Auf zwei Planeten (Science-Fiction). Kurd Laßwitz
die sichtbaren Naturerscheinungen und so weiter; vielmehr fanden sich gerade die Ausdrücke für abstraktere Begriffe, für kulturgeschichtliche und technische Dinge darin verzeichnet, so daß es Grunthe und Saltner möglich wurde, sich über diese Gedankenkreise mit den Martiern zu besprechen. Ell hatte offenbar vorausgesehen, daß, wenn wissenschaftlich gebildete Europäer mit den in der Kultur ihnen überlegenen Martiern zusammenkämen, das Hauptinteresse darin bestehen müßte, sich gegenseitig über die allgemeinen Bedingungen ihres Lebens zu unterrichten.
Es erregte übrigens bei den Martiern keine geringere Verwunderung wie bei den beiden Forschern, daß auf Erden ein Mensch existiere, der sowohl die Sprache und Schrift der Martier beherrschte als auch eine ziemlich zutreffende Kenntnis der Verhältnisse auf dem Mars besaß. Aus gewissen Einzelheiten schlossen sie allerdings, daß diese Kenntnis sich nur auf weiter zurückliegende Ereignisse bezog, daß insbesondere die Tatsache der Marskolonie am Pol der Erde dem Verfasser des Sprachführers nicht bekannt war, wohl aber das Projekt der Martier, die Erde an einem ihrer Pole zu erreichen. Der Name Ell war in einigen Landschaften des Mars nicht selten. Die gegenwärtigen Polbewohner erinnerten sich der Berichte, daß bei den ersten Entdeckungsfahrten nach der Erde mehrfach Fahrzeuge verschollen waren, ohne daß man jemals etwas über das Schicksal der kühnen Pioniere des Weltraums hatte erfahren können. Von einem berühmten Raumfahrer, dem Kapitän All, wußte man sogar gewiß, daß er mit mehreren Gefährten infolge eines unglücklichen Zufalls auf der Erde zurückgelassen worden war, allerdings unter Umständen, welche allgemein an seinen baldigen Untergang glauben ließen. Immerhin war es wohl denkbar, daß einer oder der andere dieser Martier zu Menschen sich gerettet und die Kunde vom Mars dahin gebracht hätte. Diese Ereignisse aber lagen dreißig bis vierzig Erdenjahre zurück, und jene Männer selbst waren alle in vorgeschrittenerem Alter gewesen, da eine Beteiligung jüngerer Leute an jenen ersten, unsicheren Fahrten nicht bekannt war. Ell selbst, der etwa mit Grunthe gleichaltrig oder nur ein wenig älter war, konnte also nicht zu ihnen gehören. Und Grunthe wie Saltner konnten versichern, daß von einem Auftauchen eines Marsbewohners, ja überhaupt von der Existenz solcher Wesen, auf der Erde nichts bekannt sei. Ell war der einzige, der ein solches Wissen besaß, dies aber bis auf jene beiläufigen Redensarten, die Grunthe nicht ernsthaft genommen, durchaus verborgen gehalten hatte. Wie er selbst dazu gekommen war, blieb ebenso unaufgeklärt wie die Umstände, durch welche jene Sprachanweisung in das Flaschenfutteral gelangt sein konnte, das Frau Isma Torm der Expedition als eine scherzhafte Überraschung am Nordpol mitgegeben hatte.
Den Bemühungen der Deutschen, sich die Sprache der Marsbewohner anzueignen, kamen diese bereitwillig entgegen, so daß Saltner und insbesondere Grunthe sehr bald ein Gespräch auf martisch führen konnten; gleichzeitig fand es sich, daß auch die Martier, welche den täglichen Umgang der beiden bildeten, das Deutsche beherrschten. Ersteres wurde dadurch möglich, daß die Verkehrssprache der Martier außerordentlich leicht zu erlernen und glücklicherweise für eine deutsche Zunge auch leicht auszusprechen war. Sie war ursprünglich die Sprache derjenigen Marsbewohner gewesen, die auf der Südhalbkugel des Planeten in der Gegend jener Niederungen wohnten, welche von den Astronomen der Erde als Lockyer-Land bezeichnet werden. Von hier war die Vereinigung der verschiedenen Stämme und Rassen der Martier zu einem großen Staatenbund ausgegangen, und die Sprache jener Zivilisatoren des Mars war die allgemeine Weltverkehrssprache geworden. Durch einen Hunderttausende von Jahren dauernden Gebrauch hatte sie sich so abgeschliffen und vereinfacht, daß sie der denkbar glücklichste und geeignetste Ausdruck der Gedanken geworden war; alles Entbehrliche, alles, was Schwierigkeiten verursachte, war abgeworfen worden. Deswegen konnte man sie sich sehr schnell soweit aneignen, daß man sich gegenseitig zu verstehen vermochte, wenn es auch außerordentlich schwierig war, in die Feinheiten einzudringen, die mit der ästhetischen Anwendung der Sprache verbunden waren.
