Die Mission der tollkühnen Bücher. Hendrik Lambertus

Die Mission der tollkühnen Bücher - Hendrik Lambertus


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weiß ich, warum Pinguine nicht fliegen«, brummte Reginald.

      »Immerhin sind wir auf der anderen Seite der Mauer«, stellte Paulchen gut gelaunt fest.

      »Hoffentlich hat uns niemand gesehen …«, erwiderte Reginald und schaute sich besorgt um. Sie standen nun direkt vor ihrem Antiquariat. »Ich wünschte, wir hätten einfach den Vordereingang benutzt«, seufzte das Detektivbuch.

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      »Bist du verrückt?«, erwiderte Hedy. »Wie sähe denn das für die Menschen aus, wenn plötzlich ein Buch fröhlich pfeifend zur Tür herausspazierte?«

      Reginald wollte gerade etwas erwidern, da rumpelte ein Lastwagen die Straße entlang und fuhr durch eine Pfütze, dass das Wasser nur so aufspritzte. Die drei Bücher sprangen eilig zurück an die Mauer. Nässe konnten sie gar nicht leiden! Als der Lastwagen um die Ecke bog, bemerkte Reginald zwei Kinder auf der anderen Straßenseite: ein hochgewachsenes Mädchen und einen lockenhaarigen Jungen mit Brille, der einen Kopf kleiner war als sie. Der Junge schaute mit großen Augen quer über die Straße, ungefähr dorthin, wo sich die Buchagenten in den Schutz der Mauer duckten. Hatte er sie etwa gesehen?

      »Kommt jetzt!«, rief Paulchen Piratenkind unternehmungslustig. »Auf zur Stadtbibliothek!«

      Die drei setzten ihren Weg fort, wobei sie von einer dunklen Ecke in die andere huschten. Misstrauisch warf Reginald einen letzten Blick über seine Schulter. Der Junge schien ihnen immer noch hinterherzustarren.

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      Die Stadtbibliothek befand sich in einem uralten, verwinkelten Gebäude. Obwohl es noch recht früh am Samstagmorgen war, waren hier bereits einige Menschen unterwegs. Die drei Buchagenten mieden den Haupteingang und drückten sich an der Außenwand entlang, bis Reginald Ratlos plötzlich stehen blieb.

      »Hier geht es rein«, sagte er und klopfte an die Wand. Wie aus dem Nichts sprang eine kleine Klappe auf, die eben noch nicht zu sehen gewesen war. »Das ist die Agentenpforte«, erklärte er. »Sie führt hinunter in den Keller. Ich zeige euch den Weg.«

      »Warst du denn schon einmal da drin?«, fragte Hedy Hexensocke mit großen Augen.

      »Nein«, gab Reginald zu. »Aber ich bin schließlich eine Detektivgeschichte. Verlasst euch nur auf mich und meinen Spürsinn.«

      »Also los«, rief Paulchen ungeduldig und schwang sich durch die Klappe. Die anderen taten es dem Piratenbuch gleich. Sie kamen in einen dunklen, menschenleeren Kellergang. Reginald lief mit der Lupe in der Hand voran, dicht gefolgt von Hedy und Paulchen. Schließlich erreichten sie eine Treppe, die nach oben führte.

      »Da müssen wir hinauf«, erklärte Reginald. »Oben kommen wir in die Lesesäle. Dort laufen Menschen herum, also seid äußerst vorsichtig. Am besten so vorsichtig wie meine Hauptfigur in Reginald Ratlos und die Juwelendiebin auf Samtpfoten

      »Stolpert dein Pinguin in dem Band nicht über seine eigenen Füße und verliert dabei seine Krawatte?«, fragte Hedy mit gerunzeltem Buchrücken.

      »Nur, weil man ihm eine fiese Falle stellt!«, schnaubte Reginald. »Außerdem trägt er eine Fliege und keine hässliche Krawatte. Wie auch immer. Unser Ziel ist jedenfalls Raum 103 im ersten Stock. An diesem Ort wartet die Bedrohung, die den Alarm der Buchkontrollanlage ausgelöst hat.«

      Sie gingen die Treppe hinauf, wobei »Gehen« vielleicht nicht ganz der richtige Begriff dafür war, dass sie Stufe für Stufe hinaufhopsen mussten.

      »Woher weißt du bloß den Weg so genau?«, fragte Paulchen, unzufrieden darüber, dass jemand anderes sagte, wo es langging.

      »Das ist doch elementar«, erwiderte Reginald. »Ich musste nur den aktuellen Luftdruck in Beziehung zur Schuhgröße des Hausmeisters setzen und den Tabellenplatz vom FC Mümpelbrück davon abziehen. Schon hatte ich unsere Richtung. Angewandte Logik.«

      »Hoffentlich ist deine angewandte Logik sicherer als Hedys angewandte Zauberkunst«, meinte Paulchen.

