Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


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Vater.

      Wieder sehe ich die furchtbare Angst in Vaters Gesicht. Der Zeitpunkt dieser Ereignisse ist extrem unglücklich. Nur eine Woche darauf werden Eisenhower und Chruschtschow bei der Ost-West-Konferenz in Paris aufeinandertreffen. Aber jetzt wütet Chruschtschow gegen Norwegen und die USA. Er trifft am 14. Mai in Paris ein, zwei Tage vor dem geplanten Gipfeltreffen, und geht sofort mit der Aufforderung zu General de Gaulle, die USA und indirekt auch Norwegen energisch zu verurteilen. Aber der französische Präsident will davon nichts wissen. Am Eröffnungstag, dem 16. Mai, dem Tag der geplanten Begegnung zwischen Chruschtschow und Eisenhower, stellt die UdSSR den USA ein Ultimatum und fordert das Eingeständnis, dass es sich bei der U-2-Affäre um eine aggressive Handlung gehandelt habe.

      Eisenhower lehnt das Ultimatum ab.

      Chruschtschow erhebt sich und verlässt die Konferenz.

      Vier Tage darauf holt Fellinis Film La dolce vita in Cannes die Goldene Palme. Mads zeigt mir ein Zeitungsbild der nassen und halbnackten Anita Ekberg, die in der Fontana di Trevi badet. Er hat dieses Bild aus Aftenposten ausgeschnitten, nachdem seine Eltern die Zeitung ausgelesen und in den Mülleimer geworfen hatten. Anita Ekberg hat gewaltig große Brüste. Größer als Mutter. Größer auch als Mads’ Mutter, sagt Mads und wird rot. Ich weiß nicht so recht, was ich meinen soll.

      Bald werden Mads und ich mit der Straßenbahn in die Stadt fahren, um im Palassteater die Wochenschau zu sehen. Die ist ab sieben Jahren freigegeben. Dort können wir sehen, wie Chruschtschow wütend wird. Dort können wir auch sehen, wie Anita Ekberg in der Fontana di Trevi badet.

      9

      Frühling im Melumvei. Er hatte nicht gewusst, wie sehr er sich über das Licht, den Duft und die grünen Bäume freuen würde. Darüber, dass er sein Fahrrad wieder benutzen konnte. Dass es bald möglich sein würde, im Fluss zu baden.

      Die Mutter lag im dunklen Schlafzimmer und nieste. Oft stand er vor der Tür und horchte. Er hatte Angst. Das passierte immer, wenn die Birken ausschlugen. Schon mitten im Winter ging sie zum eleganten Dr. K. in der Holtegate und ließ sich Medikamente verschreiben.

      Er hatte sie einige Male begleiten dürfen, vor allem, damit festgestellt würde, ob bei ihm alles in Ordnung war. Er wusste, dass etwas nicht stimmte, aber der Doktor konnte nichts finden. Dr. K. sah aus wie Clark Gable, hatte an den Kopf geklatschte Haare, trug einen Anzug, weißes Hemd und Fliege, er stank nach Rasierwasser. Er sah überhaupt nicht aus wie ein Doktor. Wo war der weiße Kittel? Das Stethoskop? Die langen Nasenhaare, die alle Ärzte und Zahnärzte hatten? War die Mutter vielleicht verliebt in ihn? Der Sohn wusste es nicht. Die Vorstellung aber machte ihm Angst. Dr. K. konnte auf Schlittschuhen zehntausend Meter offenbar genauso schnell schaffen wie Kupper’n. Angeblich konnte er auch an einem Tag eine ganze Flasche Whisky leeren.

      Das klang unheimlich.

      Der Mutter gefiel es auch nicht besonders. Ihr Vater, den sie nie erwähnte, war doch Alkoholiker gewesen. Und gemein noch dazu. Aber bei Dr. K. war das alles offenbar nicht so gefährlich.

      Wenn er so dastand und das Niesen der Mutter hörte, überlegte er sich, dass der Doktor in der Holtegate ein schlechter Doktor sein müsse. Er verschrieb die falschen Tabletten. Die durften nicht rosa sein. Die mussten blau oder weiß sein. Keine andere Mutter lag bei geschlossenen Vorhängen Tag für Tag im Schlafzimmer und nieste, immer wenn es auf den 17. Mai zuging. Manchmal klang es, als ob sie platzte, als ob ihr das Gehirn aus den Nasenlöchern lief. Solchen Plagen war einfach kein Mensch gewachsen. Sie lag da und zappelte wie ein frischgefangener Fisch, während sie nieste und nieste. Wenn sie ab und zu aufstand, um sich in der Küche eine Tasse Tee zu holen, hörte er, dass ihre Lunge von Schleim verstopft war. Sie pfiff beim Reden.

      »Mutter!«, rief er und schlang die Arme um sie.

