Emma erbt. Armand Amapolas

Emma erbt - Armand Amapolas


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genauso sonnig wie heute. Es war der schönste Tag des Urlaubs. Also eigentlich: der einzig schöne, wie ich damals fand. Und jetzt muss ich was suchen.«

      »Suchen? Was müssen Sie suchen?« In Hollerbecks Stimme klang eine Spur von Entsetzen mit.

      »Ein Amulett. Ich habe seinerzeit ein Amulett hier versteckt.«

      »Ein Amulett?« Offenbar hatte Hollerbeck seine Smartness jetzt völlig verlassen. Er starrte sie mit offenem Mund ungläubig an, als wäre sie verrückt geworden.

      »Sage ich doch. Eine Halskette, die mir mein erster Freund geschenkt hatte. Also, ein Junge, der glaubte, mit mir zu gehen. Ich hab damals, als ich lag und döste, mit ihm Schluss gemacht. Hat er natürlich nicht gewusst. Ich hab ihm später erzählt, ich hätte das Amulett beim Schwimmen verloren. Er war untröstlich, der Arme.«

      »Ich hätte nie gedacht, dass Sie so gemein sein können. Sie sind ja eine Männerfresserin! Aber Sie wollen das Amulett jetzt im Ernst nicht suchen, oder?«

      »Oder doch. Schon allein, damit Sie sehen, dass ich nicht gemein bin, sondern sentimental.«

      Und schon fing Emma an, Steine an die Seite zu zerren. Steinblöcke, die den Zugang zu der zerfallenen Hütte versperrten.

      »Was tun Sie da? Das ist hier ein Naturschutzgebiet. Kennen Sie nicht den Spruch: Nehmen Sie nichts als Fotos mit und hinterlassen Sie nichts als Fußabdrücke?«

      »Sehen Sie, ich habe etwas wieder gutzumachen. Vor zwanzig Jahren habe ich hier widerrechtlich frevelnd etwas hinterlassen. Das hole ich jetzt zurück. Auf dass die kanarische Natur wieder ihre wohlverdiente Ruhe finde!«

      Währenddessen hatte Emma schon einen Haufen Steine beiseite geräumt. Allmählich tat sich der Blick ins Innere der zerfallenen Hütte auf.

      »Sie wollen doch da wohl nicht reinkrauchen! Lassen Sie das! Die Decke könnte einstürzen und Sie begraben. Wie soll ich hier Hilfe holen?«

      »Die brauchen Sie nicht. Sie sind doch ein starker Mann. Und wenn mir vor zwanzig Jahren nichts zugestoßen ist, wird‘s heute auch gut gehen.«

      Und schon hatte sich Emma bäuchlings zwischen den Steinen hindurch in die Enge der alten Schutzhütte gezwängt.

      »Iiiiihhh!«

      Was war das? Ein Schuh? Ein Schuh. Aber nicht nur ein Schuh. Während sich ihre Augen an das Dunkel langsam zu gewöhnen begannen, tastete Emma den Gegenstand vor sich ab. Jenseits des Schuhs fühlte sie etwas Ledrig-Weiches, etwas, das auf Druck nachgab. Ein Tier? Eine Echse? Quatsch, so große Echsen, das wusste sie, lebten hier nicht. Und sie trugen bestimmt keine Schuhe. Emma zog die Hand spontan zurück. Dann streckte sie sie vorsichtig wieder aus und betastete das, was da länglich vor ihr lag. Stoff. Stoffreste, und darunter – konnte das sein? – ein Körper! Nochmal schrie sie gellend auf.

      Hinter ihr schob Hollerbeck jetzt eilig weitere Steine beiseite. Das Licht wurde besser. Und Emma verstand: kein Zweifel, sie hatte eine Leiche gefunden.

       6. Kapitel

      »Au!«

      Emma trat mit einem Fuß Hollerbeck mitten ins Gesicht. Seine Nase blutete.

      »Das tut mir Leid. Das wollte ich nicht. Legen Sie sich flach auf den Boden und beugen Sie den Kopf in den Nacken!«

      Als hätte sie eine Schlange gebissen, hatte Emma sich ruckartig zurückgeschoben – und dabei Hollerbeck, der hinter ihr emsig Steine beiseiteschob, getroffen. Immerhin hatte das den, fand sie, angenehmen Nebeneffekt, dass sie schlagartig wieder klar denken konnte. Die Hysteriegefahr war gebannt. Fürs erste.

      Sie hatten eine Leiche gefunden!

      Eine Leiche, die offenbar schon länger hier lag. Das, was an Körper erkennbar war – die Hände, der Kopf – war, soviel ließ das Dämmerlicht erkennen, so verschrumpelt wie Ötzi, die antike Gletscherleiche. Vertrocknet. Aber so alt wie Ötzi war der Mann offenkundig nicht – Kleidung und Schuhgröße deuteten klar auf männliche Leiche. Der Stoff jenseits des Schuhs entpuppte sich als Funktionshose aus jenem leichten, wasserdichten Stoff, der zur globalen Wanderausrüstung des frühen 21. Jahrhunderts gehörte. Nur die Farbe war unidentifizierbar.

