Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad

Die Welt, die meine war - Ketil Bjornstad


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Ketil Bjørnstad

      Mit Dank an Kari Spjeldnæs, Øyvind Pharo, Trygve Åslund, Mads Nygaard, Vidar Strøm Fallrø, Mona Ek, Vegard Bye, Even H. Kaalstad, Therese Moe Leiner, Even Råkil, Line Noreng Frost, Anne Margrethe Aandahl Hummelsgaard, Asbjørg Engebø Rystad, Siv Helen Kjelstrup Andersen, Bjørg Ringstad, Siv Kvarekvål, Lilly Anne Hove und viele, viele andere im Aschehoug Forlag.

      Besonderer Dank geht an Tine Kjær, Anne Grosvold, Knut Gørvell, Catharina Jacobsen und Tormod Bjørnstad.

      1960

      1

      Als er mehr als fünfzig Jahre später Abschied von ihr nimmt, ist er es selbst, der den letzten Schlüssel zum Raum der Trennung hat. Obwohl es eine junge Schwesternhelferin aus Lettland ist, die ihm die Tür zum Kühlraum der Kapelle im Pflegeheim öffnet. Er ist den ganzen Weg aus China gekommen. Aber er kommt zwei Tage zu spät. Dennoch durfte sie dort liegen bleiben. Seinetwegen. Sie wartet auf ihn, wie sie so oft schon gewartet hat. Sie haben ihr ein weißes Band um das Gesicht geknüpft, damit sich ihr Mund nicht öffnet. Sie sieht aus wie ein Kaninchen im Kindertheater. Dennoch ist sie seine Mutter. Als er sie auf die Stirn küsst, merkt er, dass sie eiskalt ist. Unter den fast geschlossenen Augenlidern ahnt er ihre graublauen Augen. Als ob sie ihn anlächelt. Noch jetzt. Als ob sie zum letzten Mal versucht, seinen Blick zu erwidern.

      »Du warst eine gute Mutter«, sagt er endlich, ohne dass die Schwesternhelferin, die sich diskret auf den Gang zurückgezogen hat, es hören kann. Dann küsst er sie ein letztes Mal auf die Stirn. Ein allerletztes Mal. Er merkt, dass von seinem Auge eine Träne fällt und ihre Wange trifft. Die Träne ist so groß, dass sie zu ihrem Mundwinkel rollt, wo sie innehält. Ist seine Mutter eigentlich tiefgefroren, so, wie sie dort liegt? Wird der Tropfen jetzt auch zu Eis werden? Er berührt die Träne, noch ist sie feucht. Er wischt sie mit einem Papiertaschentuch weg, als ob er die Tote trösten wolle.

      Trennung ist Erfahrung. Das Erste, was er nach seiner Geburt getan hatte, war zu weinen. In all den Jahren, die darauf folgten, verbarg er das Weinen in sich, als ob es eine Schande wäre. Es war die erste Gefühlsäußerung, die er der Welt gezeigt hatte. Es war auch die tiefste. Diese Gefühle konnten in ihm aufbranden, wenn er an einer Straßenbahnhaltestelle oder auf einem Bootsanleger stand und sich von jemandem verabschieden wollte. Er konnte an die Existenz dieser Gefühle immer dann erinnert werden, wenn ein Flugzeug abhob. Wenn er weinte, nachdem er ein Buch gelesen, ein Theaterstück gesehen oder eine Kinovorstellung besucht hatte, lag das meistens daran, dass Menschen voneinander getrennt worden waren. So war auch das Weinen seiner Tochter, wenn sie sich von einem Menschen, einem Tier oder einem Gegenstand trennen musste, die für sie etwas Besonderes waren.

      Eine Welt geht unter, wenn ein Kind geboren wird. Die Welt des Kindes und die der Mutter. Nie mehr wird das Kind später im Leben eine so umschließende Fürsorge erleben. Niemand möchte einen solchen Schutzzustand verlassen. Er wog viereinhalb Kilo, als er den Kampf aufgeben musste, drinnen bleiben zu dürfen, es war an einem Tag Ende April 1952. Der Stichtag war schon um viele Wochen überschritten. Seine erste Erfahrung im Leben war unerwarteter und brutaler als alles, was er später erleben würde. Und obwohl er sich an diesen Augenblick nicht erinnern kann, hat dieses Erlebnis sich in seinem Nervensystem festgesetzt. Seine gesamte Kindheit hindurch und bis weit in seine Jugend hinein konnte er es nicht ertragen, von seiner Mutter verlassen zu werden. Wenn sie kurz zum Einkaufen wegmusste, schloss er die Arme zu einer eisernen Klammer um ihre Oberschenkel, und dabei heulte er so sehr, dass es von den Wänden widerhallte. Einige kurze Sekunden lang konnte sie sich nicht rühren. »Aufhören, Ketil! Aber nun hör doch schon auf! In zehn Minuten bin ich ja schon wieder da!«

      Dann ging sie.

      Und er stand da in dem dunklen Gang. Er weinte. Die Haustür war abgesperrt, und er hatte keinen Schlüssel. Dann lief er in die Küche, wo er sie durch das Fenster sehen konnte. Er kratzte mit den Nägeln über das Glas. Das muss sie doch hören, dachte er. Er schrie lauter, als er es für möglich gehalten hätte. Aber sie drehte sich nicht um. Sie lief mit ihrem Einkaufskorb in Richtung Randklev. Manchmal stand sein Bruder neben ihm. Gemeinsam konnten sie sehen, wie die Mutter hinter der Kurve verschwand. Dann weinten sie beide.

