Emma erbt. Armand Amapolas

Emma erbt - Armand Amapolas


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wirklich ausgezeichnet Deutsch sprach –, sie tat nur ihren Job, und den machte sie gut, das musste er ihr lassen, sondern über Ilse. Ilse, die nüchterne no-nonsense-Ilse, hing der Russin an den Lippen. Und mehr als das: Ilse betätigte sich als Verstärkerin der slawischen Marketing-Tröte. Wiederholte in blinder Gläubigkeit nahezu alles, was diese Natascha oder Tanja oder Tamara oder wie sie hieß ihr vorgeflötet hat. »Return-of-investment«, »Flucht in die Sachwerte«, »Betongold«, »Wertpapiere, die man essen kann – ach was: essen! Schlürfen!«

      Das hatte gereicht. Ilses erstaunten, fragenden und beinahe flehenden Blick – Bleib doch, bitte! – demonstrativ ignorierend hatte er die fröhliche Runde verlassen. An Kartenspiel war ohnehin nicht mehr zu denken gewesen. Die Aussicht auf Riesenrenditen hatte der Runde ihre alte, spielerische Freude an Cent-Gewinnen beim Canasta gründlich vergällt. Wie war das möglich gewesen! Es kam ihm vor, als habe ihm jemand die Sonnenbrille von der Nase gerissen, und mit einem Mal wurde er im grellen Sonnenlicht aller Falten und Risse und Pickel gewahr, die das dunkle Glas ihm weggelogen hatte.

      Er seufzte und atmete tief durch, als er das Deck betrat. Ja, dafür war er auf die Kanaren gezogen; wegen dieser salzgeschwängerten Luft, wegen des endlosen Sternenhimmels, wegen des allgegenwärtigen Ozeans, dieser flüssigen Manifestation der Ewigkeit. Und nicht wegen irgendeines »Return of investment« oder um kleinen weißen Bällen hinterherzuglotzen und eine neue Runde im Spiel der Eitelkeiten zu beginnen: ich hab‘ mehr, ich bin schöner, meiner ist der größte!

      Er seufzte ein zweites Mal, laut und entkrampfend diesmal. Es konnte ihn ja niemand hören. Er war allein an Deck. Jedenfalls schien es ihm so. Dezente Leuchten ließen allenfalls erahnen, wo Aufbauten und Deckstühle standen. Hell strahlte nur das Licht aus den Kabinen und Vergnügungssälen der Claviga. Er wandte sich ab, ging zur Reling hinüber, hielt sich dort fest und blickte auf das Meer hinaus.

      Was war aus seinem Traum geworden? Wie jeder Traum, das wurde ihm klar, war auch die Vorstellung eine Illusion gewesen, er hätte auf Teneriffa wirklich alles hinter sich lassen können: den Jahrmarkt der Eitelkeiten, das Hamsterrennen um höhere Einkommen, dickere Autos, steilere Karrieren. Er hatte sich eingeredet, hier sei alles anders. Zumindest: ihre Clique sei anders. Eine Gruppe von Menschen, die sich dem Gewirbel entzogen haben, die sich eine eigene kleine Welt geschaffen haben. Eine Welt, in der Ehrlichkeit zählte, Treue und Verlässlichkeit. Ha! Er musste ein drittes Mal seufzen.

      Alles nur Betrug! Alles nur Fassade! Seine Hanna hätte ihn gewarnt. Sie war nüchterner als er gewesen, noch nüchterner. Aber sie hatte ihn verlassen, war gestorben an diesem tückischen, hinterhältigen Krebs; kaum, dass sie das Apartment auf Teneriffa gekauft hatten, aus Teilen seiner Abfindung. Die Bergwerksgesellschaft, zwischen deren Aktendeckeln er sein komplettes Berufsleben verbracht hatte und die ihm vorgekommen war wie aus Eisen und Stahl geschmiedet, war aufgelöst worden. Einfach so. Wisch und weg. Von Finanzinvestoren und ihren jungsmarten Hiwis, Typen wie dieser Natascha und ihren Begleitern. Und mit der Gesellschaft sein Leben und alles, was er für wichtig und ewig gehalten hatte.

      Teneriffa: das war sein Fluchtort, seine Erlösung geworden. Nach Hannas Tod und Beerdigung war er nicht wieder nach Deutschland geflogen. Warum auch? Dass er es dort so lange ausgehalten hatte, kam ihm jetzt manchmal unwirklich vor. Hätte er früher die Brocken hingeschmissen, hätte auch Hanna mehr von Licht und Luft der Kanaren gehabt!

      Ilse und die Clique – die »Junta« waren sie getauft worden von den anderen im Haus, wie passend eigentlich! – hatten ihn aufgefangen nach Hannas Tod. Und vielleicht hatte er deshalb die Sonnenbrille nie abnehmen wollen. Er wollte keine Runzeln und Pickel sehen. Sie waren aber da. Sie waren immer da gewesen. Er hatte es gewusst, im Grunde seines Herzens hatte er es gewusst. Er hatte sich belügen lassen. Lassen wollen. Ach was: er hatte sich selbst belogen. Und was für einen Schabernack er mitgemacht hatte! Woodoo im Wald! Vor allem hatte er sich dazu bringen lassen, Zahlen nicht mehr ernst zu nehmen. Dabei hatte genau daraus doch sein Beruf bestanden: Respekt vor Zahlen zu haben. Zahlen waren absolut. Zahlen waren ehrlich. Ehrlicher als Menschen.

