Falscher Einwurf. Christoph Rehm
Sie heute Abend schon etwas vor? Ja? Dann verschieben Sie es! Denn Sie haben vermutlich vergessen, dass heute Mittwoch ist. Und Mittwochabend ist bekanntermaßen AH-Abend. Zumindest in 9 von 10 Sportvereinen. AH, das sind die „Alten Herren“ – betagtere oder zumindest bemerkenswert lauffaule Spieler, die trotz ihres gehobenen Alters einfach nicht die Füße stillhalten können. Ausgestattet mit einem halben Dutzend Kniebandagen, einem grenzenlosen Fußball-Sachverstand und 20 Euro für Weizenbier veranstalten sie deshalb einmal wöchentlich auf dem Sportplatz ein Spektakel, das seinesgleichen sucht. Und Sie sollten sich das unter keinen Umständen entgehen lassen!
Das Wichtigste zuerst: Sie sollten unbedingt pünktlich sein! AH-Spieler fackeln nicht lange, sie kommen gleich zur Sache. Das Aufwärmprogramm entfällt diese Woche. Und auch nächste Woche. Denn mit den knapp bemessenen Kräften muss sorgsam hausgehalten werden. Einmal kurz mit der Hüfte gewackelt, ein Knacken mit dem Kniegelenk – und schon läuft der Ball beim Spiel „Alt gegen Jung“. Team „Jung“, das sind die Spieler unter 50. Ein wilder Haufen jugendlicher Raufbolde, die jeglichen Respekt vor dem Alter vermissen lassen. Das sorgt selbstverständlich schon beim ersten Zweikampf für jede Menge Sprengstoff. Den Neuen aus der zweiten Herrenmannschaft hat man besonders auf dem Kieker, schließlich führt der sich seit geschlagenen drei Wochen auf wie van Bommel im Porzellanladen. Dass er nach vier Minuten bei einem Eckball im Fünfmeterraum allen Ernstes zum Kopfball hochsteigt, bringt das Fass zum Überlaufen. Vom Dienstältesten wird er nun höflichst darum gebeten, künftig ein paar Gänge herunterzuschalten. Schließlich sei man hier nicht beim Preisboxen auf der Kirmes. Der Jungspund schaut kurz irritiert, doch die mahnenden Blicke seiner Mitspieler erinnern ihn daran, wer hier das Sagen hat. Ja, die Alten Herren wissen, wie mit Störenfrieden umzugehen ist.
Und sie wissen, wie man Fußball spielt. Wer bei einem Altherrenspiel meint, als Außenverteidiger auflaufen zu können, hat die Lacher auf seiner Seite. Hier wird selbstverständlich noch mit Libero gespielt. Raumdeckung? Davon spricht in ein paar Jahren doch sowieso niemand mehr. Ähnlich wie von Stabilisationsübungen oder dem Frauenwahlrecht. Was jedoch nicht heißt, dass es den Teams an taktischer Raffinesse mangelt. So mancher Nachwuchs-Trainer kann sich vom AH-Fußball eine gehörige Scheibe abschneiden und in seinen Laptop legen. Barcelona, Manchester City, Bayern München – sie alle mögen beeindruckend viel Ballbesitz haben und das Mittelfeld dominieren. Herzlichen Glückwunsch. Doch im AH-Fußball gibt es kein Mittelfeld. Es gibt nur Abwehr und Angriff. Das mag auf den ersten Blick lustig erscheinen, ist es aber nicht. Wer einmal mit seiner Herrenmannschaft ein Testspiel gegen ein AH-Team absolvieren musste, der weiß, wo Bartel den Most holt. Vorne vergeht einem gegen eine ganze Armada von Katsche Schwarzenbecks recht schnell der Spaß und hinten ist man eigentlich immer in Unterzahl – was schnell zu Ergebnissen wie im Tischtennis führt. Und wer dann am Ende die Nase vorne hat, ist mehr oder weniger Glückssache. Oder vom argumentativen Geschick der Spieler abhängig.
Denn eines ist klar: Trotz aller taktischen Zaubertricks mit Vorstoppern, Mittelläufern und einem 4-0-6-System bleibt das Mundwerk noch immer das wichtigste Hilfsmittel eines jeden AH-Kickers. Die gegnerische Mannschaft bis zum Erbrechen mürbe zu quatschen, gehört zu den Kernkompetenzen der Alten Herren. Kaum passiert der Ball eine Seitenauslinie, wird diskutiert. Wer zuletzt am Ball war, ob es zuvor ein Foul gab, ob der Ball überhaupt hinter der Linie sei oder ob man darüber nun „wirklich diskutieren“ müsse. Dies dürfte einer der Gründe sein, weshalb es auch für Schiedsrichter eine der größten Herausforderungen darstellt, ein AH-Spiel zu pfeifen. Lässt man sich auf derartige Diskussionsrunden ein, kann man als Unparteiischer schon einpacken. Die Mehrzahl der AH-Spieler gehört zu jenem Schlag von Menschen, die sich berufen fühlen, weil sie zuhause einen beleuchteten Globus im Arbeitszimmer stehen haben. Entsprechend lassen sie sich von ihrer Meinung nur äußerst ungern abbringen – erst recht nicht von einem unerfahrenen Grünschnabel, der ihnen erzählen will, wie Fußball funktioniert. Es geht in diesem Fall schließlich um die Geisteshaltung, die hier zur Schau getragen wird. Hilfsweise auch ums Prinzip.
