LARP: Nur ein Spiel?. Daniel Steinbach

LARP: Nur ein Spiel? - Daniel Steinbach


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Kleidung sichtbar gemachter Ausbruch aus normalen Rollen und Mustern war. Doch während der Karneval in repressiven Zeiten Ausgelassenheit feierte, geht es im Live-Rollenspiel vor allem um das, was meiner Überzeugung nach vielen Menschen in den postmodernen Wohlstandsgesellschaften fehlt: Abenteuer und Geheimnis.

      WARUM LIVE-ROLLENSPIEL IN DER BILDUNGSARBEIT ?

      Wenn ich das Live-Rollenspiel auch als Lern-Chance sehe, so bleibt es für mich doch zuerst ein Spiel, und wie jedes Spiel verliert es durch Pädagogisierung seinen Reiz und Zauber. Wer das Live-Rollenspiel konsequent pädagogisieren wollte, würde es meiner Ansicht nach zerstören – so wie alle Kunst und Religion durch Moralisieren und Pädagogisieren beschädigt wird. Aber gerade wenn die pädagogische Absicht nicht im Vordergrund steht, ist das Live-Rollenspiel auch ein Lern-Raum. Es geht freilich um ein Lernen aus Erfahrungen, das nicht in geplanten Lernschritten angegangen wird, sondern – manchmal und nicht für alle Mitspielenden – bei einer nachträglichen Reflexion bewusst werden kann.

      Live-Rollenspiel ist und bleibt für mich zuerst ein Vergnügen für alle Beteiligten, ein zweckfreies und zwangloses Spiel mit der Lust, sich in andere Rollen zu begeben, noch einmal Kindheitsträume auszuleben, sich an Lagerfeuerromantik zu erinnern und sich in ausgefallene Gewandungen zu verkleiden. Aber von Kindheit an lernen wir ja nicht nur bewusst, sondern auch spielend.

      Was sind nun für mich die wichtigsten Lern- und Erfahrungs-Chancen in einem gut konzeptionierten Rollenspiel?

      Zu den Grundfähigkeiten, Kernkompetenzen und Schlüsselqualifikationen, die jede und jeder lernen muss, freilich meist unbewusst und ungeplant, gehört, mit wechselnden und sehr unterschiedlichen Rollen zu leben, mit privaten wie mit professionellen.

      Eine solche Rolle zu spielen oder wahrzunehmen, bedeutet keineswegs, sich zu verstellen, gar zu verbiegen, nicht echt und authentisch zu leben. Eine Rolle ist in diesem Sinn ein durch verschiedene Beziehungen, Verantwortlichkeiten und Situationen vorgegebenes Aufgabenprofil, und den mir in dieser Rolle gestellten Aufgaben möchte ich möglichst gerecht werden. Ich war Sohn und bin Vater, Ehepartner und Freund, Kollege und Vorgesetzter, Wissenschaftler und Märchenerzähler etc. Ich will diese mir vom Leben für eine bestimmte Zeit aufgegebenen Rollen ernst nehmen, aber ich darf nicht in ihnen aufgehen – ich bin mehr und anderes als meine Rollen. Der Polizist oder Lehrer, der immer und überall Polizist oder Lehrer ist, selbst am Mittagstisch, der Vorgesetzte, der immer nur in seiner Machtposition auftritt, sie alle sind für ihre Mitmenschen äußerst anstrengend. So wichtig und befriedigend die Rolle als Vater oder Mutter ist, es ist wichtig, sie lassen zu können, wenn die Kinder erwachsen werden und aus dem Haus gehen. Gerade wenn mein Beruf für mich mehr ist, als Job und Verdienstmöglichkeit, wenn ein Ehrenamt mich ausfüllt und glücklich macht, ist es notwendig, nicht mein Selbst, meine Seele ganz daran zu binden, ein Stück Distanz zu wahren – selbst und gerade zu den Rollen, die für mich besonders wichtig, befriedigend und dankbar sind.

      Nun entsteht Rollendistanz nicht einfach durch die Einsicht in deren Notwendigkeit, sie muss geübt werden. Sicher nicht die einzige, eher sogar eine ausgefallene, aber dennoch gute Übung in Rollendistanz ist nach meiner Einschätzung und Erfahrung das Live-Rollenspiel.

      Zunächst einmal muss ich in eine neue und ganz andere Rolle schlüpfen; schon dabei spüre ich, wie leicht oder schwer mir ein Rollenwechsel fällt – sowohl ins Spiel hinein wie aus dem Spiel zurück in meine Alltagswelt. Diesen Rollenwechsel haben wir auch nach vielen Urlauben oder nach intensiven Seminaren aber er ist dann nicht so klar und ausdrücklich benannt wie im Live-Rollenspiel.

      Beim Live-Rollenspiel erlebe ich aber nicht nur zu Beginn oder am Ende des Spiels die wechselnden Rollen, auch im Verlauf des Spiels ist – zumindest für den guten Spieler – immer eine gewisse Distanz zu der gewählten Rolle erforderlich. Natürlich soll ich die gewählte Rolle stimmig und konsequent spielen, ich verderbe mir und anderen die Spielfreude, wenn ich nicht ernsthaft spiele, meine Rolle durchhalte, immer wieder aussteige in die berüchtigten Out-time-Blasen. Und doch muss ich immer soviel innere Distanz bewahren, dass ich in dem, der in-time, also im Spiel, mein erbitterter Gegner ist, doch out-time, also in der Alltagswirklichkeit, einen Mitspieler sehe, einen, der mit mir das gleiche Hobby teilt. Im Spiel darf mein Spielcharakter tödlich beleidigt sein, aber äußerst unangenehm wird es, wenn jemand das Spielgeschehen persönlich nimmt, wenn er wirklich wütend oder gekränkt reagiert – was leider viel zu oft vorkommt.

