Endstation Engadin. Gian Maria Calonder

Endstation Engadin - Gian Maria Calonder


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Zimmer hat es?«

      »Ich habe es gemietet, weil ich meine Ruhe haben will.«

      »Hand aufs Herz, ich bin der ruhigste Mitmensch, den Sie sich wünschen können.«

      »Ja, ganz offensichtlich.«

      »Ich meine, ich kann ruhig sein. Mehr als ruhig, verschwiegen wie ein Grab.«

      Der Hotzenplotz verschärfte abermals das Tempo.

      Capaul kam ins Keuchen, aber er wollte das Gespräch nicht abreißen lassen.

      »Zu welcher Gruppe Tschutschu-Bähnler gehören Sie denn?«, erkundigte er sich, dann lachte er, daraus wurde ein Husten. »Dumme Frage, bei der Riesenkamera. Ich selbst habe heute Abend ja nur Bahnhof verstanden.« Das Wortspiel war ihm passiert, und er freute sich darüber. Der Hotzenplotz verzog keine Miene.

      Sie gingen nun parallel zur Kantonsstraße, dazwischen lag der Inn. Immer wieder wurden sie von entgegenkommenden Autos für einige Sekunden geblendet.

      »Finden Sie den Ausdruck ›Tschutschu-Bähnler‹ unhöflich?«, redete er weiter vor sich hin. »Robin hat Sie heute so genannt. Robin und Laura, das sind zwei der Schüler im CVJM. Sehen Sie.«

      Er zückte den Fidget Spinner und gab ihm Schwung.

      »Den habe ich von Laura. Vielleicht wird das ja mein Hobby. Jedenfalls wäre das ein sehr leises Hobby, auch wenn der Spinner etwas schnarrt, er ist nicht gut gelagert. Wenn ich damit in meinem Zimmer spiele, können Sie sich leicht einbilden, Sie wären allein.«

      Er hatte nicht mehr mit einer Antwort gerechnet und zuckte zusammen, als der Hotzenplotz sich ihm zuwandte und fragte: »Sie kennen die Kinder im CVJM?«

      »Nicht alle. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«

      »Gehen Sie dort aus und ein? Und wissen die, wer Sie sind?«

      »Ja, tun sie. Und wenn ich mit dem Spinner auf ein höheres Level kommen will – man sagt doch ›Level‹? –, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Außer Robin kenne ich keinen, der mir die Tricks und Kniffe zeigen könnte.«

      Sie hatten sich wieder von der Straße entfernt und erreichten eine Wegkreuzung.

      »Ich biege hier ab«, erklärte der Hotzenplotz. »Wohin müssen Sie?«

      »Für heute habe ich noch ein Bett in Samedan.«

      »Dann gehen Sie weiter geradeaus. Da vorn ist schon der Flugplatz von Samedan. Pensiun Trais Piz, ich erwarte Sie morgen früh um neun.«

      Capaul wusste vor Überraschung nichts zu sagen, und der Hotzenplotz hatte auch nichts erwartet, sondern marschierte bereits auf die Lichter von Bever zu. Fast sah es aus, als renne er.

      Capaul zögerte, ob er zurückgehen und das Auto in La Punt holen sollte, doch Samedan schien ihm näher. Der Weg machte allerdings einen Schlenker und führte nah an den Berghang, den Wald entlang und an einem kleinen See vorbei. Das alles war bei Tageslicht sicherlich sehr malerisch, doch jetzt wäre ihm eine befahrene Straße lieber gewesen.

      Capaul sagte sich, dass Angst in dieser Lage ein durchaus gesunder Reflex war. Und mit einem Mal erinnerte er Silkes Worte, die Erinnerung war ganz klar, wie eingebrannt.

      Zum Leben gibt es zwei Wege. Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg.

      Gleich fühlte er sich in der Nacht, im Schatten der Bäume, die das Mondlicht auf ihn warf, in der Kälte und Klarheit der Bergluft so sehr zu Hause, dass ihn nichts mehr erschrecken konnte.

      Selbst als er an die Leiche dachte, sich ausmalte, wie er an Fluris Stelle den blutigen Klumpen Mensch gefunden hätte, fühlte er mehr Zärtlichkeit als Schauder. Erst hätte er ihn gewaschen – wo eine Wasserscheide war, da war auch Wasser. Er hätte die gebrochenen Glieder gestreckt und den Körper zugedeckt. Er hätte an seiner Seite gewacht und ihn vor Aasfressern beschützt, Ratten und Füchsen. Dann hätte er Silke geholt, damit sie für den Toten las und sang, denn in diesem Augenblick konnte er sich keine schönere Art denken, von dieser Erde verabschiedet zu werden.

      Ganz versunken spazierte er bis Samedan. Bernhild war bei Peter oder schon zu Bett gegangen, jedenfalls war im Wassermann alles dunkel.

      Sie hatte ihm bereits das Frühstück gedeckt – Brot in der Plastiktüte, je einen kleinen Napf Butter und Marmelade sowie Kaffee in der Thermoskanne – und die Rechnung auf den Teller gelegt.

      Daneben lag das leere Zuckersäckchen einer Konditorei:

       Das Verlangen nach Gegenliebe ist nicht das Verlangen der Liebe, sondern der Eitelkeit.

       Friedrich Nietzsche

      Und darunter, mit einem halb ausgetrockneten Kugelschreiber gekritzelt: »Capaul, leb wohl.«

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