Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


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wegzuschminken.

      »Wir können anrufen und sagen, dass es doch nicht geht«, sagte der Vater. Er war immer loyal, nur dann nicht, wenn es um die Ingenieursfeste ging.

      »Nein, das ist unmöglich.« Die Mutter seufzte. Aber er begriff, dass seine Eltern sich wieder versöhnt hatten.

      Vielleicht, weil er von der Heftigkeit dieser Streitereien erschüttert war, von den hässlichen Wörtern, die diese gütigen Menschen einander sagen konnten, war ihm fast schwindlig, als er die Türklingel hörte und hinlief, um zu öffnen. Da stand sie. Die Lieblingstante Svanhild. Mit dem schwarzen Pelzmantel, den alle Persianer nannten und von dem er später erfuhr, dass er aus den Fellen neugeborener russischer und afghanischer Karakulschafe zusammengenäht war, von Lämmern, die nur einen Tag alt waren, noch feuchtes Fell hatten, nachdem sie in der beschützenden Feuchtigkeit und Dunkelheit ihrer Mutter gelegen hatten. Aber an diesem letzten Dezembermorgen der fünfziger Jahre war es draußen kalt. Bald würde in Europa ein neuer Kälterekord aufgestellt werden, Tante Svanhild hatte rote Wangen, von der Kälte und weil sie sich so freute, wieder dieses Haus in Røa zu besuchen, wo ihre Lieblingsnichte mit ihrem Mann und den beiden Söhnen wohnte. Sie war keine echte Tante. Sie war Großtante. Die Tante der Mutter. Was für ihn aber keine Rolle spielte. Sie hatte all die guten Seiten der Familie der Mutter. Sie war so sehr eine Tante wie jede andere. Er liebte sie. Warum sollte er sie nicht lieben? Diese besondere Vertraulichkeit, vielleicht, weil sie unverheiratet und allein war. Er war auch unverheiratet und allein. Kein blöder Partner mischte sich ein und bat zu Blaubeerpflücken oder Ingenieursessen. Warum also hatte er das gesagt?

      »Mutter und Vater wollten eigentlich nicht, dass du kommst.«

      Er merkte, wie ein Ruck durch ihren Leib ging, als sie da in der Tür stand. Sie hatte eine kleine, in Papier gewickelte Blume und die Brotform mit dem Kellerkuchen bei sich. Am dritten Weihnachtstag war sie zweiundsechzig geworden. Genau sein Alter jetzt, da er das alles aufschreibt. Aber damals war er erst sieben. Er hatte nicht geglaubt, dass es möglich wäre, sie zu verletzen. Er war doch ein Kind. Sie war ein erwachsener Mensch. Seine Eltern kamen angestürzt. Der strenge Blick der beiden. Er wand sich.

      »Das stimmt nicht. Du weißt, dass das nicht stimmt!«

      Aber er sah, dass Tante Svanhild traurig war. Sie glaubte den Eltern nicht.

      Alles wurde so traurig. Wie 1954, als der Vater die Sonnenfinsternis gesehen hatte. Er selbst hatte offenbar im Kinderwagen gelegen und zugeschaut. Die Vögel, die aufhörten zu singen. Der Vater, der es mit der Angst zu tun bekam. Die Natur, die starb. Etwas starb in ihm, als er sah, dass Tante Svanhild mit den Tränen kämpfte. War es wirklich so schlimm, was er gesagt hatte? Dann musste sie doch einsam sein. Schrecklich einsam.

      Und noch hatten sie viele Stunden vor sich. Es war noch lange, bis die Uhr zwölf schlagen würde. Im Radio hörte er Erik Bye »Anna Lovinda« singen.

      »Ihr müsstet euch einen Fernseher anschaffen«, sagte Tante Svanhild. »Bald kommt alles im Fernsehen.«

      In einem verstohlenen Augenblick ging er in sein Zimmer und machte kein Licht. Die Luna 3 hatte Bilder von der Rückseite des Mondes gemacht. Dort war alles ganz tot. Kein Mensch war zu sehen, auch wenn viele das geglaubt, gehofft, gefürchtet hatten. »Der Mond schüttelte sich wie eine verwundete Schlange«, hatten irgendwelche Mönche gesagt, vor achthundert Jahren, vermutlich, nachdem sie gesehen hatten, wie ein Meteorit mit gewaltiger Kraft auf den Mond auftraf. Die Menschen hatten sich ihr Teil gedacht, Generationen lang. Und noch wusste man nicht, was da oben vor sich ging. Er hatte »Anna Lovinda« im Kopf, als er am Fenster stand und die Straßenlaternen im Melumvei und die Schneewehen anstarrte. Das Liebeslied. Ein Mensch kniet vor einer Frau, die unter einem Kreuz auf einem Friedhof am Meer in der Nähe von Westport an der Küste von Neu-England liegt und zu Staub geworden ist. »Anna … Anna Lovinda.« Im vergangenen Sommer war er mit Münzen in der Tasche bei Hvalstrand durch den Regen gegangen und hatte sich in das Café geschlichen, wo die Musikbox stand. Anna Lovindas Geschichte, wieder und wieder. Die verzaubernde Melodie. Der Text mit dem melancholischen Sog. »Es kommt ein Schiff mit gelöschten Laternen …« Jetzt stand er am Fenster in seinem Zimmer und dachte, er könnte Tante Svanhild heiraten, wenn er etwas älter wäre. Niemand verstand ihn so, wie sie ihn verstand. Er fand auch, dass er sie verstehen konnte. Deshalb war es so traurig, dass er sie verletzt hatte. Die Liebe war grausam. Anna Lovinda war erst 20, als sie am 12. April 1872 starb. Und schon da war sie Witwe gewesen! Ebenezer Hunt, der Kapitän, war im selben Jahr mit seinem Schiff untergegangen, er war fünfundzwanzig Jahre alt. »Ja, schlaf unter Lilien, Anna Lovinda, schlaf süß unter Lilien und Laub. Ein Wanderer hat heute Abend sein Haupt entblößt. Ein Gedanke kniet vor deinem Staub.«

