Emma erbt. Armand Amapolas

Emma erbt - Armand Amapolas


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und begann zu kraulen. Als sie dabei einem der beiden Dauerschwimmer in die Quere kam, blieb der stehen – sehr tief war das Becken an dieser Stelle offenkundig nicht – und sprach Sie an:

      »Guten Morgen, junge Frau! Sind Sie neu hier? Herzlich willkommen im Club der Mittelschwimmer!«

      Eigentlich wollte sie den Alten ignorieren, aber ihre Neugier siegte, wie immer. Emma stoppte, sah den Mann, der seine Schwimmbrille auf die kahle, mit Altersflecken besprenkelte Stirn geschoben hatte, an und fragte, offenkundig wunschgemäß:

      »Wieso Mittelschwimmer?«

      »Weil es hier Frühschwimmer gibt, junge Frau, die immer gleich im Morgengrauen eisern ihre Bahnen ziehen, bei jedem Wetter, und die Plantscher. Das sind die, die am Nachmittag hier sonnenbaden und sich gelegentlich abkühlen. Und dann gibt es noch uns, meinen Freund Fred und mich.« Er deutete mit dem Kinn zu dem anderen Alten hinüber, der weiter ruhig vor sich hinschwamm, Emma jetzt aber immerhin zublinzelte. »Wir sind die Mittelschwimmer und um diese Zeit hier eigentlich immer allein. Wenn Frau Lensing sich nicht entschließt, uns Gesellschaft zu leisten.« Er nickte zu der Bildzeitungsleserin hinüber.

      »Ich heiße Karl. Freunde nennen mich Carlos. Für Sie also: Carlos.«

      Carlos streckte ihr seine nasse Pranke entgegen. Emma sah keine Möglichkeit, ihm den Händedruck zu verweigern. Ganz falsch! Carlos hielt ihre Hand ein paar Sekunden fest – ziehen half nicht – und bemerkte:

      »Sehr schöne Hände haben Sie! Die Hände einer Pianistin. Enttäuschen Sie mich nicht: Sie spielen doch Klavier?«

      »Nein, ich benutze meine Finger nur zum Schreiben und um in der Nase zu pulen.«

      Bevor Carlos den nächsten Schleim absondern konnte, entzog Emma ihm mit einem heftigen Ruck ihre Hand und tauchte unter.

      Als sie zehn Minuten später das Becken verließ, duschte, sich abtrocknete und dabei den Blick hob, fiel ihr auf, dass von mehreren Balkonen Menschen zu ihr herunterstarrten. Einige Köpfe wurden sofort zurückgezogen, als die Gefahr des Blickkontakts bestand. Emma verschwand so schnell wie möglich im Gebäude, Richtung Aufzug, und beschloss, wenn überhaupt, nur noch am frühen Abend schwimmen zu gehen. Wenn die Glotzer vermutlich alle bei Carmen saßen oder Rotkohl mit Rouladen aßen.

      Auf dem Weg zur Plaza del Charco – die früher, das hatte sie im Know-how-Reiseführer gelesen, den Namen des Diktators Franco getragen hatte, wie jeder bessere deutsche Platz bis 1945 den des »Führers« Adolf Hitler – war ihr aufgefallen, dass die Stadt sich sehr verändert hatte seit ihrem letzten Besuch. Das fing mit der Straße an, die vom La Palma zur Innenstadt führte. Die hatte sie als enge Holperstrecke ohne Bürgersteig in Erinnerung, gesäumt von wilden Mülldeponien. Vor allem hatte sie eine Baracke direkt am Steilufer vor Augen, von der ein bestialischer Gestank ausgegangen war und wo hinter wackligen Bretterzäunen abgemagerte Hunde kläfften, als würden sie um Hilfe rufen. Ein Hundeasyl. Der Anblick und das Geheul hatten sie tief beeindruckt. Jetzt war davon nichts zu sehen. Auch kein Müll am Straßenrand. Offenbar erst jüngst gepflanzte Palmen steckten den Weg zur Stadt ab. Dort waren die meisten Häuser frisch renoviert, die Bürgersteige neu und geschmackvoll gepflastert. So entsprach Puerto ganz und gar nicht ihrer Erinnerung.

      Fast empfand sie es als beruhigend, dass die Plaza del Charco sich offenbar nicht verändert hatte. Jedenfalls sah sie auch in Emmas allmählich wieder aufkeimender Erinnerung – interessant, dachte sie, was sich im Gedächtnis absetzt, gut verborgen, und plötzlich wieder auftauchen kann! – genauso aus wie heute: Ein rechteckiger Platz, umrahmt von belanglosen Gebäuden, dem riesige alte Lorbeerbäume Schatten und Schönheit spendeten. In der Mitte ein Brunnen und ein Spielplatz, am Rand eine Bühne. Da hatte vor zwanzig Jahren, in ihrer Wahrnehmung ununterbrochen, eine chilenische oder sich chilenisch-indianisch gebende Combo El Condor Pasa gespielt, oder ähnliches. Den Panflötenklang hatte sie jedenfalls jahrelang nicht loswerden können. Seither, das wurde ihr schlagartig bewusst, plagte sie eine Aversion gegenüber lateinamerikanischer Folklore. Eigentlich ungerecht.