      Konflikte auf Rollen und Konfliktfelder zu begrenzen, Sach- und Beziehungsebenen auseinander zu halten, kann ich zwar bei jedem Spiel üben, bei Mensch ärgere dich nicht, Monopoly oder Fußball, aber schon durch die Spiellänge bietet das Live-Rollenspiel besondere Erfahrungsmöglichkeiten und Lernchancen.

      Schließlich möchte ich noch einen Gedanken zur Rollendistanz anfügen, der vielleicht nur für Menschen mit einer religiösen Ausrichtung und Sensibilität nachvollziehbar ist. In den meisten sogenannten Hochreligionen wie Judentum, Christentum und Islam, Hinduismus und Buddhismus gehört zu den spirituellen Grundfähigkeiten die Unterscheidung von Leib und Seele. Nun sind das missverständliche Begriffe, oft belastet durch eine sehr negative Einschätzung unserer jetzigen Lebenswelt und – zumindest in der christlichen Tradition – einer übergroßen Skepsis gegenüber der menschlichen Sexualität. Leib und Seele sind aber nicht gegensätzliche, ja feindliche Wirklichkeiten in unserem Dasein, sondern sie sind miteinander verbunden, aufeinander bezogen, aber doch unterscheidbar. Leib ist nicht einfach Körper, sondern die konkrete Lebensgestalt, die Biografie, wir könnten auch sagen: die Summe der uns vom Leben aufgegebenen Rollen. Seele hingegen meint einen Kern, der nicht aufgeht in unseren Rollen, in der christlichen Tradition auch die einmalige Individualität, die uns in allen Rollen bleibt, die Würde, die nicht abhängt von den Rollen und Funktionen, die wir ausüben, märchenhaft gesagt: die Königskindschaft jedes Menschen. Und etwas davon kann in einem guten Rollenspiel zumindest erahnbar werden: christlich betrachtet ist mein Leben die Wahrnehmung wichtiger Rollen, die mir Gott in Seinem schöpferischen Spiel mit der Welt zugewiesen oder ermöglicht hat. Dieses Spiel hat seinen Wert in sich, es ist nicht einfach Bewährungsprobe, Aufstiegchance oder gar Irrweg. Aber dieses Rollenspiel des Lebens ist doch nicht die letzte Wirklichkeit, die „ewige Heimat“ – keine Rolle, die wir übernehmen, spielen wir auf ewig.

      Wenn auch für mich das Einüben von Rollendistanz die interessanteste Chance des Live-Rollenspiels ist, so eröffnet es doch auch noch ganz andere Chancen, aus spielerisch gemachter Erfahrung zu lernen. Und zumindest ein Rollenspiel mit etwas anspruchsvollerem Drehbuch oder Plot ist auch eine sehr unaufdringliche Übung zur Kooperationsfähigkeit, gerade auch mit denen, die ganz anders ausgerichtet sind als ich.

      Es gibt ja auch Live-Rollenspiele, in denen es allein oder ganz vorrangig um gespielte kämpferische Auseinandersetzung geht. So reizvoll dieses Element sein kann, Rollenspiele, bei denen nur „gekämpft“, also mit harmlosen Latex-Schwertern aufeinander eingeschlagen wird, finde ich eher langweilig. Soll ein Rollenspiel mich wirklich reizen, so geht es (wie bei Tolkiens Herr der Ringe) mehr um das Zusammenspiel unterschiedlicher Charaktere und Begabungen als um die Allmachtsphantasien von „Einzelkämpfern“ oder „Gangs“. Schon in einem Gefecht ist das Miteinander von Schwergepanzerten, Plänklern und Bogenschützen entscheidend für den Erfolg. In stärker Plot-orientierten Spielen ist es aber unabdingbar für eine erfolgreiche Lösung, dass „kriegerische“ Fähigkeiten ergänzt werden durch ganz andere Möglichkeiten und Begabungen.

      Und darum ist es, auch mit Teams, die beruflich zusammenarbeiten, eine ungewöhnliche, dadurch oft auch neue Möglichkeiten freisetzende Erfahrung, sich in einem kleinen Live-Rollenspiel in ganz anderen als den üblichen Rollenzuweisungen zu ergänzen und zu unterstützen.

      Auch die Kontakt-Fähigkeit wird im Live-Rollenspiel auf originelle Weise gefordert und geübt. Im Spiel betrete ich eine fremde Welt, mit der ich mich und in der ich mich bekannt machen muss. Wenn ich nicht auf die Mitspielenden zugehe, bleibe ich am Rande. Wenn ich mich und meine Interessen nicht einbringe, werden andere über mich bestimmen. Ich muss Gleichgesinnte finden, aber auch zu Fremdartigen Kontakte knüpfen: wie redet man etwa mit einem Ork (übrigens eine gute Übung für Eltern mit pubertierenden Söhnen)?


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