MEMORIAM - Auch deine Stunde schlägt. Caroline Stein
Ruhm des Teams, in dem er aber nur ein kleines Rädchen war. Und das war ihm viel zu wenig. Er wollte selbst Geschichte schreiben und sie alle wussten noch nicht, dass er damit bereits auf der Zielgeraden war. Doch er musste vorsichtig sein. Zu oft schon war er mit seiner Kritik an der Genmanipulation aufgefallen. Und auffallen wollte er jetzt noch nicht.
Die Brünette unterbrach seine Gedanken, als sie den Arm hob und den Vorhang zur Bühne ein wenig zur Seite schob. »Sobald Sie dort stehen, ist das Lampenfieber wie weggeblasen«, flüsterte sie noch und war dann im Dunkel der Kulissen verschwunden.
»Und nun darf ich Ihnen einen der ganz großen Wissenschaftler unserer Zeit ankündigen. Es ist uns eine Ehre, dass er sich bereit erklärt hat, uns heute über die neueste wissenschaftliche Entwicklung in der Genforschung zu berichten: die Genschere CRISPR/Cas9 und ihre ethische Problematik. Freuen Sie sich mit mir auf Professor Mateo Ramirez vom IBUB.«
Tosender Beifall erfüllte den Saal. Mateo holte noch einmal tief Luft und trat auf die Bühne. Wie in Trance schüttelte er dem Vorsitzenden die Hände.
»Meine sehr geehrten Damen und Herren.« Mateo hatte kaum die ersten Worte gesprochen, da fiel die Panik von ihm ab, als hätte er einen Umhang abgeworfen. Er fühlte sich plötzlich völlig entspannt und ganz in seinem Element. »Ich freue mich, Ihnen heute von einer wissenschaftlichen Errungenschaft erzählen zu können, die unser Leben schon jetzt verändert hat und in Zukunft noch mehr verändern wird: der sogenannten Genschere CRISPR/Cas9. Nachdem die meisten von Ihnen mehr mit der juristischen Welt als mit der wissenschaftlichen Materie vertraut sind, möchte ich Ihnen erst einmal einen kurzen Abriss der Fakten geben.
Als die Wissenschaft Anfang 2000 dabei war, die Erbsubstanz zu entschlüsseln, da dachte man, es würde einen Knall geben, eine Tür würde sich öffnen und man könnte dann den kompletten Menschen im gleißenden Licht der Wissenschaft bis ins kleinste Detail erkennen, zerlegen und verstehen.
Die Realität war jedoch, dass es hinter der Tür stockfinster war und man beschämt mit den Worten des Sokrates feststellen musste: ›Ich weiß, dass ich nichts weiß‹. Aber dank der intensiven Arbeit von so großartigen Wissenschaftlern wie Emmanuelle Charpentier stehen wir heute zumindest in einem etwas helleren Raum.«
Ramon saß mit einer kleinen Gruppe seiner Jurastudenten in der vorletzten Reihe. Sie waren durch Beziehungen an Karten für den Vortrag gekommen und Ramon hatte das Los entscheiden lassen, wer von seinen zukünftigen Juristen das Glück haben würde, dabei zu sein.
Dass er vor drei Jahren die Stelle als Dozent für Jura an der Universitat Pompeu Fabra, kurz UPF, bekommen hatte, hatte er hauptsächlich seinem früheren Doktorvater zu verdanken.
Jetzt lauschten sie alle gebannt den Ausführungen des Wissenschaftlers.
»Das, was wir heute über die menschliche DNA wissen, möchte ich Ihnen kurz aufzeigen. Und damit es nicht zu kompliziert für Sie wird, versuche ich es mit einem Bild.
In jeder einzelnen unserer Zellen tragen wir unser Erbgut: die DNA. Sie ist der Bauplan für Aussehen, Interessen, Essgewohnheiten, Krankheiten und vieles mehr, das unser ganz persönliches Leben prägt.
Jede Zelle stirbt einmal und der Körper muss eine neue, identische Zelle herstellen, damit das Organ so bleibt, wie es sein soll. Jeden Tag werden unzählige dieser neuen Zellen in unserem Körper produziert. Und dazu braucht es eine Bauanleitung, damit die neuen Zellen exakt ihrem Vorgänger entsprechen. Um die Zelle wieder identisch herzustellen, wird der Bereich aus der DNA, auf dem die Bauanleitung steht, von einem Enzym kopiert. Daraus wird dann die neue, genau gleiche Zelle hergestellt. Das ist so, als würden Sie ein Rezept kopieren.
Und wie beim Kochen brauche ich unterschiedliche Rezepte. Für Bohnensuppe benutze ich eine andere Anleitung als für Kürbissuppe. Für Leberzellen brauche ich eine andere Anleitung als für Nierenzellen. Damit die jeweiligen Enzyme wissen, in welchen Bereichen der DNA die Bauanleitung für ihre Zelle steht, ist diese markiert. So, wie man in ein Kochbuch ein Lesezeichen legt. An der Stelle, an der das Lesezeichen steckt, beginnt dann die richtige Anleitung. Kommt das Enzym an die falsche Stelle, oder ist das Rezept zu Ende, wird das Enzym blockiert und kann nicht weiterlesen.
