Emma erbt. Armand Amapolas

Emma erbt - Armand Amapolas


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einem Mal konnte sie die Wohnung mit ganz anderen Augen betrachten. Befreit. Nichts von dem, was hier stand, konnte ihr jetzt noch zu nahe kommen.

      Doch, ein Möbelstück schon: die Bettcouch im Gästezimmer. Sie suchte nach dem Klappmechanismus – und schwupp, stand ein Bett vor ihr. Das Bett, in dem sie imaginäre Gespräche mit dem blauen Teddy-Walross geführt hatte, das ihre Großeltern ihr bei ihrem allerersten Besuch auf der Insel gekauft hatten – und das sie seither immer »erwartet« hatte, wenn sie wiederkam. Wo war er? Wo war Albert, das Walross geblieben? Auf der Couch lag er nicht. Klar, warum auch? Wann genau war sie das letzte Mal hier gewesen? Vor zwanzig Jahren? Fünfzehn war sie damals gewesen, und Teneriffa war ihr nach zwei Tagen auf die Nerven gegangen. Omas Ideen, wie sie ihren Tag verbringen könnte, noch mehr. Nur das Walross – warum sie es auf Albert getauft hatte, fiel ihr nicht mehr ein – Albert hatte sie verstanden. Ein wenig, glaubte sie, Opa Heinrich auch. Auch bei ihm musste man sich mit sprechenden Blicken begnügen; nicht nur, solange Oma in Hörweite war. Es war komisch: Oma Ilses Geist schwebte über allem, was in Opa Heinrichs Nähe war, ob sie anwesend war oder auch nicht.

      Dabei konnte man nicht sagen, dass er, wie man das so nennt, unter Ilses Pantoffel stand. Er war ein gestandener, angesehener Geschäftsmann gewesen und wusste auch so aufzutreten. Wenn er Entscheidungen traf, dann galten sie. Das hatte auch Oma Ilse immer akzeptiert. »Das muss Heinrich entscheiden«, war einer ihrer Standardsprüche. Den sie vor allem dann einsetzte, wenn sie sich im Gespräch nicht sofort durchzusetzen wusste – oder selber unentschieden war.

      Emma öffnete alle Schränke, ging die ganze Wohnung durch. Erstaunlich, wie viel man auf so engem Raum unterbringen konnte! Stellplatz, der genutzt werden konnte, den hatten ihre Großeltern genutzt. Wände, die behängt werden konnten, hatten sie behängt. Drei gerahmte Fotos fand sie, auf denen sie selbst zu sehen war. Emma als Kleinkind, auf Heinrichs Arm, Ilse stand besorgt lächelnd daneben. Als Fünfzehnjährige, auf einem Badehandtuch, am schwarzen Strand von Teneriffa, mit cooler Sonnenbrille, im roten Bikini. Das dritte hatte sie Oma ungerahmt per Post geschickt, als sie ihren Bachelor bekommen hatte. Darauf war sie mit einer dieser Kappen auf dem Kopf zu sehen, die bei amerikanischen College-Abschlussfeiern in die Luft geworfen werden. Emma gefiel der verschmitzternste Gesichtsausdruck, mit dem sie in Jörgs Kamera geblickt hatte, damals.

      Ach, Jörg! Der saß jetzt sicher mit seiner neuen Liebe in seinem frisch gekauften Reiheneigenheim und rechnete durch, ob noch eine Terrassenerweiterung drin sein könnte. Aber gute Fotos konnte er machen.

      Albert fand sie im Schlafzimmer, auf der Kommode. Er lag dort so, dass Oma Ilse ihn offenbar immer von ihrem Bett aus hatte sehen können. Emma verspürte einen Stich in der Herzgegend. Über der Kommode und Albert hingen das Kinderbild von ihr und zwei Hochzeitsfotos, eines ihrer Eltern – Mutter in einem leichten Sommerkleid, Vater trug Jeans und eine braune Cordjacke –, das andere zeigte Heinrich und Ilse, er in Schwarz, sie in Weiß, ernst alle beide, eingerahmt von zwei ebenso ernst dreinblickenden Trauzeugen. Wer war das eigentlich? Emma erkannte sie nicht.

      Dann hingen da noch zwei weitere Bilder, in neueren, hellhölzernen Rahmen. Auf dem einen war eine heitere Gruppe rüstiger Wanderer zu sehen, auf einer Art Lichtung im Wald. Emma erkannte ihre Oma. Sie stand in der Mitte. Und gleich neben ihr Pedro, Hans-Peter Seidenschuh. Die anderen Gesichter sagten ihr nichts.

      Was hatte dieser Pedro vorhin gesagt: Oma Ilse habe sich nicht selbst getötet? Was wollte er damit sagen? Sie war viel zu verdutzt gewesen, darauf weiter einzugehen. Wahrscheinlich war diesem Inselcasanova die viele Sonne zu Kopf gestiegen. Überhaupt: hatte er mit ihr geflirtet? Der alte Sack? Wie alt mochte der sein? 50, 55? Alt genug jedenfalls, ihr Vater zu sein. Nun gut: er hielt auf sich. Gesunder Teint, gut gepflegt, ein bisschen beleibt, aber nicht fett; ›beefy‹ hätte es bei Tom Wolfe wohl geheißen, aber Emma stand nicht auf magere Männer, und auf Muskelpakete mit angehängtem Kleinhirn schon gar nicht. Sie mochte Männer, denen man ansah, dass sie etwas von gutem Leben verstanden. Und Humor bewiesen. Den immerhin schien dieser Pedro zu haben. Wenn er nicht dieses Goldkettchen trüge!

