Emma erbt. Armand Amapolas

Emma erbt - Armand Amapolas


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Hollerbeck weiß, was Frauen wünschen. Dann also, sagen wir: um elf im Café Océano?«

      Uff, dachte Emma: was ist das denn für einer: ›Jo Hollerbeck weiß, was Frauen wünschen…‹ War das noch plumpes Verkäufergewäsch oder schon plumpe Anmache? Egal, sie wollte etwas von ihm, und ein Treffen im Café ließ ihr die Möglichkeit, jederzeit auf Abstand zu gehen. Außerdem hatte sie Hunger.

      »Also um elf im Café Océano. Und wie erkenne ich Sie?«

      »Keine Sorge: ich erkenne Sie.«

      Emma meinte, diesen Satz schon mal gehört zu haben. Von Pedro? Teneriffa schien voller älterer Männer zu sein, die nur auf sie gewartet hatten.

      Um elf. Da blieb ihr noch Zeit genug, gründlich zu duschen – oder vielleicht schnell in den Pool zu springen? – und zu Fuß in den Ort zu gehen. Eine halbe Stunde und fast immer am Wasser lang, nach ihrer Erinnerung.

      Den halben Weg war sie gestern Abend schon gegangen. Mit den Poloniaks und Frau Hülsenbusch zu »Carmen«. Carmen entpuppte sich als ein kleines, schlichtes, dichtbestuhltes und von deutschen Frührentnern prall gefülltes Restaurant in Punta Brava. Punta Brava, das glich einem Nest voller aneinandergelehnter, unscheinbarer Häuser, die auf einer schmalen Halbinsel standen, um sich gemeinsam, wie untergehakt, der Atlantikgischt entgegenzustemmen. Brava halt: tapfer. An vielen blätterte die Farbe ab, andere waren frisch bemalt. Als lieferten sich Anstreicher und ätzende Brandung einen Dauerwettlauf. In dem das Meer immer vorne lag – und immer vorne liegen würde.

      Frau Hülsenbusch hatte einen Tisch reserviert. Wie sich zeigte: den besten Tisch des kleinen Lokals, das vermutlich früher mal eine Wohnung gewesen war. Den einzigen Tisch zwischen Theke und Straße, halb im Freien, aber mit Blick in die Küche gleich hinter dem Tresen. Wo Carmen höchstselbst, eine rührige, wohlbeleibte Mama, alles unter Kontrolle hatte. Und von wo aus sie Frau Hülsenbusch herzlich und lautstark mit Griff über den Tresen begrüßte und einem jungen Mann – ihrem Sohn, ihrem Enkel? – das Kommando gab, ihrer ›guten Freundin‹ und deren Freunden Rotwein, Wasser, Brot und Aioli zu bringen, »en seguida!«, aber hurtig. Der junge Kellner, Frau Hülsenbusch begrüßte ihn als Pablo, rollte stumm eine Papiertischdecke vor ihnen aus, klemmte sie an den Rändern mit Plastiksteckern fest und stellte eine Menagère mit Salz und Pfeffer, Öl und Essig auf den Tisch. Sekunden später standen Wasser und Weingläser daneben, eine Eineinhalbliter-Plastikflasche mit Wasser und eine Glaskaraffe mit hagebuttenrotem Wein. Brot und Knoblauchmajonnaise folgten. »Können wir auch Oliven bekommen?« fragte Emma.

      »Una ración de aceitunas. Sofort!« Pablo stellte geschwind eine braune Tonschale voller grünglänzender Oliven auf den Tisch.

      Auch alle anderen Tische waren belegt. Man betrachtete einander ungeniert von Tisch zu Tisch. Das machen nur Deutsche, dachte Emma: den Platz im Restaurant als Aussichtsposten auf andere Tische, Teller und Menschen zu begreifen – und das auch offen zu zeigen. Jedenfalls im Ausland. Vielleicht weil sie selbst hier keiner kennt. Glauben sie. Da gibt es keine Peinlichkeit. Aber im übrigen tat sie es ja genauso: alles beobachten, was um sie herum vorging – und sich zu allem eine schnelle Meinung bilden. Aber, rechtfertigte sie sich: sie war schließlich Journalistin! Sie war darauf getrimmt, überall Geschichten zu suchen.

      »Carmen macht weit und breit die besten Gambas. Gegrillt oder in Olivenöl mit Knoblauch«, versicherte Frau Hülsenbusch zum dritten oder vierten Mal und fügte diesmal, leiser, sich leicht vorbeugend, hinzu: »Und die Portionen sind groß, die Preise niedrig. Von so einem Preisleistungsverhältnis, wie mein seliger Ulrich zu sagen pflegte, kann man in Deutschland nur träumen. Obwohl die Preise in den letzten Jahren kräftig gestiegen sind. Vor zehn Jahren hätten Sie hier sein sollen! Damals ist das hier unser Stammlokal geworden. Ihre Oma, unsere Doña Ilse, hat es geliebt! Obwohl sie zuletzt gesagt hat, wenn Carmen noch mal die Preise erhöht, müssen wir der Marktwirtschaft zu ihrem Recht verhelfen!« Dabei sah sie Emma geradewegs in die Augen.

      Frau Hülsenbusch, Hannelore, man duzte sich seit der Begegnung unterm Gummibaum, war eine rundum rundliche Person. Ein Mensch ohne Ecken und Kanten. Sie strahlte schiere Gemütlichkeit aus und schien immer zu lächeln. Emma war sie gleich bekannt vorgekommen. Aber woher?

