Made in China. Tilman Spengler

Made in China - Tilman Spengler


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für den späteren Nachmittag im Park verabredet haben und jetzt auf ihrer Bank sitzen.

      »Allererste Qualität, so etwas gab es bei uns schon seit langem nicht mehr.«

      »Sie kochen für den jungen Gast aus der Sowjetunion. Der kommt heute Abend zurück.«

      »Habt ihr auch schon gehört, dass er blaugestreifte Strümpfe trägt, die bis über das Knie reichen?«

      »Ich bleibe trotzdem dabei: Der Kerl wird uns Glück bringen.«

      Auch wenn der Gast nichts von diesen Gesprächen erfährt, wird der kleine Empfang zu einem berührenden Erfolg. Leo Zwirn isst und trinkt sich schnell in heitere Ausgelassenheit. Er legt auf seinem Grammophon Walzer von Glinka und Chatschaturjan auf, alle zu den Themen »Zauber« oder »Freundschaft«, und erzählt das »Abenteuer eines dummen Deutschen«, entnommen einer Erzählung seines Landsmanns Nikolai Leskow. Diese Erzählung handelt, das weiß nur Frau Wang, von einem Fremden, der sich bei seinen Gastgebern in Petersburg aus Gefallsucht oder aus Hunger durch den hemmungslosen Verzehr von Blini beliebt machen will. Dass dieser Held allerdings am letzten Blini erstickt, kann Zwirn nicht zu Ende erzählen, weil Frau Wu, »den Merker«, gerade in diesem Moment ein Anfall ihres rätselhaften Schluckaufs ereilt. Hier kann vielleicht das Wort »Hunger« ein Auslöser gewesen sein. Doch da den Umstehenden die Körpersprache der Frau Wu genauso vertraut wie unbegreiflich ist, wird sie schnell hinter einen Wandschirm geführt und dort mit einem milden Tee versorgt.

      Zwirn verbeugt sich kurz vor dem Schirm, hebt dann erneut das Glas und bietet seinen Kollegen und selbstverständlich sehr galant auch den Kolleginnen die Verbrüderung an.

      »Nennt mich einfach Leo«, ruft er, spricht aber im Gefühl des Glücks den Vornamen auf Englisch aus, schon um zu zeigen, dass Fremdsprachen, ganz gleich welcher Herkunft, nicht zwischen ihm und den neuen Freunden stehen werden. Da seine Aussprache aber nicht perfekt ist, vernehmen seine Zuhörer: »Liu«, wie in Liu Tolstoi.

      Darauf trinken die Versammelten. Zwirn wirft spielerisch sein geleertes Glas aus dem offenen Fenster. Diesem Beispiel folgt zwar nur der Museumsdirektor, der achtet aber darauf, dass er den Wurf in genau dergleichen schwungvollen Bewegung ausführt, wie sie der russische Gast vollzogen hat.

      »Wie er seinen Namen Leo aussprach, klang es in unseren Ohren wie ›Li yü‹«, notiert später »der Merker«, »also wie ›Karpfen‹, und da er mit seiner hohen Nase, der fliehenden Stirn und den vorquellenden Augen auch so aussieht wie ein Goldfisch, haben wir ihn unter uns gleich ›Karpfen‹ genannt. Frau Wang hat dann noch den Namen ›junger Goldfisch‹ vorgeschlagen und dabei hell gelacht. Frau Wang wirkt irgendwie anders.«

      Leo Zwirn ist in Xi’an angekommen. Die Rückkehr nach Leningrad bleibt ein Traum.

       6

      Dabei geht es ihm, recht besehen, nicht schlecht, wie er selber in vielen Briefen schreibt, die er abschickt, obwohl er weiß, dass sie nie die Stadt verlassen werden. Er nennt diesen Vorgang seine »Flaschenpost«, bewahrt aber aus Vorsicht immer eine Zweitschrift. Einmal als Erinnerung an das, was er gern seinen »noch unvollendeten Lebensroman« nennt, zum anderen, weil er in seinen Schreibstil verliebt ist und sich schwertut, die eigenen literarischen Erzeugnisse einem blinden Schicksal zu überlassen.

      Seine offizielle Funktion ist jetzt die eines archäologischen Beraters, das hat ihm Kommissar Wu in einem dienstlichen Schreiben mitgeteilt, das mit gleich drei feuerroten Stempeln ausgestattet war. Zwirn hat das zunächst verdutzt, weil er in seinem Studium Bezug zur Archäologie nur über die Liebschaft mit einer Kommilitonin aufweisen kann, deren Vater über ein Segelboot verfügte, das aus unerklärlichen Gründen vor etwa dreißig Jahren auf den Namen »Heinrich Schliemann«, den deutschen Entdecker von Troja, getauft worden war.