Hier kommt jetzt die geniale Wissenschaftlerin Frau Emmanuelle Charpentier zum Einsatz. Sie wollte die Mechanismen verstehen, die die infektionsabhängigen Prozesse steuern. Dabei hat sie spezielle Sequenzen in den Genen entdeckt, die sich wiederholen. Diese gehören zu einem System, das Bakterien dabei hilft, Viren zu zerstören.
Dazu muss man wissen, dass Viren die Feinde allen Lebens sind. Sie schmuggeln falsche Informationen in unsere Gene und unsere Enzyme haben dann falsche Bauanleitungen. So entstehen viele Krankheiten. Die Viren greifen sogar Bakterien an. Deshalb haben die Bakterien ein System entwickelt, um Viren zu zerstören. Wir können jetzt das System der Bakterien dazu benutzen, um Gensequenzen zu verändern. Es heißt CRISPR/Cas9. Da es sehr einfach und effizient Gene aus der DNA entfernt, nennt man es auch die ›Genschere‹.
Das habe ich jetzt sehr vereinfacht dargestellt. Im Grunde ist das Ganze immens komplex und kompliziert und wir stehen noch ganz am Anfang der Forschung.
Dennoch wissen wir inzwischen, dass unsere Gene weitaus mehr enthalten als nur Informationen, die unseren Körper beeinflussen. Sie speichern auch Erlebnisse unserer Vorfahren, über viele Jahrhunderte, die jetzt vielleicht wie ein Film abrufbar sein werden.«
Wie ein Blitz durchfuhr Ramon dieser Satz des Professors. Er musste sofort an Sophie denken. »Genetisch gespeicherte Erinnerungen«. Das war vielleicht die Erklärung für den »Traum« den sie vor sechs Jahren gehabt hatte. Er hätte gerne noch viel mehr über dieses Thema erfahren, aber das war zu seinem Bedauern nur eine Randbemerkung im Vortrag gewesen. Der Professor nahm bereits einen neuen Gedankenfaden auf.
»Man wird in Zukunft Großes mit der Genschere CRISPR/Cas9 erreichen. Krankheiten wie Alzheimer, Krebs und Erbkrankheiten aller Art wird man ganz unkompliziert heilen und Erbgut verändern können, so dass Kinder nicht mehr mit genetischen Schäden geboren werden. Ja man kann möglicherweise Kinder sogar so planen, wie man sie gerne möchte. Man wird das Altern aufhalten können, so dass Menschen nicht mehr mit neunzig Jahren an ihren Gebrechen sterben, sondern mit zweihundert oder dreihundert Jahren noch jugendlich aussehen und irgendwann einfach tot umfallen.
Sie werden jetzt denken: ›Dieser Wissenschaftler ist doch völlig verrückt‹. Aber erinnern Sie sich bitte einmal an Ihre Urgroßeltern und stellen sich vor, jemand hätte damals gesagt: ›Eure Enkel werden ein Foto schießen und innerhalb von zehn Sekunden rund um den Globus schicken, so dass es jeder auf der Welt sehen kann‹. Was hätten die dann dazu gesagt?
Um nun wieder zum Thema zurückzukommen. Das alles ist keine Spinnerei. Es ist Realität.
Fakt ist, dass mit Hilfe von CRISPR jede Zelle und jedes Genom, also auch die Erbsubstanz, umgeschrieben werden kann.
Diese CRISPR/Cas-Methode ermöglicht nun DNA-Manipulationen von bislang ungeahnter Präzision und Bandbreite. Denn diese Art der Genmanipulation ist viel, viel einfacher als alles Bisherige. Sie ist so simpel, dass man sie in jedem Labor vornehmen kann.
Wir leben in einer Zeit, in der das Undenkbare möglich geworden ist und wir in die Vererbung des Menschen eingreifen können.
Und an dieser Stelle treten nun Sie auf den Plan. Wir brauchen dringend eine ethische Basis für diesen neuen Bereich der Wissenschaft. Was ist erlaubt? Und wem ist es erlaubt? Wie weit dürfen wir gehen? Darf man entscheiden, welche Gene im Genom von Embryonen bleiben und welche verändert werden? Oder begnügt man sich damit, Krankheiten bei jedem Einzelnen zu heilen? Denn wenn die Gene der Erbsubstanz verändert werden, dann kommen sie in den Genpool. Das bedeutet eine Veränderung der ganzen Spezies Mensch, die nie mehr rückgängig gemacht werden kann.
Man darf nicht vergessen, dass diese Forschung noch sehr jung ist und man überhaupt noch nicht absehen kann, welche unbeabsichtigten, fatalen Veränderungen sie im Erbgut verursachen könnte.
Denken Sie daran: Genmanipulation ist nicht erkennbar. Es ist nicht wie Strom oder Energie, die man messen kann. Genveränderungen werden weitergegeben, ohne dass wir es wissen. Möglicherweise