass Sie gegen meinen ärztlichen Rat handeln.“ Widerwillig wendet er sich dem Computer zu. „Ich gebe Ihnen eine vorläufige Bescheinigung, damit Sie mit einem Hospiz in Kontakt treten können. Falls Sie einen Platz bekommen, kommen Sie nochmal zu mir, dann kriegen Sie die richtigen Papiere.“

      ~


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