Endstation Engadin. Gian Maria Calonder

Endstation Engadin - Gian Maria Calonder


Скачать книгу
der Saal.

      Und endlich versprach der Götti: »Wir räumen dir morgen noch ein Zeitfenster ein.«

      Danach gelang es Richi, das Schluchzen zu unterdrücken und auch das letzte Bild zu kommentieren: »Der in den Sechzigerjahren mit einem Stahlkasten versehene Be 4/6 1607 am dritten Juni 1974 in Luino. Wegen ihres etwas klobigen Aussehens wurden sie liebevoll ›Geranienkistchen‹ genannt und hatten die seltene Achsfolge A1A A1A. Bis 1994 verschwanden die letzten Fahrzeuge dieses von 1923 bis 1927 gebauten Typs.«

      Das tat auch er. »Etwas frische Luft schnappen«, murmelte er, als er an den Tischgenossen vorbeiging.

      Capaul ging ihm nach. Dabei sah er den Hotzenplotz bei der Tür stehen, er musste sich nachträglich hineingeschlichen haben.

      Richi stand am Ende des Vorplatzes an einen Altglascontainer gelehnt und trocknete sich mit einem karierten Stofftaschentuch die Tränen.

      »Wie kindisch, so zu heulen«, sagte er mit kläglichem Lachen, als er Capaul kommen sah, und schnäuzte sich ausgiebig. »Aber für uns Alte ist eben die Erinnerung alles, was wir haben. Auf diese Be 4/6 waren wir ja so stolz, und auf uns, denn man musste schon ein ganzer Kerl sein, um sie zu meistern. Beschleunigung auf der Rampe von null auf fünfzig in gerade mal zweieinhalb Minuten, stell dir vor!« Er seufzte, dann suchte er eine trockene Stelle im Taschentuch und schnäuzte sich nochmals.

      Capaul sah hoch in den Nachthimmel, der so tiefschwarz und klar war, dass er die Milchstraße im ersten Augenblick für ein Nebelband hielt. »Was gibt es da noch zu sagen. Aber weißt du, wir Menschen sind doch sehr klein im Vergleich mit alldem da draußen.«

      »Wo?«

      »Da oben.«

      Richi folgte seinem Blick. Kurz waren beide still, dann nickte er. »Wohl wahr. Du verstehst es zu trösten, Massimo. Ich glaube, wir können wieder rein.«

      Im Saal begann gerade die Pause, die Ersten kamen heraus, um zu rauchen. Darunter war auch Hermi.

      »Du hast noch gar nichts von dir erzählt«, sagte er zu Capaul. »Was ist eigentlich dein Steckenpferd?« Der Götti gesellte sich zu ihnen, und Richi ging allein weiter.

      »Mein Steckenpferd?« Capaul dachte nach. »Ich fange gerade an, mich für Märchen und Sagen zu interessieren.«

      Hermi tat das offensichtlich nicht. »Aha«, sagte er bloß. »Und was tust du beruflich?«

      »Ich bin Polizist.«

      »Ei, ei, ei«, rief Hermi aus, »im Ernst?«

      Und der Götti neckte: »Einer von der Trachtengruppe, sieh mal an. Wie viele böse Buben hast du bisher eingelocht?«

      »Erst einen, ich bin aber ganz neu dabei. Davor war ich ein paar Jahre Pfleger in einem Sterbehospiz.«

      »Echt? Das wird ja immer schlimmer«, feixte Hermi.

      Der Götti nickte. »Das stelle ich mir auch deprimierend vor.«

      Capaul schüttelte den Kopf. »Kranke Menschen können deprimierend sein, aber sterbende sind sehr schön. Wenn sie sich erst damit abgefunden haben, dass sie gehen, fangen sie an zu leuchten. Fast so, als wären sie schon drüben.«

      »Drüben«, wiederholte der Götti, »und wo ist das?«

      Capaul lachte. »Ja, das ist die große Frage. Aber manche Menschen wurden so schön und ruhig, dass ich richtig Sehnsucht danach bekam.«

      »Gesülze«, warf ein Zigarillo rauchender Schnauzbart ein, den Capaul bisher nicht bemerkt hatte. »Der im Tunnel hat wohl kaum geleuchtet.«

      »Richtig, du als Bulle weißt da bestimmt mehr«, witterte Hermi.

