MEMORIAM - Auch deine Stunde schlägt. Caroline Stein

MEMORIAM - Auch deine Stunde schlägt - Caroline Stein


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brauchen wir dringend Gesetze, die uns vor leichtsinnigen Laien und zu ehrgeizigen Wissenschaftlern schützen. Und wir brauchen ethische Grenzen.

      Mein Kollege Baltimore hat gesagt: ›CRISPR ist wie ein Hochgeschwindigkeitszug, der den Bahnhof schon verlassen hat – keiner kann ihn mehr stoppen‹. Die Frage ist, ob wir ihn wenigstens bremsen und die Methode wirklich nur für gute Zwecke einsetzen können.

      Wir müssen handeln, um uns vor uns selbst zu schützen. Und das so schnell wie möglich. Das ist die Aufgabe von Ihnen: Juristen, Ethiker und Geisteswissenschaftler sind jetzt gefragt. Wir brauchen Grenzen, die sinnvoll sind.

      Wir dürfen nicht vergessen, dass es in China bereits Wissenschaftler gibt, die offiziell die ersten, mit CRISPR/Cas9 veränderten menschlichen Embryos erzeugt haben. Diese waren zwar von Anfang an nicht lebensfähig, aber die Technik schreitet rasant voran. In den USA laufen ebenfalls Versuche, bei denen Embryonen gentechnisch verändert werden.

      Legen wir also Grenzen fest, bevor wir vor Tatsachen stehen, die unser Leben unwiderruflich und mit unabsehbaren Konsequenzen verändern. Es ist nicht einfach, aber wichtiger als jede andere Entscheidung – und zwar heute und nicht erst morgen.

      Vielen Dank meine Damen und Herren.«

      Der Beifall war tosend. Zu sehr betraf das Thema jeden Einzelnen, als dass es hätte die Zuhörer kalt lassen können.

      *

      Zügig stand Ramon auf. »Wir treffen uns nachher auf der Terrasse der Banketthalle.« Seine Worte an die fünf Studenten gingen im stürmischen Beifall des Publikums unter.

       Eilig bahnte er sich einen Weg durch die aufbrechende Zuhörerschaft Richtung Rednerpult. Es drängte ihn, mit dem Wissenschaftler Kontakt aufzunehmen. Und er hatte Glück. Vor ihm, im Gespräch mit Mateo Ramirez, stand nur ein grauhaariger Mann mit einer altmodischen Stoffhose und einem Trenchcoat. Bereits nach ein paar Minuten schüttelten sich die Männer die Hände und der Trenchcoat wandte sich zum Gehen. Im Umdrehen trafen sich ihre Augen. Ramon durchzuckte es. Die Augen. Er kannte sie – diesen Blick. Aber er wusste nicht woher. Er hatte den Mann vorher noch nie gesehen.

      »Sie wollten mich sprechen?« Der Wissenschaftler riss ihn aus seinen Gedanken.

      »Oh ja, entschuldigen Sie. Ich dachte nur, ich kenne diesen Mann.«

      Mateo Ramirez lächelte. »Nun, dann haben Sie mir etwas voraus. Ich habe ihn eben erst kennengelernt. Er ist ein englischer Forscher.« Er drehte die Visitenkarte um und warf einen Blick darauf. »David Cambridge.«

      »Entschuldigen Sie«, Ramon reichte Mateo Ramirez die Hand, »ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Ramon Carroz und ich bin Dozent an der UPF. In Ihrem Vortrag haben Sie von genetischen Erinnerungen gesprochen und das hat mich an eine Freundin von mir erinnert. Sie hatte einen Traum, der sich nachträglich als historisch wahr herausgestellt hat. Vielleicht können Sie mir ja dazu etwas erklären. Die Frage, wie das wissenschaftlich möglich ist, beschäftigt mich schon sehr lange.«

      Mateo Ramirez begann zu schwitzen. Er spürte, wie ihm schwindlig wurde. Das war genau das Puzzleteil, wovon er geträumt hatte, das Teil, das ihm in seiner geheimen Forschungsarbeit noch gefehlt hatte: ein Mensch, bei dem sich schon einmal unabhängig von einer Hypnose eine genetische Erinnerung gelöst hatte. Wenn das stimmte, dann war das die Entdeckung auf seinem Weg zum Ruhm. Er war völlig überzeugt, dass diese sogenannten Rückführungen, in denen ein Mensch im Trancezustand vermeintlich über seine vorherigen Leben erzählte, einen wissenschaftlichen Hintergrund hatten.

      »War dieser Traum in Hypnose?«, erkundigte er sich. Er versuchte, gelassen zu wirken, obwohl sein Puls schon wie ein Wasserfall in den Ohren rauschte.