Übrigens war dies nur die Sprache, die jeder Martier beherrschte. Neben derselben aber gab es zahllose, sehr verschiedene und in steter Umwandlung begriffene Dialekte, die bloß in verhältnismäßig kleinen Gebieten gesprochen wurden, endlich sogar Idiome, die allein im Kreis einzelner Familiengruppen verstanden wurden. Denn es zeigte sich als eine Eigentümlichkeit der Kultur der Martier, daß der allgemeinen Gleichheit und Nivellierung in allem, was ihre soziale Zusammengehörigkeit als Bewohner desselben Planeten anbetraf, eine ebenso große Mannigfaltigkeit und Freiheit des individuellen Lebens entsprach. Wenn so die schnelle Erfaßbarkeit des Martischen den Deutschen zugute kam, so brachte die erstaunliche Begabung der Martier andererseits zuwege, daß sie sich wie spielend das Deutsche aneigneten. Gegenüber dem verwirrenden Formenreichtum des Grönländischen erschien ihnen das Deutsche wesentlich leichter. Was aber die schnellere Erlernung desselben hauptsächlich bewirkte, war der Umstand, daß das Deutsche als Sprache eines hochentwickelten Kulturvolkes dem geistigen Niveau der Martier soviel näherstand. Was der Grönländer in seiner Sprache auszudrücken wußte, die konkrete Art, wie er es nur ausdrücken konnte, der enge Interessenkreis, auf den sich das Leben des Eskimo beschränkte, das alles war dem Martier sehr gleichgültig, und er beschäftigte sich damit nur, weil er bisher kein anderes Mittel besaß, mit Bewohnern der Erde in Verkehr zu treten. Ganz anders aber wurde das Interesse der Martier erregt, als sie mit Grunthe und Saltner Gesprächsthemata berühren konnten, die ihrem eigenen gewohnten Gedankenkreis näherlagen. Im Deutschen fanden sie eine Sprache, reich an Ausdrücken für abstrakte Begriffe, und dadurch verwandt und angemessen ihrer eigenen Art zu denken. Die Überlegenheit, mit welcher die Martier die kompliziertesten Gedankengänge behandelten und in einem allgemeinen Begriff jede einzelne seiner Anwendungen mit einemmal überblickten, diese bewundernswerte Feinheit der Organisation des Martiergehirns kam den Deutschen zum erstenmal zum vollen Bewußtsein, als sie die Gewandtheit bemerkten, mit welcher die Martier das Deutsche nicht nur erfaßten und gebrauchten, sondern gewissermaßen aus dem einmal begriffenen Grundcharakter die Sprache mit genialer Kraft nachschufen.
Grunthe und Saltner wurde es sehr bald klar, daß die Martier geistig in ganz unvergleichlicher Weise höher standen als das zivilisierteste Volk der Erde, wenn sie auch noch nicht zu übersehen vermochten, wie weit diese höhere Kultur reiche und was sie bedeute. Ein Gefühl der Demütigung, das ja nur zu natürlich war, wenn der Stolz des deutschen Gelehrten einer höheren Intelligenz sich beugen mußte, wollte im Anfang die Gemüter verstockt machen. Aber es konnte nicht lange vor der übermächtigen Natur der Martier bestehen. Es wich widerstandslos der ungeteilten Bewunderung dieser höheren Wesen. Neid oder Ehrgeiz, es ihnen gleichzutun, konnten bei den Menschen gar nicht aufkommen, weil sie sich nicht einfallen lassen durften, sich mit den Martiern auf dieselbe Stufe der Einsicht stellen zu wollen.
Freilich wurden sie von den Martiern wie Kinder behandelt, denen man ihre Torheit liebevoll nachsieht, während man sie zu besserem Verständnis erzieht. Aber davon merkten Grunthe und Saltner nichts. Denn die Martier, wenigstens diejenigen der Insel, waren viel zu klug und taktvoll, als daß sie je ihre Überlegenheit in direkter Weise geltend gemacht hätten. Sie wußten es so einzurichten, daß den Menschen die Berichtigung ihrer Irrtümer als Resultat der eigenen Arbeit erschien, und ihre unvermeidlichen Mißgriffe korrigierten sie mit entschuldigender Liebenswürdigkeit.
Die Wunder der Technik, welche die Forscher bei jedem Schritt auf der Insel umgaben, versetzten sie in eine neue Welt. Sie fühlten sich in der beneidenswerten Lage von Menschen, die ein mächtiger Zauberer der Gegenwart entrückt und in eine ferne Zukunft geführt hat, in welcher die Menschheit eine höhere Kulturstufe erklommen hat. Die kühnsten Träume, die ihre Phantasie von der Wissenschaft und Technik der Zukunft ihnen je vorgespiegelt hatte, sahen sie übertroffen. Von den tausend kleinen automatischen Bequemlichkeiten des täglichen Lebens, die den Martiern jede persönliche Dienerschaft ersetzten, bis zu den Riesenmaschinen, die, von der Sonnenenergie getrieben, den Marsbahnhof in sechstausend Kilometer Höhe schwebend erhielten, gab es eine unerschöpfliche Fülle neuer Tatsachen, die zu immer neuen Fragen drängten. Bereitwillig gaben die Wirte ihren Gästen Auskunft, aber in den meisten Fällen war es gar nicht möglich, ihnen den Zusammenhang zu erklären, weil ihnen die Vorkenntnisse fehlten. Grunthe war in dieser Hinsicht so vorsichtig, nicht viel zu fragen; er suchte sich auf seine eigne Weise zurechtzufinden, sobald er sah, daß die Erklärung der Martier über seinen Horizont ging. Saltner machte sich weniger Skrupel darüber. »Das hilft nun nichts«, pflegte er zu sagen, »wir spielen einmal hier die wilden Indianer, und was wir nicht begreifen, ist Medizin.«
Als ihnen