      Beim Anblick des Platzes hatte sie den Klang sofort wieder im Ohr – obwohl von chilenischen Indios weit und breit nichts zu sehen und zu hören war. Zwischen den Bäumen und Laternen flatterten bunte Wimpel in der sachten Brise, die vom Hafen herüberwehte, alle Bänke waren belegt, die zahlreichen Cafés rund um den Platz herum hatten trotz der relativ frühen Uhrzeit gut zu tun, auf vielen Tischen standen schon jetzt Krüge und Gläser mit Dorada gefüllt, dem inselüblichen Bier.

      Das Café Océano war genau dort, wo die Hauptflaniergasse Puertos, vom Hotelviertel am anderen Ende der Stadt kommend, auf den Platz stieß. Es war in einem der schöneren, älteren Gebäude untergebracht. Die meisten Gäste saßen draußen, am Rand der Plaza del Charco.

      Während Emma ihren Blick noch suchend schweifen ließ, eilte ein Mann im hellen Leinenanzug lächelnd auf sie zu. Er mochte um die 60 sein, hatte ein faltenreiches, satt gebräuntes Gesicht unter vollem, rotblondem, wellig nach hinten gelegtem Haar. Gel war sicher auch im Spiel, oder ein kraftvolles Spray. Emma fragte sich sofort, ob das Haar wohl gefärbt war. Bestimmt!

      »Sie müssen Fräulein Schneider sein! Habe ich Recht? Hollerbeck, Jochen Hollerbeck, Geschäftsführer der Stella Real Estate. Für meine Freunde: Jo. Darf ich Emma zu Ihnen sagen?«

      »Solange Sie mich nie wieder als Fräulein anreden: bitte! Das mit den Vornamen scheint ja hier so üblich zu sein. Hanseatisch wohl.«

      Emma rang sich ein Lächeln ab. Sie mochte diesen Menschen nicht. Sie hatte das Gefühl, sich dazu zwingen zu müssen, sich nicht zu schütteln. Sofort überkam sie ein schlechtes Gewissen: Sie war ungerecht. War sie es nicht, die Paul Bärkamp, der es mit dem Gegenteil hielt, hundert Mal erklärt hatte, man dürfe Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen? Paul pflegte dazu trocken zu bemerken: »Das Äußere ist nur das, was vom Inneren nach außen dringt.«

      Herr Hollerbeck führte Emma galant – in leicht gebeugter Haltung und mit angewinkeltem Arm voranrudernd, als müsse er sich und seiner Begleiterin den Weg durch einen Haufen Styroporkugeln bahnen – zu einem Tisch am Rande der bedienten Zone. »Wie wäre es mit diesem Tisch? Hier hört niemand mit. Sie glauben ja gar nicht, wie neugierig deutsche Frührentner sind!«

      »Doch, das glaube ich. Wer sonst nichts mehr erlebt, lebt eben gern das Leben der Anderen mit.«

      »Sie sind ja eine Philosophin! Haben Sie Philosophie oder so was studiert?«

      »Eher so was. Ich habe Journalismus studiert. Ich bin Journalistin. Da trifft man zwar selten Philosophen, hört aber viel über Philosophie.«

      Ihr Gegenüber zog die struppigen Augenbrauen hoch und signalisierte mit weit aufgerissenen Augen Unverständnis, aber großes Interesse.

      »Das kennen Sie doch sicher von Fußballübertragungen. Da hat jeder Trainer eine Spiel-Philosophie. Obwohl er eigentlich nur gewinnen will.«

      Hollerbeck lachte laut und herzhaft, als hätte sie einen Witz erzählt. Aufgesetzt, wie Emma fand. Sympathischer wurde er ihr dadurch nicht.

      Der Kellner, eine rührend-würdevolle Erscheinung, die sie an uralte Hans-Moser-Filme erinnerte, die sie mal in einem Seminar über Tontechnik in der Filmproduktion hatte analysieren müssen, nahm die Bestellung auf. Emma orderte Café con leche und ein Croissant. Der Kellner deutete einen leichten Diener an und verschwand.

      »Sie sind erst gestern angekommen? Aber Sie kennen die Insel?« bemühte sich Hollerbeck um einen Neustart der Konversation.

      »Ja. Und ja. Ich bin gestern mit einem Billigflieger aus Weeze gekommen – bei Düsseldorf –, und ich war als Kind schon ein paar Mal hier, zuletzt allerdings vor zwanzig Jahren.«

      »Seither hat sich die Insel gewaltig verändert. Seit dem Immobilienboom auf der Halbinsel, wie die Tinerfeños zu Spanien sagen, ist sie von Festlandspaniern als Anlageobjekt entdeckt worden. Im Vergleich zur Costa del Sol oder Mallorca sind die Preise hier aber immer noch sensationell niedrig.«

      »Da haben Sie sicher gute Geschäfte gemacht.«

      »Durchaus. Obwohl meine Kunden überwiegend Deutsche sind. Und die haben


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