      Oft, wenn ich zurückblicke, denke ich nicht an mich selbst als ich, sondern als er. Zugleich war ich so sehr ich in den Situationen, in denen ich in meiner Erinnerung als er auftrete. Die Erinnerung ist ein eigenes Individuum in meinem Körper. Sie hat dasselbe Bedürfnis nach Schutz wie die Person, die ich ich nenne. Als der große Aufbruch stattfand, war ich zweifellos ich selbst. Aber später dachte ich an mich als er. Es war ein anderer, der das erlebt hatte.

      Aber diese Person war auch ich.

      Er war ich. Und ich war er.

      2

      Zu Silvester 1959 hatten sich alle im Melumvei im Wohnzimmer versammelt. Tante Svanhild war auch da. Sie hatte einen Kellerkuchen in einer Brotform mitgebracht. Bis sie geklingelt hatte, hatte der Vater seine Zeitung gelesen. Der Vater hatte gesagt, dieser Abend sei eine Zeitenscheide. Aber der Sohn wusste nicht, was eine Zeitenscheide war. Bei diesem Wort wurde ihm unbehaglich zumute. Weil da offenbar etwas war, das er hinter sich zurücklassen sollte. Er hasste es, etwas wegzuwerfen.

      Draußen war finstere Nacht. Aber im Zimmer brannten alle Kerzen, auf den Fensterbänken, auf dem Kaminsims und auf den Tischen. Die Mutter hatte sogar auf den Nähmaschinentisch und neben die Fotografien, die sie retuschierte, Kerzen gestellt. Er fand es schön, dass sie Kerzen so liebte. Sie konnte davon nicht genug bekommen. Und deshalb konnte er das auch nicht. Sie hatten Blätterteigmuscheln mit Fischpudding in Sahnesoße gegessen. Er hatte roten Saft getrunken. Er hätte satt und glücklich sein können, aber er hatte »einen Kloß im Hals«, wie seine Mutter das immer nannte, wenn sie ganz besonders unglücklich war. Er hatte alles ruiniert. Das konnte er sehen. Er sah, wie sie sich zusammenriss. Tante Svanhild war seine Lieblingstante. Sie wohnte in Frogner, in der Gabelsgate, und sie hatte seit vielen Monaten schon Fernsehen, obwohl der norwegische Rundfunk NRK offiziell noch gar nicht sendete. Aber es gab Testprogramme. Die Olympischen Spiele in Rom sollten übertragen werden, und sicher auch die Winterspiele in Squaw Valley. Sogar Finnmark sollte innerhalb weniger Jahre an das Fernsehnetz angeschlossen werden, vielleicht schon 1969. Ihm kam das unendlich weit weg vor. Aber Tante Svanhild versuchte, optimistisch zu wirken, obwohl er sicher war, dass auch sie am liebsten geweint hätte. Sie erzählte davon, dass die Sendemasten von Berg zu Berg aufgestellt werden mussten, durch Gudbrandsdalen und Østerdalen, dann weiter durch Trøndelag, wo es immer wieder zu schrecklichen Erdrutschen kam, ganz zu schweigen von Westnorwegen, zwischen den verschlungenen Fjorden und bei den vielen Schafzüchtern in verdreckten Kleidern, die noch nicht einmal anständig Norwegisch reden gelernt hatten. Sie sprach tapfer über ihre beiden neuen Idole Kari Borg Mannsåker und Erik Diesen, die die Testsendungen moderierten. Sie seien so zuverlässig und ruhig und gebildet, sagte sie. Die Redaktion für Fernsehspiele hatte zudem zehn Schauspieler verpflichtet, und man sollte einen Anspruch auf fünf Minuten Übertragung von Sportveranstaltungen haben, auch wenn der Sportverband überaus skeptisch war.

      Er befand sich tief in seinem eigenen Kopf und hätte ihn gern gegen eine Wand geschlagen. Mal um Mal, immer wieder, bis es wehtat. Und selbst dann wäre er noch immer nicht gestraft genug. Warum hatte er das gesagt?

      Die Eltern hatten sich gestritten. Es war erst vier Stunden her. Eine ihrer vielen schrecklichen Auseinandersetzungen über Dinge, die er nicht begriff. Ein Essen für Ingenieure. Die vielen dummen Mannsbilder, die die Mutter verachtete. Sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben, nicht mit ihnen reden, nicht zwischen ihnen sitzen. Die langweiligen Gespräche über den Ausbau der Wasserkraftwerke, die Frauengeschichten, die immer ein bisschen zu weit gingen. Aquavit und Cognac. Die Mutter wollte das nicht! Damit basta. Ihr Vater war zudem Trinker gewesen. Hatte sich auf einem Kreuzfahrtschiff zu Tode gesoffen. War über Bord gefallen. Der verletzte Ausdruck im Gesicht des Vaters. Die Mutter, die bald in Tränen ausbrechen und sagen würde, sie wolle sich irgendwo ein Zimmer mieten. Wenn sie an diesen Punkt gekommen waren, legte er sich immer mit einem Kissen über dem Kopf auf das Sofa. Dennoch konnte er hören, was sie sagten, oder schrien. »Und dann


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