      Er hatte sein Berufsethos verraten! Um ein bisschen Spaß im Alter zu haben, im ewigen Frühling.

      Er war ein Idiot.

      Er sollte dieser Tamara dankbar sein und ihrer russischen Immobilienmafia, die ihn und Ilse und die anderen auf dieses Kreuzfahrtschiff gelockt hatten – alles »all inclusive« für ganz kleines Geld, nur ein bisschen Werbung sei dabei, eine Butterfahrt auf Kaviarniveau. Von wegen. Was hatte er gelernt, in jungen Jahren, auf der Höheren Handelsschule: »There ist no free lunch!« Es gibt im Leben nichts geschenkt. Dank Tamara war es für ihn jetzt vorbei mit der Selbsttäuschung. Er würde die Dinge von jetzt an ohne schönende Sonnenbrille betrachten – und schon gar kein Auge mehr zukneifen.

      Er war weiter gegangen, langsam, immer die Reling entlang bis zum Heck des Schiffes. Er war keiner Menschenseele begegnet. Kein Wunder, es musste weit nach Mitternacht sein. Zudem pfiff hier an Deck ein frischer Wind, friesisch-herb statt kanarisch-mild. Die langen Wellen des Atlantiks ließen das Schiff in einem fremden Rhythmus tanzen. Er klammerte sich an der Reling fest wie ein Betrunkener. Dabei hatte er höchsten drei, vier Glas Wein getrunken und ein oder zwei Wodka: »Na sdarowje!«. Jedenfalls lange nicht soviel wie Ilse und die anderen.

      Was war das? Wer ist das? Plötzlich lag eine Hand auf seiner Schulter. Wie war das möglich? Er hatte niemanden kommen hören. Also war er doch nicht der einzige, der frische Luft dringend nötig hatte. War ihm jemand aus der Runde gefolgt? Hatte Ilse sich Sorgen gemacht? Bestimmt nicht. Eher Heinz. Der gute Heinz.

      Er wollte sich umdrehen und Heinz begrüßen, als ihm jemand – das konnte doch nicht wahr sein! – von hinten zwischen die Beine griff! Was sollte das? Empört versuchte er sich dem Griff zu entziehen und dem Spinner ins Gesicht zu sehen – vermutlich ein Betrunkener! – da bemerkte er, wie er den Halt verlor. Er hatte die Reling losgelassen, um nach dem Unbekannten zu greifen. Jetzt wurde er an sie gedrückt – und der Arm zwischen seinen Beinen hob ihn an, kippte ihn vornüber. Was sollte das? Empörung machte Panik Platz. Angst! Sein Hirn arbeitete wie ein Karussell. Er sah Finsternis, blasse Schaumkronen, die helle Bordwand, dunkle Schatten, seine Hände fanden nirgendwo Halt, er dachte an Hanna und Ilse und das La Palma und an lange Zahlenkolonnen.

      Und dann fing ihn der Ozean auf, als habe er ihn lange erwartet.

       1. Kapitel

      Wenn sie etwas hasste, war es Gedränge. Körperkontakt mit Fremden. Und jetzt: Mittelsitze! Es gab nur noch freie Mittelsitze. B oder E. Und auch davon nicht mehr viele. Mittelsitze in Flugzeugreihen zwangen sie, Stunden zwischen Menschen zu verbringen, die sie nicht kannte und nicht kennen wollte; einander so nah wie im Bett. Was Betten betraf, suchte man sich schließlich seinen Partner aus, gemeinhin. Sie jedenfalls. Beim Billigfliegen blieb ihr keine Chance dazu. Um wenigstens halbwegs unbelästigt zu bleiben, buchte Emma wenn möglich Fensterplätze. Und sie blieb in der Wartezone sitzen, bis das ›Boarding‹ schon fast ›completed‹ war: um die Quetschzeit im Flieger zu verkürzen. Aber diesmal hatte sie offensichtlich einen Fehler gemacht. Reservierte Plätze gab es nicht. Bei Jersey Air war das Leben Kampf. Zivilisatorische Umgangsformen? Lästig, zu teuer. Willkommen in der Ursuppe des Lebens!

      Was denken sich die Leute, fragte sie sich: dass sie ein paar Minuten früher ankommen würden als alle anderen, wenn sie die vordersten Plätze am ›Gate‹ ergattern? Dafür nehmen sie Geschiebe und Gedränge in Kauf, erst am Schalter, dann im Gang zum Flugzeug, dann im Flugzeug selbst, vor ihnen Passagiere, die in Gemütsruhe Flugkoffer, Rucksäcke, Handtaschen, Plastiktüten, Jacken und Mäntel im ›Overhead Compartment‹ verstauen, mit ihren ausladenden Hinterteilen vor die Flugkoffer und Tüten der Nachdrängenden stoßend. Dabei ist dem doch zu entgehen: Einfach abwarten, sitzen bleiben, in einer Zeitung blättern. Sich überlegen fühlen. Zur kleinen selbsterklärten Elite der Gelassenen gehören, die nicht aufspringen, sobald sich eine Stewardess am Schalter zeigt und das Licht einschaltet. So hatte sie es auch heute gemacht und sich gut dabei gefühlt. Leider.

      Oh, erinnerte sich Emma mit einem Anflug von Scham: Stewardessen, dass war ja so ein Altherrenwort. Woher hatte sie es nur? Stewardessen gab es ja schon lange


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