      Jetzt, am Tisch bei Carmen, nach dem ersten kräftigen Schluck von dem leichten, sehr süffigen roten Wein, fiel es ihr ein: Sie hatte Hannelore Hülsenbusch auf dem Foto gesehen. Dem Gruppenbild im Wald in Oma Ilses Schlafzimmer.

      Als Emma das Foto erwähnte, entwich für einen kurzen Moment das Lächeln aus Hannelore Hülsenbuschs weichem Gesicht. »Ach«, seufzte sie: »Wir waren eine tolle Truppe! Wir haben fast alles zusammen gemacht. Und so viel Spaß gehabt! Da im Wald haben wir sogar getanzt! Getanzt! Mitten im Wald! Für mich jedenfalls war es die beste Zeit meines Lebens.«

      »War? Wieso war?«

      »Nun ja, das Foto muss jetzt vier oder fünf Jahre alt sein. Wir sind zusammen wandern gewesen, haben gepicknickt und ohne Ende gelacht. Und gesungen. Und getanzt. Es war das letzte Mal. In dieser Runde. Inzwischen ist ja nicht nur deine Großmutter gestorben. Von denen, die auf dem Foto zu sehen sind, leben nur noch Herr Seidenschuh, also Pedro, der dich vom Flughafen abgeholt hat, und ich. Alle anderen sind tot, und damals sind wir noch so lebensfroh gewesen! Wir kamen uns so jung vor. Dass wir sterben könnten, das wär uns nicht in den Sinn gekommen. Ich glaube sogar, wenn uns jemand gefragt hätte damals: wir hätten gesagt, dass wir uns unsterblich vorkommen. Jedenfalls kein bisschen krank oder alt. Obwohl das natürlich Unsinn war, damals schon. Je älter man wird, umso schneller altert man, wenn Ihr wisst, was ich meine.«

      Johanna Poloniak nickte verlegen. Ihr Mann studierte das nicht vorhandene Muster der Papiertischdecke. Emma starrte Hannelore Hülsenbusch an. Die hatte bei den letzten Worten alle rundum angeblickt. Jetzt schloss sie die Augen – und sah plötzlich sehr, sehr müde aus. Bis sie abrupt das Kinn hob, ihre Augen aufschlug und ihr Lächeln wieder einschaltete. »Aber wir wollen heute doch nicht über Tod und Alter sprechen! Wozu sind wir auf Insel der ewigen Jugend. Vergänglich sei hier nur der Wein! Lasst uns anstoßen! Auf die Jugend. Auf uns!«

      Sie haben noch mehrfach angestoßen an diesem Abend. Auf die Jugend, auf die Insel, auf das Wetter, auf den Teide, auf Carmen… Emma hatte sich brav für die gegrillten Gambas entschieden und viel zu pulen gehabt. Dazu gab es kleine Kartoffeln – papas – und ölreiche Soßen, eine grüne, eine rote: Mojos. Und es war nicht bei einem Liter Wein geblieben. Zum Schluss, zum Cortado, hatte Carmen ihnen allen noch einen klebrigen Anislikör aufgedrängt und großzügig eingeschenkt. Emma hatte auch den noch getrunken. Mindestens das war ein Fehler gewesen. Sie spürte ein leichtes, aber mahnendes Pochen hinter den Schläfen. Dabei war sie ganz und gar nicht der Kopfschmerztyp.

      Ein Sprung in den Pool würde helfen. Sie schlüpfte in ihren Badeanzug und fand in Oma Ilses Schlafzimmerschrank einen flauschigen weißen Bademantel. Den warf sie sich über, stieg in ihre Flip-Flops und griff sich ein Badehandtuch. Der Schrank lag voller frisch gewaschener Laken, Bettbezüge, Tischdecken, Handtücher, alle akkurat gefaltet; genug Stoff, um fünf Ferienwohnungen auszustatten, dachte Emma.

      Der Aufzug transportierte sie im Nu ins Erdgeschoss, ohne dass ihr jemand begegnet wäre, wofür Emma in diesem Moment sehr dankbar war. Im dunkel verspiegelten Aufzug sah sie sich von mehreren Seiten zugleich; der Aufzug der ewigen Jugend, dachte Emma – und der Kopfschmerz nahm zu. Dabei stieg ihr ein seltsamer, irgendwie vertrauter Geruch in die Nase. Rouladen! Es roch nach Rouladen! Mit einem Hauch von Kohl unterlegt. Irgendjemand im Haus musste Rouladen mit Rotkohl kochen, morgens um zehn. Und wie kam die Küchenabluft in den Aufzugschacht, bitte schön? Bevor Emma dieser Frage weiter nachgehen konnte, war der Aufzug schon unten angelangt.

      Emmas Erscheinen am Pool fand Beachtung. Zwei ältere Herren zogen ihre Bahnen, in gleichmäßig langsamem Tempo, hin und her. Brustschwimmend, was ihnen die Gelegenheit ließ, genau zu beobachten, wie Emma den Bademantel ihrer Großmutter auf einer grünbespannten Kunststoffliege ablegte, kurz in einer der beiden, nur mit halbhohen Klapptüren vom Poolgelände abgetrennten Duschkabinen verschwand und dann per Kopfsprung in das Becken tauchte. Eine ältere Dame, die bildzeitunglesend am Beckenrand saß, rief ihr zu, kaum dass Emma wieder Atem geholt hatte und zu kraulen beginnen wollte:

      »Hallo,


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