      »He!«, beschwerte sich Hedy Hexensocke. »Wir sind doch vorhin geflogen, oder etwa nicht?«

      »Leise jetzt!«, flüsterte Reginald, der gerade die oberste Treppenstufe erreicht hatte. »Hinter der Tür müssen wir aufpassen. Denkt an Regel Nummer zwei des Codex: Menschen dürfen uns nicht sehen – wo immer wir auch schleichen und stehen. Paulchen, bist du wohl so freundlich?«

      Paulchen Piratenkind sprang mit einem Salto in die Luft und hängte sich an die Klinke der Kellertür. Reginald und Hedy drückten gemeinsam dagegen, sodass sie einen Spaltbreit aufging. Dann huschten sie hindurch.

      Auf der anderen Seite schien ihnen helles Neonlicht entgegen. Die drei Buchagenten mussten blinzeln. Sie fanden sich zwischen langen Metallregalen wieder, wo aberhunderte von Büchern aufgereiht standen. Vorsichtig schauten die Agenten sich um. An einer Wand hing ein Plakat. »Große Lesenacht in der Stadtbibliothek«, stand dort, »ausgerichtet mit der freundlichen Unterstützung von P. Wächter, Ihrer Buchhandlung am Westbahnhof«. Doch das war zum Glück erst heute Abend. Sonst wäre es hier wohl reichlich voll gewesen.

      Zurzeit waren nur vereinzelte Besucher zu sehen, die meisten kamen erst an und werkelten an den Schließfächern am Eingang herum. Zwei Kinder verstauten dort gerade ihre Rucksäcke. Ein hochgewachsenes Mädchen und ein lockenhaariger Junge mit Brille, der einen Kopf kleiner war als sie. Reginald blieb stehen und kniff misstrauisch die Augen zusammen.

      »Was ist denn?«, fragte Paulchen Piratenkind.

      »Die beiden Kinder da«, erwiderte Reginald. »Die habe ich vorhin schon auf der Straße gesehen.«

      »Na und?«, sagte Hedy. »Wahrscheinlich wollen sie sich ein paar Bücher holen und hatten den gleichen Weg wie wir.«

      »Ja, wahrscheinlich«, murmelte Reginald, der nicht wirklich überzeugt war.

      Sie setzten ihren Weg durch die schmalen Gänge zwischen den Regalen fort, sorgsam darauf bedacht, keinem Menschen zu begegnen. Schon bald kamen sie an eine weitere Treppe. Sie hüpften die Stufen hinauf in den ersten Stock. Hier oben gab es keine weitläufigen Säle, sondern Gänge, von denen immer wieder kleine Lesestuben abgingen. Reginald marschierte zielstrebig mit seiner Lupe voran. Schließlich blieb er stehen.

      »Raum 103«, sagte er. »Wir sind da.«

      Die Tür war nur angelehnt. Die drei Buchagenten schauten sich misstrauisch um. Niemand war in der Nähe. Dann schoben sie sich in den Türspalt und spähten vorsichtig um die Ecke. Sie blickten in einen kleinen Raum mit gut gefüllten Bücherregalen. Ein Fenster schaute auf die Straße hinaus.

      An einem Tisch in der Mitte des Raumes saß eine Gestalt über ein Buch gebeugt. Sie trug einen langen, dunkelbraunen Mantel mit Kapuze, die sie sich weit ins Gesicht gezogen hatte. Der Mantel sah ziemlich seltsam aus. Er war wie eine Flickendecke aus zahlreichen Leder-Rechtecken zusammengenäht, die unterschiedlich bedruckt waren. Dann erkannten die drei Buchagenten, was die Rechtecke wirklich waren: alte, lederne Bucheinbände!

      Die geheimnisvolle Gestalt schien ganz ins Lesen vertieft zu sein und murmelte dabei unverständliche Wörter vor sich hin. Die Seiten des Buches, in dem sie gerade las, schimmerten seltsam. So als würde sie jemand von hinten mit einer Taschenlampe beleuchten. Immer wieder lösten sich kleine, schwarze Umrisse aus dem Buch, schwebten durch die Luft und verschwanden unter der Kapuze der Gestalt. Das waren Buchstaben! Einer nach dem anderen wurden sie eingesaugt.

      »Was macht der da?«, flüsterte Hedy mit Grauen in der Stimme. »Liest der etwa das Buch leer?«

      Tatsächlich konnten sie nun erkennen, dass die aufgeschlagenen Buchseiten immer weißer wurden. Zeile für Zeile lösten sich die Buchstaben von der Seite, gondelten umher und wurden schließlich mit einem schlürfenden


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