Hat man sich schließlich mühsam zum Sieg gequasselt, ebbt die Entrüstung allerdings auch ebenso schnell ab, wie sie aufgekommen ist. Und die unüberbrückbare Feindseligkeiten entpuppen sich bei einer Handvoll Weizen als fruchtbarer Boden für allerlei Fußballphilosophie. Und auch hier zeigt sich recht schnell: Wenn es den Fußball nicht gäbe, würde er noch an Ort und Stelle erfunden werden. Mitsamt Libero, Vorstoppern und Kniebandagen.
Die Leiden des Schiedsrichters
Warum eigentlich Schiedsrichter werden? Klare Sache: Weil man umgeben ist von den hilfsbereitesten Menschen der Welt.
Markus Merk, arrivierter Schiedsrichter der Fußball-Bundesliga in den 1990er-Jahren, beantwortete die Frage nach dem Reiz des Daseins als Unparteiischer sinngemäß einmal wie folgt: „Ein vollbesetztes Stadion, aufgeheizte Stimmung – und alle warten nur darauf, dass du einen Fehler machst und sie dich auspfeifen können! Was gibt es Schöneres für einen Schiedsrichter?“. Ja, es ist eine beeindruckende Art von Masochismus, mit der sich Markus Merk so durch sein Leben pfeift. Allerdings: Der Mann arbeitet hauptberuflich auch als Zahnarzt. Für die allgemeine Erheiterung seiner Mitmenschen zu sorgen, scheint nie eines der Hauptanliegen Merks gewesen zu sein.
Doch zurück zum Thema: Was gibt es wohl Schöneres, als sich mit einer Meute betrunkener Dorftrottel konfrontiert zu sehen, die im Minutentakt lautstarke Mutmaßungen über die berufliche Tätigkeit der eigenen Mutter in den Raum stellt? Unzähligen Schiedsrichtern in Deutschlands Amateurligen fällt auf diese Frage wohl ein ganzes Potpourri an Antworten ein. Die eigene Mutter zum wöchentlichen Treffen des örtlichen Landfrauenvereins zu begleiten, beispielsweise. Oder in der Vereinskneipe zu sitzen und wortlos Bier zu trinken. Oder auch einfach nur vor sich hinzustarren. Doch aus irgendwelchen Gründen haben sich all die ehrenamtlich pfeifenden Männer in Schwarz für ein härteres Los entschieden. Das Los, den Bewegungsradius eines Mittelkreises zu haben und sich von Spielern, die den Bewegungsradius eines Mittelkreises haben, vorwerfen lassen zu müssen, dass man lediglich den Bewegungsradius eines Mittelkreises habe. Es sind dies Unterhaltungen direkt aus der Hölle des Amateurfußballs.
Doch das Trauma der Schiedsrichter beginnt schon wesentlich früher, spätestens bei der routinemäßigen Kontrolle der Spielerpässe. Eine viel zu kleine Kabine gefüllt mit einer Männerhorde auf Voltaren und Franzbranntwein zu betreten, ist eine Sache. Sich bei der Kontrolle der Spielberechtigungen allerdings den stümperhaften Täuschungsversuchen ganzer Spielklassen ausgesetzt zu sehen, eine völlig andere. Dass man sich auf Clubseite mitunter nicht einmal die Mühe macht, zumindest den Pass eines Spielers mit derselben Hautfarbe vorzuzeigen, grenzt dabei schon an den Tatbestand des Groben Unfugs.
Besser wird es für den Unparteiischen in der Folge dann auch nicht mehr. Hat er einigermaßen Glück, verzichten die Vereine zumindest auf das Abspielen der Champions-League-Hymne beim Einlaufen der Mannschaften. Anschließend folgt das rituelle Gemeckere der 22 Spieler auf dem Platz, die sich offensichtlich die gesamte Woche über im Trainingsbetrieb ausschließlich mit dem Fußballregelwerk auseinandergesetzt haben. Mit ihrem neu erworbenen Fachwissen wollen sie nun – hilfsbereit wie sie sind – den Schiedsrichter in seiner Arbeit unterstützen. Ein Hinweis auf „Zeitspiel!“ in der fünften Minute, ein „Ball gespielt!“ nach einem Zweikampf mit Tötungsabsicht – und natürlich der voller Inbrunst vorgetragene Einwand, dass es „definitiv gleiche Höhe“ und „niemals Abseits!“ gewesen sei. Auch dann nicht, wenn der betroffene Spieler beim Abspiel schon kurz vor Konstantinopel stand.
Bemerkenswert ist überdies die Fähigkeit vieler Spieler, ihr eigenes Gebaren durch das Verhalten des Schiedsrichters zu erklären. Selbst wenn im Personalausweis das Geburtsjahr 1978 angegeben ist – die eigene Mündigkeit scheint mancher Kicker mitsamt seinem Schamgefühl bei der Passkontrolle an den Unparteiischen abgegeben zu haben. Wenn ein Spiel vollkommen aus dem Ruder läuft, jeder Einwurf von einer ausgewachsenen Rudelbildung begleitet wird und der Torhüter sich in der Halbzeitpause noch einmal die irrsten Ausraster von Oliver Kahn auf YouTube anschaut, ist daran natürlich der Schiedsrichter schuld. Diesem ist die Leitung des Spiels schließlich bereits in der Anfangsphase der Partie entglitten, als er es versäumte, ein Trikotziehen mit der Gelben Karte zu ahnden. Klare Sache. Und nun müssen mal wieder die Spieler die