Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


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ersten Tage und Monate in der Schule waren ebenso licht gewesen wie die rosa Farbe an den Wänden des Klassenzimmers. Er fuhr jeden Morgen gemeinsam mit seinem Bruder mit der Straßenbahn von Røa nach Smestad. Das waren fünf Haltestellen. Und wenn sie bei dem roten Klinkerbau ausstiegen, traf der Bruder Klassenkameraden, während er zumeist allein den Weg hinunter zu den alten Deutschenbaracken ging, in denen die Schule am Smestaddam untergebracht war. Er hatte nicht das Bedürfnis, sich irgendjemandem aufzudrängen. Die Unsichtbarkeit, die er zu Hause anstrebte, versuchte er auch im Klassenzimmer zu erobern. Der sein, der sich niemals zeigte. Der niemals gesehen wurde. Das Sicherste war es, allein zu sein. Dann konnte niemand ihm etwas nachweisen.

      Der Lehrer schien aus einer anderen Welt geholt worden zu sein. Mild und energisch. Streng, aber nicht gefährlich. Sowie er die Arme hob, wurde es still. Warum war das so, dass der eine den Zauberstab des Gehorsams in Händen hielt, während andere vergeblich gegen eine Wand aus Lärm die Klasse anschrien?

      Eines Tages sprach der Lehrer über das Böse. Das hatten wir in uns.

      Ja, dachte er, als er da in seiner Schulbank saß. Es war das Böse, das ihn dazu gebracht hatte, die Menschen zu verletzen, die er liebte. Als Tante Svanhild an jenem Abend zur letzten Straßenbahn nach Hause gegangen war, stand er leer und verzweifelt in der Türöffnung und blickte ihr hinterher. Er wollte nicht, dass sie ging. Er wollte ihr hinterherlaufen, die Arme um sie schlingen und rufen, dass er dumm gewesen sei, dass er nicht wisse, was in ihn gefahren war, dass es auf der ganzen Welt keinen Menschen gebe, den er lieber zu Besuch haben wollte als sie.

      »Gesteht!«, sagte der Lehrer.

      Ja, dachte er. Aber er sagte nichts. Zu gestehen würde auch bedeuten, sich sichtbar zu machen.

      »Denn auch wenn ihr Kinder seid, habt ihr gesündigt«, sagte der Lehrer.

      Niemand wollte das erste Geständnis ablegen. Draußen war Winter. Der Schnee türmte sich zu Wehen auf, nur nicht auf der Ullernchaussee, wo Salz gestreut worden war und die Autos vorsichtig in braunem Matsch hin und her fuhren.

      Er sehnte sich nach Stille.

      Aber in dieser Stille hier konnte er es nicht aushalten. Diese Stille war wie das Geräusch von Metallplatten, die sich ineinander bohrten. Sie war der Schrei, den er immer im Traum hörte, ehe er aufwachte.

      Er hob die Hand.

      »Ja«, sagte der Lehrer, streng und beifällig zugleich.

      Er schaute sich um. Diese vielen Gesichter. Dreißig Kinder in seinem Alter. Aber er dachte nie daran, dass sie Kinder waren. Kluge Gesichter. Freundliche. Gemeine. Geruch und Ausdünstungen der vielen Körper. Ungewaschene Kleider und Pullover, die vage nach Parfüm rochen. Die Schlimmsten unter den Jungs, die nach ranzigem Fett und schalem Zigarettenrauch rochen. Die schönsten Mädchen, die nach Pfirsich und Flieder dufteten.

      »Ja?«, wiederholte der Lehrer.

      Er starrte das unscheinbarste Mädchen an, die mit den glatten blonden Haaren. Die in Huseby wohnte. Die Hübscheste. Die, die nie ein Wort sagte.

      Er hatte sie nie angerührt. »Ich hab sie umgestoßen.«

      Sie wurde rot, denn er starrte sie noch immer an. »Du warst gemein zu ihr?«

      »Ja, ich habe sie umgestoßen. Auf dem Schulhof. Ich tu das nie wieder.«

      »Bitte um Entschuldigung«, sagte der Lehrer. »Entschuldigung«, sagte er.

      Sie deutete ein Nicken an und schlug die Augen nieder.

      »Gut«, sagte der Lehrer. Er war zufrieden. Er setzte den Unterricht fort. Er hörte nicht, dass die Stille weiterging. Sie wuchs und wuchs. Wurde gewaltig. Dann fing sie an zu zittern.

      Die Stille zwischen ihm und ihr.

      Er glaubte, alle könnten das hören, noch viele Jahre danach. Aber er bekam sie nie.