      Frau Wang hat ihm aber erklärt, dass der Beruf des Archäologen in China eine Wertschätzung bedeutet, die der eines Astrophysikers in der Sowjetunion gleichkäme. Beide seien als Deuter von menschlicher und kosmischer Vergangenheit, daher auch für weitere Verläufe des Schicksals von höchster gesellschaftlicher Wichtigkeit. So stünde ihm, Zwirn, bereits ein Dienstwagen der mittleren Klasse zur Verfügung, ein Chemiker, ein Agrarexperte oder ein Botaniker könne von einem solchen Privileg nur träumen. Im Augenblick sei der Anspruch auf einen Dienstwagen allerdings nur rein formal.

      »Du wirst dennoch deinen Weg machen. Im Chinesischen haben wir dafür ein Sprichwort, übersetzt heißt es: ›Wenn der Wagen erst einmal zum Berg kommt, findet er auch seinen Weg.‹«

      »Dann machen wir dort ein Picknick«, antwortet Zwirn höflich, der glaubt, zwar die Absicht verstanden zu haben, doch über die rechte Deutung des Sprichworts noch nachdenken muss.

       7

      Frau Wang hat auf der letzten Sitzung der Museumsleitung angeboten, Zwirn im Chinesischen zu unterrichten. Diese Aufgabe ist zurzeit nicht so leicht, wie von der Konservatorin gedacht. Die Sowjetunion hat mit großen Gesten ihre »freundschaftlichen Beziehungen« zu China abgebrochen. Ein erstes Opfer dieses radikalen Schnitts ist auf chinesischer Seite der Zugang zu russisch-chinesischen Textbüchern, Grammatiken, Fibeln mit Beispielsätzen und vielen anderen pädagogischen Hilfsmitteln. Das ist bitter. Es kommt aber noch schlimmer, nämlich durch die Anordnung, alle sich bereits im Verkehr befindlichen Materialien unverzüglich an die zuständige Zentralstelle zurückzusenden.

      »Geschichte ist eine Herausforderung, der wir uns jederzeit gewachsen zeigen«, ruft Kommissar Wu, als er den Mitarbeitern die neue Direktive vorträgt. »Die zuständige Zentralstelle befindet sich vorerst in meinem Büro.«

      Es zeigt sich allerdings auch auf diesem Gebiet, dass staatliche Ordnungsmaßnahmen oft nur sehr grobmaschig wirken. Das Löschen von Vergangenheit, selbst wenn es zunächst ausschließlich um den Ausdruck von Gefühlen geht, trifft häufig auf verstockte Herzen in der Bevölkerung. Wer zehn Jahre lang, wenn auch nicht immer aus eigenem Antrieb, Freundschaft gepflegt hat, offiziell oder privat, muss schließlich auf die Wahrung seines Gesichtes bedacht sein.

      »An Stalin wird man doch noch festhalten dürfen«, hört man selbst im Büro des Parteisekretärs.

      »Und was ist mit den anderen Russen, etwa mit Marx und Engels«, fragt der Kader, der seit jeher für politische Schulung zuständig ist, »sollen deren Bilder jetzt auch abgehängt werden?«

      Zudem dürfen die praktischen Folgen dieser Maßnahme nicht unbeachtet bleiben: Lehrbücher, gerade solche mit technischen Ausdrücken, enthalten oft Hinweise, die für den Umgang mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs unverzichtbar sind. Für das Reparieren einer Pumpe sowjetischer Herkunft etwa. Oder eines Mikroskops, wie es für Archäologen unerlässlich ist. Vielleicht auch für die Instandsetzung einer Klimaanlage. Emotionale und praktische Momente greifen in diesem Fall wie Zahnräder ineinander.

      Ökonomisch betrachtet sind staatliche Sanktionen bekanntlich ein zuverlässiger Anreiz für eine üppige Blüte des Schwarzmarkts und der Imitationen. Die Stadt Xi’an macht da keine Ausnahme. Bald vertreibt der kleine Laden hinter dem Bahnhof nicht nur Wodka und Kaviar. Auf ein bestimmtes Stichwort können die Kunden hier auch Lehrbücher der russischen Sprache und darüber hinaus freizügige Liebesromane erwerben, auf deren Titelseite unter einer galanten Graphik nie der Hinweis fehlt: »Eine kleine russische Erzählung«. Die Autoren dieser Werke arbeiten übrigens in einem Kollektiv, das sich jeden Samstag im Teehaus, nach zwei Runden Schnaps, eine neue Registriernummer ausdenkt, wie sie für die staatliche Zulassung von Publikationen zwingend erforderlich ist.

      Frau Wang weiß von dieser Quelle für alle möglichen Formen von Literatur, benutzt sie aber nicht, denn sie fürchtet, dass auch Kommissar Wu über persönliche Beziehungen zu diesem Laden verfügt. Als materielle und als Informationsquelle. Sie beginnt also ihren Sprachunterricht mit der Übersetzung von Losungen, die überall in der Stadt auf Mauern oder Plakaten zu lesen sind: »Wir unterstützen unsere Bauern beim Einbringen einer Rekordernte in den Fünf Getreidesorten!« Zwirn muss die Losung wiederholen und dann in den Satz umwandeln: »Ich unterstütze unsere Bauern


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