Made in China. Tilman Spengler
hat seit langem eine fast körperliche Abwehr entwickelt, sobald das in jeder Sprache dieser Welt dümmliche Wort »interessant« fällt. Das gilt auch jetzt, wo es aus dem Munde einer weiblichen Person kommt, die gerade mit einem Stift und der Knopfleiste ihrer Bluse gespielt hat. Andererseits ist Zwirns Geschlechtsleben seit dem unglücklichen Ausgang seiner Affäre mit Ritotschka in Peking auf Träume und wild neu zusammengefügte Wunschbilder angewiesen.
Daher lässt er sich nicht einmal von dem Wort »interessant« davon abhalten, sich mit der Kollegin zum Abendessen zu verabreden. Der Abend beginnt, wie es sich gehört, in der Abteilung der Kantine, die für privilegierte Gäste reserviert ist. Heute Abend sind sie dort allein, sieht man einmal von der Bedienung ab, die sie nur unauffällig beobachtet.
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Am nächsten Morgen taucht das Wort »interessant« gleich mehrfach wieder auf, diesmal im Bericht der Kollegin aus dem Bereich der Ming-Forschung, die übrigens in russischer Umschrift mit Vornamen Lili heißt.
Es könnte »interessant« sein, schreibt Lili in einem ersten Bericht an die zuständige Stelle ihrer Organisation, sogar »sehr interessant«, dem Hinweis des »ausländischen Gastes« nachzugehen, dass auch eine Systematik des »Nicht-Vorkommens« von erheblicher Bedeutung für das Erkennen einer allgemeinen oder einer besonderen Gefährdungslage wäre. So könne sie jetzt ein annähernd exaktes Bild, praktisch ein Negativ und ein Positiv, des Kollegen aus der Sowjetunion anfertigen. Eben nicht nur, um ein paar Beispiele zu nennen, über die Gerichte bei Tisch, die er bevorzugte, sondern genauso über solche, bei deren Aufnahme er ausgesprochenen Ekel gezeigt habe, wie etwa der sehr speziell zubereiteten sauren Kamelhufsuppe. Oder bei der Auswahl der Getränke, da sei die süße Limonade stets unberührt geblieben. Interessant sei auch der Wortgebrauch des Ausländers, also die Ausdrücke, die er benutzt – oder eben auf keinen Fall verwendet. Mehr dazu finde sich in ihrem nächsten Bericht mit wörtlichen Übersetzungen aus der Fremdsprache.
»Am Morgen nach dem Abendessen haben wir gemeinsam Pingpong gespielt«, hält sie in einem weiteren Absatz fest. »Zwirn spielt nicht zur körperlichen Ertüchtigung, er spielt, um zu gewinnen. Beim Zählen der eigenen Punkte entwickelt er zu seinem Vorteil neue Zahlenfolgen, durch die sich der Stand des Gegners automatisch verringert.«
Zu seinen positiven Merkmalen, so steht es in ihrem Bericht, müsse die Fähigkeit des Fremden gezählt werden, auch mit unbekannten Herausforderungen fertig zu werden. Eine von unserer Partei abweichende politische Festlegung sei auch bei Themen nicht erkennbar, in denen es zwischen den Standpunkten der sowjetischen und der eigenen Führung zu Differenzen gekommen sei. »Der kluge Fisch bewegt sich mit dem Wasser«, habe er als die gültige und wahrhaftige Deutung der Lehren des Großen Vorsitzenden bezeichnet.
In Fragen der bildenden Kunst habe sich der Russe ausdrücklich zum sozialistischen Realismus bekannt, weil dieser von jeher das Ausdrucksmittel der Arbeiterklasse sei. Kunst bedeute ja seit ihrer Entstehung die Unterscheidung zwischen »wahr« und »falsch«.
Im letzten Absatz kommt Lili auch noch auf die Kleidungsstücke des Leo Zwirn zu sprechen, genauer: auf jene, die er sofort und solche, die er überhaupt nicht abstreift. Hier sind ihr die graugestreiften Socken der zu observierenden Person aufgefallen, doch nach kurzem Nachdenken schüttelt sie heftig den Kopf, sodass ihr langer, seidenschwarzer Zopf leicht ins Pendeln kommt. Sie greift zur Schere, schneidet die Passage aus dem Bericht und verbrennt den Papierstreifen sorgfältig mit der Glut ihrer Zigarette im Aschenbecher. Zwar dürfen auch winzige Details wie etwa graugestreifte Socken, das hat Lili in der Schulung gelernt, nicht unterschlagen werden. Dennoch: Als Berichterstatterin darf man sich als aufmerksam und verantwortlich, aber keineswegs als übereifrig zu erkennen geben. Das gilt auch für das Private.
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Kommissar Wu, der Stählerne Wu, hat den Bericht von Lili dreimal sorgfältig gelesen und verpasst dem Dokument den obligaten Stempelabdruck, bevor er es dem Gesamtdossier über Zwirn hinzufügt. In einer Pappschachtel liegen bereits das Protokoll der Untersuchung von Zwirns Gepäck und seit gestern die schriftliche Analyse zu den toxikologischen Befunden über die Medikamente aus dem kleinen Lederkoffer.
