Malmedy - Das Recht des Siegers. Will Berthold

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Besuch dauerte tatsächlich nur fünf Minuten. Und er endete, äußerlich gesehen, ergebnislos. Aber der Oberst, sonst weit davon entfernt, sich von Gefühlen beeindrucken zu lassen, muß immer wieder an das Mädchen denken. Alles in allem wirkte sie sicher, natürlich, unpathetisch.

      Ihrem Bruder war es gelungen, einen Brief aus der Zelle, in der er seit Monaten in Einzelhaft saß, zu schmuggeln. Aber würde nicht auch ein Mörder seiner Schwester gegenüber beteuern, unschuldig zu sein? Und würde nicht auch die Schwester eines Mörders annehmen, daß ihren Bruder keine Schuld träfe?

      Am gleichen Tag noch fordert der Colonel die Akten des Gefreiten Werner Eckstadt an. Am gleichen Tag noch entschließt er sich, diesen Fall mit äußerster Gründlichkeit zu untersuchen. Ganz egal, wie seine Recherche ausgeht. Der Oberst wird auf der Seite des Rechts stehen. Auf der Seite der Menschlichkeit. Des Anstands. Der Sitte. Und wenn er diesen verdammten Deutschen in die Hände arbeiten müßte. Und wenn er sie einzeln vom Galgen abschneiden würde. Und wenn das Unrecht seines Landes durch die ganze Weltpresse ginge. Und wenn er sich an den Präsidenten persönlich wenden müßte.

      Der Fall wird symptomatisch für den ganzen Malmedy-Prozeß sein. In ihm werden sich die Verbrechen widerspiegeln, hüben wie drüben. Und der Fall Eckstadt wird beweisen, daß das Verbrechen an keine bestimmte Uniform und an keine Nationalität und an keine Sprache gebunden ist. Daß es hüben wie drüben Mörder gibt, geborene, feige, hinterlistige Mörder. Und doch ist da ein Unterschied: vom Staat systematisch zu Mördern erzogene Menschen gibt es nur in einer Diktatur.

      Und Menschen gibt es hüben wie drüben …

      Am 7. August 1944 begann der Leidensweg des Gefreiten Werner Eckstadt. Er stand wie jeden Morgen am Kasernenhof und hörte nur mit halbem Ohr hin. Immer der gleiche Seich, den der Spieß vor dem Genesungshaufen des Panzerregiments zu verzapfen hatte: Wer Latrine reinigt, wer Kartoffeln schält, wer Wache schiebt, wer in Urlaub fährt und wer zur Nachuntersuchung muß …

      Die Genesungskompanie stand im Drillich und ohne Koppel auf dem Kasernenhof einer mitteldeutschen Kleinstadt. Das dazugehörige Panzerregiment verblutete in Rußland. Nur wer dem Tod von der Schippe sprang, hatte Aussicht, nach der Entlassung aus dem Lazarett eine Weile unter der Leitung von Hauptfeldwebel Hanke die Kaserne zu polieren. Aber nicht zu lange. Wenn sich die Knochen wieder halbwegs bewegen ließen, unterschrieb der Stabsarzt die Fahrkarte … in die Ewigkeit oder bis zum nächsten Mal.

      Später erinnerte sich der Gefreite Eckstadt noch an alle belanglosen Einzelheiten des Tages, der die entscheidende Wendung in sein Leben brachte. Im dritten Glied stehend, hatte er mit dem Fuß Kringelzeichen in die Schlacken des Kasernenhofs gezeichnet. Sein Nebenmann bohrte in der Nase. Plötzlich stank es fürchterlich.

      „Hier hat einer nen toten Vogel in der Tasche“, sagte ein Obergefreiter. Alle schienen sich über den Gestank zu freuen.

      „Was gibt’s zu lachen, Herrschaften?“ fragte der Spieß. Aber er interessierte sich nicht weiter dafür. Er gab die Parole bekannt und schob sein Buch wieder unter das zweite Knopfloch der Uniformjacke.

      Bevor er wegtreten ließ, sagte er noch:

      „Eckstadt, Sie melden sich anschließend auf der Schreibstube.“

      Sicherheitshalber ging der Gefreite erst noch einmal auf seine Stube zurück, um sich mit dem angebissenen Kunsthonigbrot zu beschäftigen. Er war lange genug beim Kommiß, um zu wissen, daß es in diesem Krieg nichts gab, was nicht noch eiliger werden konnte.

      Der Spieß nickte mit dem Kopf, als Eckstadt die Hacken zusammenschlug und sich bei ihm meldete.