      5

      Er hat lesen gelernt, aber er kann nicht schreiben. Er liest Aftenposten, wenn er aus der Schule nach Hause kommt. Dann liest er Dagbladet, wenn der Vater nachmittags mit der Straßenbahn kommt. Er steht am Fenster und sieht zu, wie sein schöner Vater hinkend den Hang von der Haltestelle hochkommt und in den Melumvei einbiegt. Der Vater hat seine braune Tasche bei sich. Darin hat er Graubrot in einer Papiertüte. Und er hat Dagbladet unter dem Arm. Die wogende Bewegung, elegant und unbeholfen zugleich, als sehe man im Kino ein Kamel. Aber wann sieht man im Kino Kamele? In 80 Tagen um die Welt hatte am Zweiten Weihnachtstag im Colosseum-Kino Premiere. Tante Svanhild hat versprochen, dass er und sein Bruder den Film am kommenden Sonntag sehen werden. Er hat den Verdacht, dass sie in David Niven verliebt ist, der die Hauptrolle spielt. Er hat Bilder von David Niven in der Zeitung gesehen. Ja, David Niven passt zu Tante Svanhild. Sie haben sogar eine gewisse Ähnlichkeit. Die verfeinerten Gesichter, auch wenn Tante Svanhild eine ziemlich große Nase hat.

      Wann hat er entdeckt, dass die Zeitungen das große Fenster zur Welt sind? Die vielen Bilder. Die Texte, die er liest, obwohl er oft etwas Falsches liest. Darüber wird gelacht, aber niemand ist boshaft. Er weiß, dass er in eine liebe Familie hineingeboren worden ist. Und dennoch hat er diese Angst, wenn die Stimmen seiner Eltern lauter werden. Das ist das schlimmste Geräusch von allen.

      Jetzt weiß er, dass Einar Gerhardsen Ministerpräsident ist und Halvard Lange Außenminister. Er weiß die Namen sämtlicher Minister.

      Aber er weiß sie nicht mehr, als er sich hinsetzt, um diese Geschichte zu schreiben. Vierundfünfzig Jahre später. Um im Leben allein sein zu können, wird er Kenntnisse brauchen. Er ist gern ein Betrachter. Er hat gesehen, wie gern die Eltern Bücher lesen, wie sie über Literatur sprechen, als sei das Gelesene wirklich. Wenn er Zeitung liest, ist alles wichtig.

      Am wichtigsten ist, was in der gefährlichen Zeitung steht. Die heißt Orientering. Sie ist nicht wie die anderen. Es gibt sie nicht jeden Tag. Sie bringt die Nachbarn dazu, den Vater vielsagend anzusehen. Dann begreift er, dass auch der Vater nicht wie alle anderen ist. Das hat er schon im vergangenen Herbst bei den Gemeindewahlen begriffen, als er mit einem Pappschild auf der Brust dastehen durfte. Darauf standen etliche Namen, und keiner hatte etwas mit einer der großen Parteien zu tun. Es war nämlich eine freie Wählerliste, auf der die Schauspielerin Liv Dommersnes ganz weit oben stand. Er versuchte, alles aufzuschnappen, was die Erwachsenen untereinander redeten. Er merkte sich Wörter wie Protest und Alternative. Orientering war eine Alternative. In dieser Zeitschrift wurden die Aktivitäten der Regierung kritisch betrachtet. »Der dritte Standpunkt«, über den sein Vater so oft sprach. Weder rechte Sozialdemokraten noch Kommunisten, weder Moskau noch Washington, sondern eine unabhängige sozialistische Position.

      Der Vater war Sozialist.

      Aber das sagte er niemandem. Das wäre dumm gewesen. Sozialisten, das klang wie etwas, das man beim Metzger kaufte. »Vier Frikadellen und drei Sozialisten, bitte.«

      Stattdessen nutzte er die Zeit zum Zuhören. Für den Versuch, zu verstehen. Und er begriff, dass der große Krieg noch nicht lange zurücklag. Den hatten seine Eltern beide erlebt. Die Deutschen hatten sogar auf die Mutter und die Großmutter geschossen, als die beiden über ein Feld bei Fredrikstad gelaufen waren. Und der Vater hätte durchaus umkommen können, wenn die geplante Sprengung der Brücke über den Sarpefoss nach Plan verlaufen wäre. Viele Jahre später erfuhr er, dass sein Onkel, der liebe Onkel Odd, der am Borgenhaugen Herrenkleidung verkaufte, einer der geheimen Widerstandsgruppen angehört hatte. Erst lange nach seinem Tod ging den anderen auf, was er während des Krieges geleistet hatte. Er hatte kein Wort gesagt. Er hatte versucht, sich unsichtbar zu machen. Ja, wichtig war doch gerade die Unsichtbarkeit!

      Das Stichwort war nun NATO. Oder OTAN, wie es komischerweise auf Französisch hieß.

      Er fand das witzig und dachte, Französisch müsse eine Sprache sein, bei der Amerikanisch rückwärts gesprochen werde. Sogar sein Vater, der in diesen Jahren so ernst war, musste lachen.

      Der Vater war gegen die NATO. Die North Atlantic Treaty Organization. Ein Verteidigungsbündnis gegen den Kommunismus. Eine entsetzliche Vorstellung


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