Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad
Vorwort
Es gehört zu meinen glücklichsten Kindheitserinnerungen, Mutter unten in Cammermeyers Buchhandlung (die später in Tanum umbenannt wurde) auf Karl Johan zu besuchen. In der Welt der Bücher auf Schatzsuche zu gehen. Ein nagelneues Buch aus dem Bücherregal zu ziehen, daran zu schnuppern und den Geruch von Papier und Druckerschwärze in mich aufzunehmen, behutsam eine Seite nach der anderen umzublättern, um festzustellen, ob das ein Buch für mich sein könnte. Mit Mutter und ihren wunderbaren Kolleginnen zu sprechen, den schönen und witzigen Damen wie Jynge, Krokann und Frau Lorentzen – und den enthusiastischen jungen Herren wie Widmark und Pål Christian. Alle erzählten mir von Büchern, die ich lesen müsste, und das tat auch Kari Forfang Grimnes später, beim Konkurrenten Norli in der Universitetsgate. Und Finn Jan Henrichsen im Bokladen in Homansbyen. Wie Rønnaug und Rolf es jetzt tun, im Buchladen Ark hier in Nordstrand. Bücher, die ich nicht versäumen dürfe. Bücher, die in ihrem eigenen Leben wichtig waren, und die auch in meinem wichtig werden würden. Ich habe euch so vieles zu verdanken!
Jetzt, da Mutter tot ist, kommen diese Erinnerungen näher an mich heran als je zuvor. Wenn ich mit Freunden spreche, wird deutlich, dass diese Erfahrung nur natürlich ist, wenn man älter wird. Man sieht die Vergangenheit in einem anderen Licht. Was früher selbstverständlich war, verwandelt sich in Erkenntnisse oder Geschichten.
Als ich »Mein Weg zu Mozart« schrieb, merkte ich, welche Befreiung es war, zum ersten Mal in einer angenäherten Romanform über mein eigenes Leben zu schreiben. Seit ich in den siebziger Jahren angefangen hatte, Hans Jæger zu lesen, hatte ich das vermutet. Aber worüber sollte ich denn schreiben, damals, als ich mittendrin stand ohne irgendeine Distanz? Zeit gibt Distanz. Aber Zeit gibt auch Nähe. Neue Erkenntnisse. Um ein Lied meines lieben Freundes Ole Paus ein wenig abzuwandeln: »Das hier wird jetzt langsam zu einem Leben, das hier fängt an, einem Roman zu ähneln.«
Die Idee war plötzlich da. Ich dachte an meine eigene Geschichte. Aber ich dachte auch an die Geschehnisse dort draußen in der weiten Welt. Alles, was in diesen Jahren passiert ist, hat dazu beigetragen, mich zu formen, bis heute. In meiner Erinnerung hat jedes Jahrzehnt eine Farbe. Die sechziger Jahre sind gelb. Die siebziger Jahre sind blaugrau. Die achtziger Jahre sind braun. Die neunziger Jahre sind fast weiß. Und die nuller Jahre sind wieder blaugrau, genau wie die siebziger. Während die Jahre von 2010 bis heute … Was, wenn ich über jedes dieser Jahrzehnte einen Roman schriebe, dachte ich. Einen Roman, der eine persönliche Erinnerung und zugleich eine Erzählung über die großen Ereignisse in der Welt und in Norwegen wäre, betrachtet von einem subjektiven Standpunkt aus. Ich habe diese Idee an Freunden und Kollegen getestet. »Das musst du unbedingt«, sagten sie fast einstimmig. »So erinnern wir uns doch an unsere Leben. An das Große und das Kleine, das zu einer einzigen Erinnerung verschmilzt.«
Ich dachte an das Lied »The World I Used To Know« von Rod McKuen. Ich hatte es auf Schallplatte, in der phantastischen Version von Olle Adolphson: »Die Welt, die meine war«. In meiner allerersten Gedichtsammlung, »Alene ut« (Allein aus dem Haus) gibt es ein Gedicht, das so heißt: »Verden som var min.« Natürlich, dachte ich. Hier ist der Titel für meinen Romanzyklus. Etwas, das war, das zugleich aber stark in meiner Erinnerung fortlebt. Jedes Buch der Serie sollte heißen wie das darin beschriebene Jahrzehnt: sechziger Jahre, siebziger Jahre, achtziger Jahre, neunziger Jahre, nuller Jahre, Das letzte Jahrzehnt.