      »Was machen wir jetzt?« wollte Emma von Hollerbeck wissen, als dessen Nase nicht mehr blutete.

      »Ich denke, wir sollten die Steine wieder zurechtrücken und verschwinden.«

      »Und vergessen, was wir hier gefunden haben?« Das erschien Emma unmöglich.

      »Zumindest nicht darüber reden.« Hollerbecks Stimme klang weinerlich. Nasal. Er drückte sich noch immer ein Papiertaschentuch vors Gesicht.

      »Das ist nicht Ihr Ernst. Ich denke, wir sollten die Polizei informieren. Wir müssen die Polizei informieren. Der Mann hier kann ja nicht friedlich gestorben sein. Der ist ermordet worden!«

      Emma starrte Hollerbeck in die Augen. Der blinzelte heftig und unternahm einen letzten Versuch, ihr Vernunft beizubringen:

      »Kann sein. Wird wohl so sein. Aber daran können wir zwei jetzt auch nichts mehr ändern. Sehen Sie es doch mal so: Wer immer das ist da drin: er hat jetzt hier seine Ruhe gefunden. Bis Sie gekommen sind!«

      Emma war sprachlos. Hollerbeck fuhr fort:

      »Ich hab keine Ahnung, wer das ist und wie er hierhingekommen ist. Aber ich weiß ganz genau, dass die Polizei uns beiden eine Menge Fragen stellen wird, die wir entweder nicht beantworten können oder jedenfalls nicht gern beantworten würden. Angefangen damit: Wieso sind wir eigentlich hier?«

      Emma wischte Hollerbecks Bedenken mit einer Armbewegung beiseite. »Die einzige jetzt relevante Frage, finde ich, ist: wie alarmieren wir die Polizei? Wir haben höchstwahrscheinlich ein Mordopfer gefunden. Jemand wird den Mann dort« – Emma deutete auf den Steinhaufen – »vermissen. Wir haben gar keine andere Wahl, ob wir wollen oder nicht: wir müssen den Fund melden. Das ist unsere Pflicht.«

      Hollerbecks Mienenspiel, als er das Wort ›Pflicht‹ hörte, erinnerte Emma wieder heftig an Walter Matthau. Auch Woody Allen kam ihr in den Sinn. Der konnte auch so ein Gesicht schneiden. Sie hatte plötzlich die Schlusszene aus »Manhattan« vor Augen, wo Allens junge Geliebte, die für ein halbes Jahr nach London ziehen will, ihn mit dem Hinweis vertröstet, sie werde ihm treu bleiben, was sei schon ein halbes Jahr… Woody Allen, beziehungsweise der Typ, den er darstellt, schweigt dazu, aber seine Mimik spricht Bände.

      Was für ein Blödsinn, jetzt an alte Filme zu denken! Emma wunderte sich über sich selbst und vertrieb die Schattengestalten Walter und Woody, indem sie energisch den Kopf schüttelte.

      »Was meinen Sie: Haben wir hier Handyempfang?« Bevor Hollerbeck antworten konnte, hatte Emma ihr Smartphone in der Hand und checkte die Verbindungsanzeige. Ein Signal war vorhanden, wenn auch nur schwach.

      Hollerbeck beobachtete Emma mit zunehmender Nervosität. »Ob wir den Toten hier entdeckt haben oder ob das irgendeine Wandergruppe tut, im nächsten oder übernächsten Jahr: was macht den Unterschied? Der Mann ist tot, eine ganze Weile schon. Und wenn ihn jemand vermisst haben sollte, ist die Trauer längst verklungen. Sicher ist nur: wenn wir den Leichenfund melden, sind wir Zeugen, haben wir den Ärger. Brauchen Sie den? Ich nicht.«

      Hollerbeck schien das tatsächlich ernst zu meinen. Und so Unrecht hatte er nicht, musste Emma sich eingestehen. Niemand wusste von ihrem Ausflug hierhin. Hätte sie, Emma, nicht in einem Anflug närrischer Nostalgie darauf bestanden, ihr blödes Amulett zu suchen, wären sie nicht hierhin gekommen, hätte sie die Steine nicht weggeräumt, hätten sie auch keine Leiche entdeckt… Einfach den Reset-Button drücken und die Episode überspringen!

      Ja, und dann? Dann hätten Jochen Hollerbeck, den sie kaum kannte, und sie ein Geheimnis. Miteinander. Nur sie beide. Ein Gedanke, der Emma überhaupt nicht behagte – ohne dass sie hätte erklären können, weshalb. Und abgesehen davon: sie war Reporterin, Journalistin, und hier vor ihr in einem entlegenen Zipfel der Insel Teneriffa lag nicht nur eine männliche


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