      »Nein.« Ramon schüttelte den Kopf. »Sie hat einen Tee aus einer alten afrikanischen Wurzel zu sich genommen.«

      Mateo hatte Mühe, seine Aufregung zu unterdrücken. »Das ist eine faszinierende Geschichte, die Sie mir da erzählen und ich würde mich unheimlich gerne mit Ihnen treffen und mehr darüber erfahren.« Er griff in seine Tasche und drückte Ramon seine Visitenkarte in die Hand. »Bitte melden Sie sich bei mir.«

      »Sehr gerne.« Ramon hatte nicht mit einem so großen Interesse des Professors gerechnet. Er zog ebenfalls seine Visitenkarte heraus und konnte sie Mateo Ramirez gerade noch in die Hand drücken, als ein junger Mann mit einem Satz auf die Bühne sprang.

      »Herr Ramirez, darf ich Sie ganz kurz stören?« Und ohne ein »Ja« oder »Nein« abzuwarten ratterte er weiter. »Ich bin ein großer Fan von Ihnen. Sie nehmen die Wissenschaft und Forschung ernst, aber ohne nur auf Gewinn zu spekulieren und vor allem ohne die Ethik aus dem Blick zu verlieren.« Er reichte Mateo die Hand und gleichzeitig mit der anderen eine Visitenkarte. »Ich bin freier Journalist und arbeite für die El Mundo

      Ramirez hatte gar keine andere Wahl, als dem Journalisten seine Aufmerksamkeit zu schenken, aber Ramon hatte schon mehr erreicht, als er erwartet hatte. Vielleicht konnten sie sich bald einmal mit Mateo Ramirez treffen. Er betrachtete im Hinausgehen die Visitenkarte des Wissenschaftlers.

      Den Mann im Trenchcoat hatte er schon wieder vergessen.

       Barcelona

      Es war bis ins kleinste Detail genauso gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Seine erste Reise wieder nach Barcelona zurück war völlig unauffällig gewesen. Sein erster Versuch, nach sechs Jahren zurück nach Europa zu kommen, war damit gelungen. Er hatte den Mann getroffen und das, was der gesagt hatte, war sehr hilfreich für seine weiteren Pläne.

      Aber jetzt hatte es einen Rückschlag gegeben. Er war sich zwar sicher, dass die Spuren nichts ergeben würden, denn er war sehr vorsichtig gewesen. Aber trotzdem ärgerte es ihn. Es wäre gar nichts passiert, wenn er den Schlüssel für den Eingang der Klinik gehabt hätte, aber letztendlich würde der kleine Einbruch bald in Vergessenheit geraten sein. Niemand wusste um das Kuckucksei – oder sollte man besser sagen um »die Kuckuckseier«. Ein teuflisches Grinsen zog sich über sein Gesicht.

      Und morgen würde er wieder den gleichen umständlichen Weg zurück nehmen, wie er nach Barcelona gekommen war. Und dieser würde für niemanden nachvollziehbar sein. Er hatte noch eine Rechnung offen, dort, wo er die letzten Jahre hatte verbringen müssen – er und Torian. Diese Rechnung musste er noch begleichen. Dann würde er das schreckliche Land für immer hinter sich lassen, das Land, welches die letzten Jahre seine Zuflucht gewesen war.

      Er hörte das leise Wimmern von Pedro. Es war selten, dass der sich noch meldete.

      Eine Weile hatte es so ausgesehen, als ob Pedro sich gegen ihn und Torian auflehnen wollte. Damals hatte er die Frechheit besessen, eine der Frauen zu befreien. Er und Torian hatten geschlafen und es nicht bemerkt. Und dann war Torian wach geworden, hatte die Frau zum Glück wieder geschnappt und Pedro gezeigt, wer der Meister war. Seine Wut war grenzenlos gewesen und Samuel hatte fasziniert zugesehen, welche unvorstellbaren Ausmaße Torians Raserei annehmen konnte.

      Danach hatte Pedro nie wieder aufgemuckt und nur noch ab und zu gewimmert. Torian und er hatten ihm gezeigt, wer die Herren in diesem Körper waren.

      Er sah sich in dem mickrigen Zimmer des heruntergekommenen Stundenhotels um. Die zerschlissenen Tapeten erinnerten Pedro plötzlich an etwas. Er schrie auf. »Du darfst sie nicht schlagen!« Pedro war wieder der kleine Junge, der versuchte, seine Mutter vor dem gewalttätigen Vater zu beschützen. »Nein!«, schrie er, »Nein!«

      Und wie damals tauchte plötzlich Samuel auf. »Halt die Klappe, Pedro«, fauchte er jedoch diesmal.

      Als er damals den Vater getötet hatte, war es Pedro wie eine Befreiung erschienen.

      Jetzt wusste er, dass es der Anfang der Sklaverei durch Samuel und Torian gewesen war. Und diese Sklaverei hatte ihren Höhepunkt der Grausamkeit noch lange nicht erreicht.

       Dienstag, 24. Juli 2018

       Barcelona

      »Ramon, ich weiß nicht. Das ist doch


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