      Capaul hob die Schultern. »Nur, dass es ein Mineur von der Baustelle war.«

      »Aber stimmt es, dass er gehäutet wurde?«

      Capaul zögerte. »Es war jedenfalls ein Unfall.«

      Der Schnauzbart trat seinen Zigarillo aus. »Scheiße mit Reis, auf die Art will ich echt nicht abkratzen.«

      Das war das Stichwort für den Götti. »Genießen wir also das Leben, solange wir können«, sagte er und klatschte in die Hände. »Leute, es geht weiter. Allez, les philosophes.«

      Während sie gemeinsam zurück ins Haus gingen, fragte Capaul: »Habt ihr eine Idee, wo ich ab morgen unterkommen könnte? Meine Vermieterin hat mit dem Zimmer andere Pläne, und ich kann partout nichts Zahlbares finden. Reist nicht bei euch einer früher ab?«

      »Oder tritt ab«, scherzte der Götti, »wie der Mineur? Nein, nichts in Sicht. Wobei mir einfällt, der Moor hat in Bever eine ganze Pension gemietet, wohlgemerkt die Traumpension eines jeden Eisenbahnfreunds, direkt in der Streckenverzweigung Engadin–Albula. Nur mag er keine Gesellschaft.«

      »Probieren kann ich es ja. Wo finde ich diese Pension?«

      »Brauchst du gar nicht, er steht da drüben bei der Tür. Peter Moor. Er besteht darauf, dass man ihn siezt.«

      Er zeigte auf den Hotzenplotz.

      »Ha«, entfuhr es Capaul, denn er war in der Mittelschule ein halbes Jahr lang mit Schillers Räubern gequält worden. »Nomen est omen.«

      Doch der Götti verkündete bereits die Startliste des zweiten Blocks. Capaul setzte sich so, dass er Peter Moor im Auge behielt.

      Die zweite Vortragsrunde geriet fröhlich. Ein dadaistisch anmutendes Gedicht auf das Modellbahnzubehör der Firma Sommerfeldt wurde gegeben, und Jacek hielt einen Vortrag, der zum munteren Ratespiel ausartete. Der Lärmpegel stieg rasant, Capaul hielt sich die Ohren zu, und als er zu Moor hinsah, war der verschwunden. Hastig erhob er sich und eilte nach draußen, der Götti gab ihm noch aufmunternd das Zeichen: Daumen hoch.

      Erst glaubte Capaul, er habe ihn verloren, doch er hatte nur in die falsche Richtung geschaut. Der Hotzenplotz ging nicht dem Inn zu, was naheliegend gewesen wäre, wenn man nach Bever wollte, sondern zügigen Schritts quer über den Parkplatz und den angrenzenden Hof bergwärts. »Herr Moor«, rief er und rannte ihm nach. »Herr Moor, warten Sie!«

      Der Hotzenplotz missachtete die Rufe und schritt noch energischer aus. Capaul erreichte ihn dennoch, der Hotzenplotz blieb kurz stehen. »Was fällt Ihnen ein, meinen Namen in die Welt hinauszuschreien?«

      Er ging weiter, einen Kanal entlang, Capaul folgte ihm.

      »Verzeihen Sie, es ist dringend.«

      »Für mich nicht.«

      Sie überquerten den Kanal und gingen auf der anderen Seite zurück. Sie folgten einem Sträßchen mit verstreuten Einfamilienhäusern.

      »Wohin gehen wir?«

      »Ich weiß nicht, wohin Sie gehen. Ich gehe schlafen.«

      »In Ihre Pension? Deshalb wollte ich Sie sprechen. Ich bin ab morgen ohne Bett.«

      Der Hotzenplotz bog abermals ab, sie nahmen eine Art Feldweg, der sich aber nach und nach verlor. Zuletzt gingen sie querfeldein. Der Mond war aufgegangen, dennoch fiel es Capaul schwer, sich zu orientieren. Erst als der Hotzenplotz eine Kamera mit riesigem Teleobjektiv aus der Tasche zog und die Gebäude auf der anderen Seite des Kanals fotografierte, erkannte er das CVJM-Heim wieder.

      »Es ist zappenduster. Wozu tun Sie das? Warum von hier aus? Vorhin waren Sie viel näher dran.«

      »Mich reizt die Herausforderung«, sagte Herr Moor, nachdem er zwei-, dreimal abgedrückt hatte, steckte die Kamera ein und setzte seinen Weg fort.

      Sie erreichten den Inn und gingen in Richtung Bever. Capaul sah, dass ein Pfad vom CVJM-Heim direkt in den Weg mündete, sie hatten eine unnötige Schlaufe von wohl zwei Kilometern gemacht.

      Um das unangenehme Schweigen zu brechen, sagte Capaul: »Jedenfalls brauchen Sie keine Angst vor mir zu haben, ich bin Polizist.«

      »Ich habe vor niemandem Angst. Und falls Sie mich warnen


Скачать книгу