Diese Befunde erfüllen den Kommissar immer noch mit einem Gefühl der Befriedigung, wie er es sonst nur kennt, wenn er einen Täter nicht nur überführt, sondern ihn auch noch zu einem gerichtsverwendbaren Geständnis gebracht hat.
Die Genossen vom Städtischen Gesundheitsamt haben nur zwei Tage gebraucht, um die Substanzen in den nicht näher etikettierten braunen und grauen Fläschchen zu identifizieren. In die Sprache des Laien übersetzt handele es sich um Extrakte von Morcheln, insbesondere von Stink- und Spitzmorcheln, vom Glänzenden Lackporling und dem Dunkelrandigen Düngerling, zusammengefasst: von Pilzen, denen allen der Ruf anhängt, entweder die männliche Zeugungskraft oder die weibliche Lust zu stärken. Das Labor habe die Fläschchen nach der Analyse mit Ersatzstoffen nachgefüllt, wieder verschraubt und in den Lederkoffer zurückgepackt, ohne Spuren zu hinterlassen.
›Es handelt sich also‹, denkt Kommissar Wu, ›recht beurteilt, um ein kleines, doch gut knatterndes Feuerwerk von vier Glücksfällen. Wir haben hier erstens einen ausländischen, somit international erfahrenen Experten, der nach Auskunft der Genossin Lili in Kunstfragen so ungewöhnlich vielfältig zu verwenden ist wie bei der Fahndung nach politisch Verdächtigen. Was, nebenbei bemerkt, polizeitaktisch wohl ertragreich miteinander zusammenhängt. Wir verfügen zweitens über deutliche Hinweise, dass der Lebenswandel dieser Person durch ein ihn ständig gefährdendes Triebleben leicht zu überwachen ist. Wir haben es drittens, das gefällt mir ganz besonders, mit einem Ausländer zu tun, der in keiner offiziellen Meldeliste geführt wird, außer eben der unseren. Ein Mann ohne Zugehörigkeit. Woher er, viertens, seine männlichen Lock- und Kraftstoffe bezieht, wird er mir auch noch verraten. Ein Mann, ganz zu unseren Diensten, zu Diensten unseres Volkes.‹
›Aber auch zu den meinen‹, beschließt Kommissar Wu, der sich so gern wie häufig im zwanglosen Gespräch nach dem Ende einer politischen Konferenz als »Lenzwunder« bezeichnet und dafür auch persönliche Statistiken ins Feld führt. Jetzt entzündet er zufrieden eine Zigarette der Marke »Langes Leben«, von der er zur Sicherheit stets zwei Packungen in der Uniformtasche bewahrt. Aus halbgeschlossenen Lippen pufft er ein ovales Rauchzeichen hoch zu den Gipsköpfen von Marx, Engels, Lenin und Stalin auf dem Regal mit den Klassikern. ›Vier Glücksbringer‹, denkt er. ›Genau vier. Alles Ausländer.‹ Ein grauer Kringel verharrt in einem trägen Flügelschlag eine Weile über der hohen Stirn von Lenin. Den verehrt die Mutter des Kommissars als Einzigen der Gruppe, weil sie beim Anblick des Kopfes an eine Erscheinung, wenn nicht gar an die Wiedergeburt des Buddhas erinnert wird. Keine Ahnung, woher plötzlich der Gedanke an die Mutter kommt. Wu überlegt seit langem, ob er die kleine Gipsstatue des russischen Revolutionärs nicht bald einmal entfernen soll. Auf einem Hausaltar hat sie jedenfalls nichts zu suchen. Die Zeiten ändern sich rasch, und die korrekte Bewertung historischer Figuren nach den Leitlinien der Herrschenden ist in China stets ein heikles Unterfangen gewesen. Daran hat der Sozialismus wenig geändert. Nein, recht besehen überhaupt nichts. Man muss ständig auf der Hut sein. Auch deswegen soll Zwirn sich hier zunächst einmal wohlfühlen wie ein kleiner Goldkarpfen im Teich. Man darf es ihm nur nicht zu deutlich zeigen.
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Als wäre das Bild des kleinen Goldkarpfens auf magischen Wellen weitergeschwommen, taucht es ein paar Stunden später bei einer kleinen Feier auf, die Frau Wang, die Restauratorin des Museums in Xi’an, zum Einzug des russischen Gastes in seine neue Wohnung ausgerichtet hat. Auch Frau Wang kennt die Quelle für Kaviar und Wodka im Laden hinter dem Bahnhof und hat dort schon am Morgen üppig eingekauft. Frau Wu, »der Merker« aus dem Parteibüro, weiß, dass man den Teig für Blini fast genauso zubereitet wie jenen für gebratene chinesische Maultaschen. Auf diesem Gebiet ist sie sogar eine anerkannte Spezialistin und darüber hin aus von beschämender Großzügigkeit, bedenkt man, dass Sesamöl zu dieser Zeit streng rationiert, zudem nur über Sondermarken an verdiente Mitglieder der Partei abgegeben