      Er hauchte die Fensterscheibe an. Sofort war sie beschlagen. Er schrieb die Buchstaben S und K. Dann zeichnete er um sie herum ein Herz.

      In diesem Moment hörte er den Lärm des Feuerwerks.

      Er wischte rasch weg, was er geschrieben hatte. Draußen auf der Straße ging ein junges Mädchen vorüber, ganz allein. Woher kam sie? Wohin wollte sie? Und nun hörte er Rufe aus dem Wohnzimmer. »Ketil, jetzt musst du kommen! Du musst kommen, hörst du?«

      Die vielen Raketen, die am Himmel barsten, zischten. Es klingt wie Krieg, dachte er.

      Die sechziger Jahre hatten begonnen.

      3

      Albert Camus, über den der Vater schon so viel gesprochen hat, ist mit Francine und den vierzehn Jahre alten Zwillingen in Lourmarin, einer der schönsten Städte Frankreichs, siebzig Kilometer östlich von Avignon. Der letzte Abend mit den alten Francs. Vom ersten Tag des neuen Jahres an wird ein neuer Franc so viel wert sein wie hundert alte. Als Camus das Haus in der Grand’rue de l’Eglise in Lourmarin gesehen hatte, hatte er gesagt: »Das oder keins.« Da hatten er und Francine gemeinsam schon zwanzig Häuser und Bauernhöfe besichtigt. Er musste mehr als neun Millionen alte Francs bezahlen, und der Freund und Poet René Char hatte lakonisch bemerkt: »Bei solchen Gelegenheiten kann ein Nobelpreis nützlich sein.«

      Francine war Pianistin und Mathematikerin. Sie lebten auf einem Grundstück, das früher eine Seidenfarm gewesen war. Ein Geruch nach Wachs. Der Garten breitete sich innerhalb einer niedrigen Ummauerung aus, es gab frischgepflanzte Olivenbäume, Rosen und Rosmarin. Nach all den Jahren der Seitensprünge und nachdem herausgekommen war, dass Camus noch immer eine ernsthafte Beziehung zu der in Spanien geborenen Schauspielerin Maria Casarès unterhielt, hatte Francine resigniert. Den letzten Tag der fünfziger Jahre feierten sie auf althergebrachte provençalische Weise mit dreizehn Desserts, inklusive einer Fougasse, Apfelsinen, Feigen, Mandarinen und Mandeln. Camus hatte zu Francine gesagt: »Du bist meine Schwester, du ähnelst mir, aber seine Schwester sollte man nicht heiraten.«

      In letzter Zeit, nachdem er mit einer Art Resignation den Nobelpreis entgegengenommen hatte, hatte er sich in einer existenziellen Krise befunden. Nichts von dem, was er früher gedacht und geschrieben hatte, konnte ihm helfen. Seine jahrelange Behauptung, der Welt fehle es an Sinn und Zusammenhang, war nun eine Wahrheit, von der er hart getroffen wurde. Er konnte nicht wie die Hauptperson in La peste handeln, ohne an die persönlichen Konsequenzen zu denken. Das Gefühl der Entfremdung, über das er in irgendeiner Form fast immer schrieb, verstärkte sich in dieser Zeit, in der er noch immer ein konfliktreiches Privatleben mit mehreren unbeendeten Beziehungen hatte, während er vor allem auf dem neuen Grundstück in der Provence sein wollte. »Ich kann nicht lange mit Menschen zusammenleben. Ich brauche ein wenig Einsamkeit, ein Stück Ewigkeit.« Er arbeitete an dem Roman Le premier homme, der erst fünfundvierzig Jahre später veröffentlicht werden sollte. In seinem Tagebuch schreibt er: »Man kann ein Wesen erobern, weil man selbst erobert worden ist. Und es stimmt, dass ich gerade in diesem Augenblick ein Bedürfnis nach der Zusammengehörigkeit mit jemandem hatte, die du mir geschenkt hast. Und das ist der Grund, aus dem dein Verschwinden mich ebenso verletzt hat wie deine Lüge. Noch einmal eine kurze Zeit des Pessimismus, dann darf das Unglück leuchten: Dann werde ich wieder ich selbst sein.«

      Der Neffe seines Verlegers, der linksorientierte Hedonist Michel Gallimard, ist mit seiner ganzen Familie mit von der Partie. Janine, Michel und Anne. Sie sind in einem Facel-Vega HK 500


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