Emma erbt. Armand Amapolas

Emma erbt - Armand Amapolas


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auf die Anwesenheit eines Airports hin, in diesem Matsch aus Grau und blassem Grün. Dann eine Zufahrtsstraße, die aussah, als hätte die untergegangene DDR hier eine niederrheinische Außenstelle hinterlassen. Schnurgerade, mit Gebäuden spärlich möbliert, mit flachen, konturlosen Kästen, die militärische Sachlichkeit signalisierten. Schließlich: anstelle eines Flughafengebäudes ein Parkplatz. Ein gigantischer Parkplatz. Voller abgestellter Autos. Irgendwo dahinter spielte eine Baracke Terminal. Sie hätte auch genauso gut ein Depot für Futtermittel sein können oder der Umschlagplatz eines global operierenden Logistikunternehmens. Das war sie ja eigentlich auch. Hier wurden Passagiere verladen. Menschliche Schafe.

      Klar wusste Emma eigentlich, dass es bei Jersey Air keine feste Sitzplatzreservierung gab, aber dass dann doch einige Stücke Passagiergut sich offiziell vordrängeln durften – »Priority Boarding« –, das hatte sie überrascht. Sie hätte besser recherchieren müssen! Emma! Auch dass der Flieger so voll werden würde: wieso hatte sie das nicht vorhergesehen – bei den Preisen! Außerdem war ihr Koffer zu schwer gewesen. Ihr Rucksackkoffer war so prall gefüllt, dass er sich in das absurd enge Körbchen partout nicht hineinzwängen ließ, mit dem die Airline vor dem Schalter Schlaumeier wie sie abfing, die glaubten, einen Semi-Koffer als Handgepäck durchmogeln zu können.

      So hatte sich Emmas Flugpreis von den sagenhaften 69,99 Euro schon deutlich der 100-Euro-Marke genähert. Sie tröstete sich damit – und fand sich selbst dabei im Grunde kindisch –, der Airline oder der Flughafengesellschaft – wer verdiente eigentlich daran? – nicht auch noch die metropolitanen Parkgebühren in den Rachen geworfen zu haben, die verlangt wurden, um einen Wagen auf einem Brachgelände neben einem Schuppen im nebligen Nirgendwo abstellen zu dürfen. Dafür hatte der nette Paul auf seinen Morgendämmer verzichtet und durfte jetzt den Niederrhein erwachen sehen. Wahrscheinlich hatte er WDR Zwei eingeschaltet und das Autoradio auf volle Dröhnung gestellt – wenn er nicht einer alten Kassette mit Hüsch-Monologen lauschte.

      »Mir macht das nichts, ich fahr dich gern«, hatte sich Paul, ihr Kollege, ihr Chef, nein, jetzt ihr Ex-Kollege und Ex-Chef, angeboten, als Emma von ihrem geplanten Trauer-Flug nach Teneriffa erzählte. Dann habe er wenigstens eine Aufgabe, einen Grund, früh aufzustehen, und sich nützlich zu fühlen. Außerdem liebe er den Niederrhein. Vielleicht schaue er sich auf dem Rückweg ja noch Kleve an oder Kevelaer. »Kevelaer, ja, da mache ich eine Wallfahrt hin und wünsche unseren Verlegern den Tod an den Hals – oder mindestens die Beulenpest. Ich stelle eine Woodoo-Puppe auf und steche ihr einen Schaschlikspieß durch den Hals.«

      Als wenn Paul irgendwem irgendwohin stechen würde! Paul Bärkamp war streng genommen ihr Vorgesetzter in Haltern gewesen. Lokalchef der Halterner Post. Die Gutmütigkeit in Person. Seit Ewigkeiten mit Ort und Zeitung verschmolzen. Geschieden. »EINE feste Beziehung ist mir genug, mehr schaffe ich nicht«, pflegte er zu spötteln, »ich bin mit der Redaktion verheiratet, die macht‘s mir schwer genug.« Paul hatte Emma, wie man so nett sagt, an die Hand genommen und sie mit Haltern vertraut gemacht, als sie vor einem Jahr hier ihre erste feste Stelle als Redakteurin antrat. In einer Stadt, die sie bis dato nur als konturloses Anhängsel eines Stausees wahrgenommen hatte. Es hieß ja auch: Haltern am See. Was Paul ihr aufschloss, war ein Mikrokosmos aus Vereinen, Gemeinden, Parteien, Verbänden; aus Halbverrückten und Überengagierten, aus Tiefverwurzelten und Zugeflogenen, aus Mini-Potentaten und lokalen Müttern Teresa. Ein Mikrokosmos voller Geschichten und Geschichtchen, die darauf warteten, geschrieben zu werden. Von ihr, von Emma C. Schneider, dem weiblichen Tom Wolfe des südlichen Münsterlandes.

      Tom Wolfe war ihr Lieblingsautor, seit sie ihn während ihres Studiums an der Fachhochschule Gelsenkirchen »entdeckt« hatte – in einem Seminar über »Subjektiven Journalismus«. Und Wolfes »New Journalism« setzte heimlich den Maßstab, an dem sie sich messen wollte, seit sie »Ich bin Charlotte Simmons« verschlungen hatte, und danach alle seine anderen Bücher. Aber natürlich verriet sie das niemandem; das hätte ja vermessen geklungen. Außerdem: wer kennt in Haltern schon Tom Wolfe? Außer Paul Bärkamp.

      Jetzt würde der Halterner Mikrokosmos weithin unbeschrieben bleiben – auch wenn Paul und einige andere Ex-Kollegen und Freie einen Blog gegründet hatten, halternswelt.de, und Emma bedrängten mitzumachen. Die Zukunft liege ohnehin im Digitalen. Und hieß es nicht auf Verlegerkongressen, also dort, wo sich die Leute trafen, die mit Druckerzeugnissen Geld verdienten, seit Jahr und Tag: Print ist tot?