      „Nee“, sagte er, „nicht zu mir. Zum Chef.“

      Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter. Er hatte nur noch einen Arm. Für den anderen hatte er das „Deutsche Kreuz in Gold“ bekommen, das die Landser „Spiegelei“ nannten.

      Eigentlich war der Kompanie-Chef, Hauptmann Pfeiffer, ganz in Ordnung. Aber Eckstadt war ihm einmal dumm gekommen.

      „Wollen Sie Offizier werden, lieber Eckstadt?“ hatte ihn der Kompanie-Chef gefragt.

      Der Gefreite antwortete zu spontan:

      „Nein, Herr Hauptmann, ich möchte lieber einen Beruf ergreifen.“

      „Da sind Sie ja“, sagte der Hauptmann jetzt, „… Sie können sich setzen.“

      „Bitte Herrn Hauptmann danken zu dürfen“, salbaderte Eckstadt herunter.

      „Nach der letzten Untersuchung sind Sie k. v.“

      „Jawohl, Herr Hauptmann.“

      „Der Arm ist wieder in Ordnung?“ fragte Hauptmann Pfeiffer und lächelte flüchtig. Er erwartete keine Antwort.

      Eckstadt sah auf die Narbe herab, deren unteres Ende brandrot und violett aus dem Jackenärmel herausleuchtete.

      „Eckstadt, Sie sind abkommandiert.“ Der Hauptmann zog ein Stück Papier aus einem Aktendeckel.

      „Jawohl, Herr Hauptmann“, erwiderte der Gefreite müde. Er hatte längst damit gerechnet.

      „Ja … Aber nicht zur alten Einheit … Sie sind zur SS versetzt.“

      „Nein“, sagte Eckstadt. Es fuhr ihm so heraus.

      „Ich kann’s nicht ändern.“

      Der Kompaniechef stand auf und ging ein paar Schritte hin und her.

      „Es ist nur vorübergehend.“ Es klang beinahe entschuldigend. „Ihre Mutter ist Engländerin?“ fragte der Offizier wie zur nachträglichen Bestätigung.

      „Ja“, entgegnete Eckstadt. Wie sollte er wissen, daß das der Grund seiner Versetzung war. Wie sollte er ahnen, daß ihn seine tadellosen, englischen Sprachkenntnisse direkt in die Hölle führen würden? Eines Tages würde er es begreifen, wenn er ohne Aussicht und ohne Hoffnung, ohne Gnade und Erbarmen, von Verzweiflung und von Todesangst geschüttelt, in ein unentwirrbares Netz von Mord, Lüge, Betrug und Verbrechen verstrickt sein würde … Hauptmann Pfeiffer stand auf. Der Gefreite folgte ihm automatisch. Einen Augenblick standen sie sich dicht gegenüber: der Hauptmann schlank und schmal, mit olivgetönter Haut, die schwarzen Haare wie eine lackierte Kappe am Kopf anliegend; der Gefreite etwas untersetzter, breitschultriger, mit gekräuseltem, sandfarbenem Haar und blitzenden, weißen Zähnen.

      „Sie haben doch nichts gegen die SS?“ fragte Pfeiffer.

      Eckstadt überlegte. Hatte er etwas gegen sie? Einmal mußte sein Regiment eine SS-Division heraushauen. Ein anderes Mal war er selbst von der SS herausgehauen worden.

      Wenn Eckstadt länger darüber nachgedacht hätte, wäre ihm manches eingefallen, was ihm nicht an der SS paßte.

      Der Hauptmann streckte ihm die Hand hin.

      „Alles Gute, Eckstadt … Und machen Sie uns keine Schande.“

      Er ist in Ordnung, dachte der Gefreite, auch wenn er mich an die SS verkauft hat.

      Der Spieß machte die Papiere fertig und bot dem Gefreiten eine Zigarette an.

      Das war der Abschied vom Heer.

      So kam er zur SS.

      Die Einheit, bei der er sich melden sollte, lag mitten in der Heide in einem Barackenlager. Die Straße dorthin war ungepflastert. Ein langer Saum von Birken stand traurig daneben. Eckstadt machte ein saures Gesicht. Er glaubte Füchse und Hasen zu sehen, die einander gute Nacht wünschten.

      Die SS-Leute machten kein großes Aufheben von seinem Erscheinen. Auf den ersten Blick sah alles ähnlich aus wie beim Heer. Die feineren Unterschiede sollte er erst im Laufe der Zeit kennenlernen.

      Er meldete sich auf der Schreibstube beim Hauptscharführer. Das war ein Bulle mit einem Baß und einem Kindergesicht.

      „Na, wollen mal sehen, was uns die Wehrmacht geschickt hat“, sagte er und betrachtete Werner Eckstadt grinsend. „Dich wollten sie wohl loswerden?“


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