Ich konnte es so deutlich vor mir sehen, als ich mit dem ersten Buch begann. Die sechziger Jahre. Das Jahrzehnt, in dem ich mich langsam von meiner Kindheit losriss. Mein eigener kleiner Kampf um das Dasein, während die großen Ereignisse ihren Lauf nahmen: Der Tod von Camus, die Hinrichtung von Chessman, der U-2-Skandal, die Kubakrise, die Beatles, der Algerienkrieg, Marilyn Monroe, die Kennedy-Morde, der Mord an Martin Luther King, die Rassenunruhen in den USA, der Granatenmann hier in Norwegen, die Hippiezeit, der Vietnamkrieg, alle Filme, die Musik, die Bücher. Die Grenzen, die gesprengt wurden, und die indirekt dafür sorgten, dass ich nach Paris fuhr auf Suche nach der Liebe und nach allem, was nicht von mir erwartet wurde.
Das hier sind die sechziger Jahre. Das gelbe Buch. Das gelbe Haus im Melumvei, in dem ich aufgewachsen bin, ehe wir dann in das grüne Haus draußen in Bærum und noch später in das weiße Haus am Frogner plass zogen. Danach werde ich über die siebziger Jahre und über die große Befreiung im Schatten des Kalten Krieges schreiben, über die falschen und die richtigen Autoritäten, die entscheidende Begegnung mit Ole Paus, mit Liedermachern, Jazzmusikern, Schriftstellern und Malern. Den Weg von der klassischen Musik in der Aula der Universität zu den dunklen Kellern von Club 7, und die Begegnungen mit den Menschen, die in meinem Leben entscheidende Bedeutung gewinnen sollten. Über den neuen Feminismus, den Kampf gegen die EG, die politischen Kriege mit der AKP (m-l) im Zentrum des Sturms. Die Reisen, die Konzerte, die Bücher, das Leben am Meer auf Sandøya vor Tvedestrand. Die Organisation Zukunft in Unseren Händen. Die Zusammenarbeit mit Musikern und Sängern, von Lill Lindfors und Cornelis Vreeswijk bis zu Olle Adolphson und Radka Toneff auf »Leve Patagonia«. Police. New Wave. Den Kampf um Mardøla und gegen den Ausbau des Alta-Flusses. Das Festival auf Kalvøya. Die Musik, die sich veränderte. Danach die achtziger Jahre. Das Jahrzehnt Ronald Reagans. Aber auch das von Kåre Willoch. Die Treholt-Affäre, die großen Friedensdemonstrationen in Europa, den USA und der Sowjetunion. Meine eigenen Reisen nach Japan, New York und San Francisco. Die unangenehme Begegnung mit Mike Tyson vor dem Boxring in Las Vegas. Die Katastrophe von Tschernobyl, die Yuppiezeit, das wachsende Umweltbewusstsein und der Fall der Berliner Mauer. Die neunziger Jahre, als König Olav starb, während Präsident Bush den Golfkrieg startete, als die Sowjetunion sich auflöste, und als auch mein eigenes Leben durch und durch umgeworfen wurde. Die Kritik an der Männerkultur. Die grauenhaften Vergewaltigungen in der Gegend hinter dem Schloss. Der bittere Streit um die EU, der wieder auflebte. Die Begegnungen mit Bangladesh, mit Indien, mit dem Dalai Lama in Dharamsala, während die Angst vor Zukunft und Jahrtausendwechsel in allen Ländern wuchs. Die Jahre in Paris. Die »Reise nach Gallien« während der Fußball-WM mit meiner phantastischen Ehegenossin Jacobsen als Sparringpartnerin. Und danach die beiden letzten Bücher, in denen meine Eltern wieder stark vertreten sein werden, aber auf eine ganz andere Weise als in diesem. Mir ist noch nicht deutlich bewusst, was ich auf persönlicher Ebene aus den Ereignissen der letzten Jahre mitnehmen werde. Die entscheidende Reise nach China, zum Beispiel. Aber ich hoffe, dass die Auswahl an persönlichen Dramen und Ereignissen einen politischen Hintergrund deutlich macht, der für mich immer sichtbarer wird, jetzt, da der Kalte Krieg wieder auflodert und die Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa ertrinken. Beim Schreiben denke ich an die Gemälde von Leonard Rickhard. An seine Fähigkeit, den Menschen in eine Landschaft zu stellen. Ich denke an Camus. An Vonnegut. An Bellow. An die Einsamkeit, die wir alle in uns tragen. An die Gemeinschaft, deren Teil wir zu werden versuchen. Die Geschichten über ein Leben. Die Geschichten über eine Zeit.
Oslo,