      Tod. Bis vor kurzem hatte sich Emma nie mit dem Tod beschäftigt. Warum auch? Sie war jetzt 33. Sie hatte rüstige Eltern und war von gesunden Menschen umgeben, die das Leben genossen. Sie war viel gereist, hatte wenige, aber verlässliche Freunde, und zwar nervige, aber unterhaltsame Kollegen, einen Beruf, den sie liebte. Mehr, glaubte sie, wollte sie nicht. Ihren letzten »festen« Freund hatte sie vor anderthalb Jahren abgelegt, als Jörg plötzlich anfing, nachhaltig von einem Hausbau in Röhlinghausen zu schwärmen und über Kinder zu reden. Sie hatte sich gefühlt, als lege sich ein Ring um ihre Brust. Haltern, so verrückt das klang, dieser Backstein gewordene Biedersinn, war dann ihr Fluchtort geworden, ihr ganz persönliches Goa. So sah sie es.

      Aus der Traum. Und deshalb flog sie jetzt nach Teneriffa. Nix Goa. Von Goa hatten ihre Eltern oft geschwärmt. Das war so ein Hippietraum gewesen. Ein Aussteigerparadies. Ihre Eltern waren nie dahin gekommen. Dafür hatte es Oma Ilse nach Teneriffa geschafft, ihrem Goa. Mit deutschem Fernsehen und deutschem Brot. Und jetzt bewegte sich Emma auf Oma Ilses Spuren, ohne Rückflugticket, einstweilen. Um, wie Paul das genannt hatte, eine Auszeit zu nehmen. Vielleicht war Oma Ilse ja ganz absichtlich gerade jetzt gestorben. Um ihr, ihrer geliebten Enkelin Emma, einen Fluchtweg zu öffnen. Mit weitem Blick auf den Atlantik und La Palma. Das wäre Oma Ilse zuzutrauen gewesen. Immer schien sie gewusst zu haben, was Emma gerade brauchte und wie sie sich fühlte.

      Ein Aussteigerparadies wie Goa war Teneriffa ja eigentlich auch. Wenn auch weniger für kiffende Studenten als für deutsche Handwerker mit Palmenliebe und dem dringenden Bedürfnis, Plattmoos genussbringend anzulegen. So wie Ilse und ihr inzwischen verstorbener Heinrich es in den 1970ern getan hatten, als sie sich das Apartment 1111 im Edificio La Palma kauften, als Geldanlage und zugleich als Ruhesitz und Sehnsuchtsort, wohin sie abgleiten konnten, während sie in ihrem Wanner Fischgeschäft Heringe verkauften und nett zu allen Kunden waren: »Frau Arnussen, lange nicht gesehen, was macht die Schilddrüse? Und die Kinder, wie geht‘s denen?«

      »Der Teide! Da ist er. In seiner majestätischen Schönheit!« Heinz Poloniak strahlte Emma an und drückte sich tief in seinen unbeweglichen Sitz, so dass Emma sich, ob sie wollte oder nicht, über seinen stattlichen, in ein rot-weiß kariertes Wanderhemd verpackten Bauch beugen und aus der Fensterluke lugen konnte. Was sie ihm zuliebe auch tat. Und ein bisschen auch aus Neugier.

      Aus einem flauschigweißen Wolkenfeld ragte ein Steinkegel hervor, wie eine mit getrocknetem Schlamm belegte weibliche Brust aus einer Wanne voll Schaum. Sonst nichts. Nur Wolken und diese eine, völlig deplatzierte Brust. Irgendwo vor Afrika. Majestätisch? Ja, das hatte was. Emma erinnerte sich, dass ihr Opa Heinrich immer ganz ähnlich wie Herr Poloniak reagiert hatte, wenn das Flugzeug zum Landeanflug auf Teneriffa ansetzte, damals allerdings im Norden der Insel. Und Emma zwischen ihm und Oma Ilse saß, auf bequemeren Sitzen als diesem hier, in Flugzeugen, in denen noch richtige Mahlzeiten serviert wurden, von jungen Göttinnen in LTU-Kostümen. Mehrfach hatten ihre Großeltern sie mitgenommen nach Teneriffa. Aber Emma hatte damals weniger der Teide interessiert als die Frage: »Wann landen wir endlich?«

      Vielleicht hatte sie sich heute deshalb so bereitwillig zwischen die Poloniaks gezwängt, in Reihe 34, ganz weit hinten im Flieger. Wegen der Erinnerung. Vorne war fast alles schon belegt gewesen. Zwar war hier und da ein vereinzelter Mittelsitz frei geblieben, aber Emma hoffte, weiter hinten womöglich doch noch einen Fensterplatz zu ergattern und ihre Ruhe zu haben. Nichts da. Also hielt sie schließlich bei dieser freundlich blickenden älteren Dame in Reihe 34 und fragte: »Entschuldigung, ist der Platz neben Ihnen noch frei?« »Natürlich, liebes Kind!« Und schon quetschte sich die Frau aus ihrem Sitz. Sie trug Wanderschuhe und eine dieser praktischen beigen Wanderhosen, deren Unterteil abnehmbar ist. Darüber ein rot-weiß-kariertes Hemd aus sicherlich atmungsaktivem Nanofaserstoff. In dem Moment, als Emma sich in den Mittelsitz drückte – in diesem Moment war ihr aufgefallen, dass der Mann auf dem Fenstersitz, sie schätzte ihn auf über 60, exakt die gleiche Kleidung trug wie die


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