      Das fünfte Bild zeigte Oma Ilse mit einem Golfschläger, weit ausholend, in dieser golfertypischen, unnatürlich-verdrehten, lächerlichen Haltung mit leicht gespreizten Beinen und eingeknicktem Oberkörper. Oma voll auf den kleinen weißen Ball am Boden konzentriert. Neben ihr stand eine lederne Golftasche in der Gegend, aus der metallene Schlagflächen lugten wie zu kurz geschnittene Blumen aus einer überdimensionierten Vase. Oma, schlank, wie sie immer gewesen war, fast hager jetzt, in beiger Freizeithose und heller Bluse. Mit stark getönter, großer Sonnenbrille. Ihr graues, hochgestecktes Haar aufgewühlt vom Wind. Im Hintergrund hob sich der Atlantik tiefblau vom satten Grün des Golfplatzes ab.

      Golf? Emma hatte keine Ahnung gehabt, dass Oma Ilse Golf spielte. Oma und Golf: diese Kombination schien ihr so unpassend wie Schalke und Gänsestopfleber. Zwei Bildzutaten, grundverschiedenen Welten entrissen. Andererseits, fiel ihr ein, gab es in der Arena auf Schalke VIP-Logen, in denen Champagner serviert wird. Und, wer weiß, vielleicht auch Gänsestopfleber. Sie war einmal in eine dieser Logen eingeladen gewesen, als Redakteurin. Bis dahin hatte sie Fußball, was das Kulinarische betraf, immer nur mit Bratwurst und Bier aus Plastikbechern in Verbindung gebracht. Times they are a-changin‘, hatte Bob Dylan gesungen, noch so ein Idol ihrer Eltern. Komisch, dachte sie, bei allem, was ihre Eltern anders dachten und machten als sie – und das war eine Menge: ihr Musikgeschmack war ähnlich. Was für sie die Counting Crows, waren für ihre Eltern Procol Harum gewesen. Musik, die ihre Großeltern gut gefunden hatten, stammte hingegen aus einer ganz anderen Welt.

      Sie legte Albert, wie sie es früher immer getan hatte, in ihre Armbeuge, während sie die Fotos betrachtete. Dabei fiel ihr Blick auf eine längliche Schachtel aus tiefdunklem kanarischen Kiefernholz, auf dem das Stofftier gelegen hatte wie auf einem Podest, vom nackten Holz der Schachtel abgehoben durch ein helles, goldbesticktes Leinentüchlein. Ilse hatte Albert gleichsam dort aufgebahrt, fand Emma, und sie war gerührt. Soviel Sentimentalität hatte sie ihrer nüchternen Großmutter gar nicht zugetraut.

      Oma Ilse war keine Schmuserin. Wenn sie jemanden in den Arm nahm, wirkte das, als prüfe eine Postbeamtin ein Paket auf Versandfestigkeit. Trost spenden sollende Worte klangen aus ihrem Mund meist so: »Stell dich nicht so an! Das wird schon wieder!« Gegen Fieber halfen kalte Wadenwickel, jeder Krankheit wusste Oma Ilse mit einem Tee zu begegnen. Jeder körperlichen Krankheit. Andere akzeptierte sie nicht: »Stell dich nicht so an..!«

      Emma öffnete die Schachtel. Sie steckte voller Karten und Briefe. Emma nahm alles mit auf den Balkon, klappte einen der an die Wand gelehnten Gartenstühle auf und setzte sich. Nein, bevor sie zu lesen begann, musste gelüftet werden! Sie stand noch einmal auf, ging in die Wohnung und riss alle Fenster so weit wie möglich auf.

      Obenauf lag eine Ansichtskarte, die sie, Emma, ihrer Oma aus Rom geschickt hatte, während ihres letzten gemeinsamen Urlaubs mit Jörg. Die Piazza Navona. Mit Kugelschreiber hatte Emma ein kleines Kreuz neben den Vier-Flüsse-Brunnen gemalt. Auf die Rückseite hatte sie neben ein weiteres Kreuzchen geschrieben: »Hier schlecken wir gerade das beste granitá di caffé del mundo! Und denken an Dich«. Na ja, das war ein bisschen gelogen gewesen. Was man so auf Postkarten schreibt! Das Kaffee-Eis hatten sie am Pantheon gegessen, und an Oma Ilse hatten sie erst am vorletzten Tag gedacht, als es um die Frage ging: Müssen wir nicht noch irgendjemandem einen Kartengruß schicken?

      Die Schachtel schien alle Ansichtskarten zu enthalten, die Emma ihren Großeltern je geschickt hatte. Allzu viele waren es nicht, stellte Emma mit schlechtem Gewissen fest. Ganz unten in der Truhe lagen Briefe von Heinrich an Ilse. Kein einziger Brief ihres Vaters! Völlig aus dem Rahmen fiel ein Umschlag, der nichts Persönliches an sich hatte. Ein Geschäftsbrief, der fast zuoberst lag, gleich unter Emmas letzter Ansichtskarte.

      Der Brief war neueren Datums. Adressiert an Ilse Schneider, Apartamento 1111, Edificio La Palma, Calle La Palma, Puerto de La Cruz. Als Absender firmierte eine Stella Real Estate. Mit einem Büro in La Paz.

      Der Umschlag war aufgeschlitzt. Er enthielt einen einzigen Briefbogen, der sich anfühlte, als sei er schon oft herausgeholt und wieder hineingesteckt worden. Unter einem etwas barock wirkenden Briefkopf – Das S in Stella schien den Rest des Schriftzugs wie mit Tentakeln umarmen zu wollen – enthielt es – ein Kaufangebot:


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