      »Das ist nicht gefährlich«, sagte sie. »Setz dich im Wohnzimmer ans Klavier. Denk nicht an mich. Spiel etwas, bitte.«

      Er begann, ein ängstlicher Mensch zu werden. Er hatte Angst vor Atombomben und Todesstrafe. Hatte Angst davor, dass Chruschtschow und Eisenhower sich nicht einigen würden, dass der Körper der Mutter es nicht mehr ertragen würde, dass beide Eltern unten in der Stadt, wo sie beide arbeiteten, von einem Auto überfahren oder zwischen Bahnsteig und Straßenbahn eingeklemmt werden könnten, um dann von riesigen Rädern den Kopf abgeschnitten zu bekommen. Er hatte Angst, dass Tante Svanhild ihn nicht mehr liebte. Sie hatte ihn und den Bruder schon lange nicht mehr eingeladen zum Fernsehen in die kleine Wohnung in der Gabelsgate mit Blick auf den Hinterhof, auf den sie so stolz war. Man konnte zwischen den weißen Hausmauern sogar ein kleines Stück vom Frognervei sehen. Aber ganz besondere Angst hatte er, als er eines Morgens aufwachte und sah, dass er am ganzen Leib von roten Flecken übersät war, sogar im Gesicht. Wie sollte er das nur verbergen?

      Er hatte keine Angst um sich, sondern davor, seinen Eltern noch mehr Sorgen zu machen. Die waren für Sorgen nicht geschaffen. Sie waren doch beide so stark. Gesunde, schöne Menschen, wie Onkel Aage immer sagte, wenn er zu Besuch kam. Es kamen so viele zu Besuch. Deshalb durften die Eltern sich nicht in ihren Ängsten verlieren. Sie mussten lächeln und froh sein.

      Aber ein einziger Blick der Mutter machte ihm klar, dass hier etwas nicht stimmte.

      »Lass mal sehen«, sagte sie.

      »Das ist doch nicht wichtig«, sagte er. »Red keinen Unsinn«, sagte sie.

      Nun hatte er nichts mehr zu sagen. So war das immer. Aber er fand es schrecklich. Das Wissen, das sie besaßen. Das sie dazu zwang, Dinge zu tun. Auf irgendeine Weise hatten sie entdeckt, dass aus seinem Po weiße Würmer krochen. Nun beugte der Vater ihn über seine Knie, wobei er auf der Badewannenkante saß und die weißen Würmer mit einer Pinzette hervorfischte. Konnte irgendwer begreifen, wie demütigend das war? Aber er ließ es sich brav gefallen. Das war sein Lebensziel, umgänglich zu sein, aber zugleich schwer, so schwer wie überhaupt nur möglich, um keine Beeren pflücken zu müssen, zum Beispiel.

      Aber das hier war ein Ausschlag. Und Ausschlag wurde nicht mit der Pinzette weggezupft. Ausschlag entfernte man offenbar mit Pulver und Schwefel.

      Die Mutter ging mit ihm zu Dr. K. in der Holtegate. Das war unheimlich, denn jetzt gab es zum ersten Mal einen Grund, warum er sich in den Untersuchungssessel setzen sollte.

      »Lass dich mal ansehen«, sagte Dr. K.

      Er hoffte, dass er seinen Po nicht vorzeigen müsste. Es juckte jetzt überall. Am Hintern, unter den Armen, an den Oberschenkeln und am Kopf. Vielleicht hatte er Läuse. Oder die Würmer waren aus ihrem Darmgefängnis entflohen, obwohl er immer wieder versuchte, gegen den Druck aus seinem Inneren die Tür zu verschließen.

      Dr. K. sah sich seinen Bauch an. »Du hast Nesselfieber«, sagte er. Der Arzt musste nicht einmal zum Stethoskop greifen. Nesselfieber. Das klang gefährlich. Und das war es auch. Er musste ins Krankenhaus. Jedenfalls für eine Nacht. Vielleicht für zwei.

      Ohne seine Eltern?

      Ja. Auf die Kinderstation. Ullevål.

      Er hatte gehofft, im Krankenwagen hingebracht zu werden, aber sie nahmen die Straßenbahn. Die Mutter hatte Brote geschmiert. Knäckebrot mit Ziegenkäse und dick Butter. Sie wusste, dass ihm das schmeckte.

      Oft dachte er, er wäre lieber ein Obdachloser mit vielen kleinen Katzen gewesen.

      Aber er brauchte keinen Schwarzgebrannten. Ihm reichte Leberwurst.

      Sie begleitete ihn in das Sechsbettzimmer. Dort lagen fünf andere Jungen. Sie waren größer als er. Vielleicht waren sie schon neun oder zehn. Er hatte nicht das Gefühl, dass ihm etwas fehlte, abgesehen von diesen Flecken auf seiner Haut. Vielleicht steckte es in seinem Inneren. »Ganz bestimmt pyschisch«, wie Tante Svanhild immer sagte.

      Ein Monster von einer Frau in Weiß kam herein und sagte, jetzt müsse die Mutter gehen. Plötzlich war er allein mit den Jungen. Die Stimmung war nicht gut. Er hatte schon immer auf Stimmungen reagiert. Hier sollte er also eine Nacht mit wildfremdem Pöbel verbringen. Sie redeten über Boxen. Er fand das beunruhigend. Floyd Patterson. Ingemar Johansson. Ihm taten die Kiefer weh,


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