Heilung. Wolfgang J Bittner
Grundlage unseres theologischen Denkens ist. Dahinter steht die Hoffnung, dass aus einer theologischen Klärung auch eine Erneuerung unserer Praxis kommen kann. Auf Veröffentlichungen, in denen Heilungserfahrungen geschildert werden, wird an geeigneter Stelle hingewiesen.
Die These des Buches sieht sich Missverständnissen ausgesetzt, zu denen vorweg kurz Stellung genommen werden soll. Die Beschäftigung mit dem Thema Krankenheilung erscheint einem wie eine Gratwanderung, bei der ein Absturz nach zwei Seiten hin droht. Auf der einen Seite besteht die Gefahr, dass wir Gottes Kraft einschränken und sein heilendes Wirken allein von Jesu Wiederkunft erwarten. Aus dem Neuen Testament und der reichen Erfahrung der Kirche wissen wir jedoch, dass unser Herr seinen Jüngern »schon jetzt« Anteil an den Kräften seiner noch verborgenen, »noch nicht« in Macht durchgesetzten Herrschaft gibt. Doch was bedeutet das? Drohen wir damit nicht der Gefahr zu erliegen, die auf der anderen Seite der Gratwanderung lauert? Man könnte diese Meinung so stark betonen, dass man von Jesu Wiederkunft überhaupt nichts mehr erwartet. Ist seine heilende Kraft nicht jetzt schon voll da? Steht sie nicht schon jetzt gewissermaßen zu unserer selbstverständlichen Verfügung? Das ist die Gefahr der Schwärmerei. Vor beiden Gefahren werden wir uns zu hüten haben.
Wovon gehen wir aus? Mit Jesu Wiederkunft, auf die unser Leben und unser Dienst ausgerichtet sind, ist uns ein »Datum« gegeben, das uns leiten muss. Erst mit seiner Wiederkunft wird der Tod als der letzte Feind überwunden sein. Vorher ist eine Heilung von Krankheit, ebenso wie eine Totenerweckung, Zeichen der kommenden Herrschaft Gottes und nicht der Normalfall. Solange der Tod nicht vernichtet ist, kann unter uns auch die Krankheit »noch nicht« als überwunden gelten. Hier sind uns Grenzen gesetzt, die ohne Gefahr der Schwärmerei nicht überstiegen werden können. Die Abwehr von Unnüchternheit ist eine der Aufgaben, vor die wir uns vom Neuen Testament her gestellt sehen. Sie ist aber nicht die einzige. Dass Krankenheilung oft in geradezu schwärmerischer Weise hervorgehoben wird, fordert uns dazu heraus, erst recht nach den biblischen Grundlagen dieses Dienstes zu fragen und nach einer Form zu suchen, in der er theologisch verantwortbar getan werden kann.
Sehen wir recht, so weist das Neue Testament auf einen Auftrag, der in Erwartung der Wiederkunft Jesu und der mit ihr kommenden letzten Überwindung des Todes geschieht. Es leitet aber dazu an, von dieser im Kreuz Jesu schon vollendeten, in ihrer letzten Durchsetzung aber noch ausstehenden Überwindung jetzt schon zu leben, gewissermaßen ganz in Hoffnung auf sie hin ausgerichtet zu sein und Gott um Zeichen darum zu bitten, dass seine Herrschaft – verborgen und doch wirklich – jetzt schon unter uns ist. Der Titel des Buches bringt zum Ausdruck, dass Heilungen als Zeichen zu verstehen sind, die für eine kommende Wirklichkeit stehen. Das ist sehr ernst gemeint! Heilung von Krankheit ist, ebenso wie die Auferweckung vom Tode, »noch nicht« der Normalfall. Es sind Zeichen, die auf das hinweisen, was in der Vollendung einmal »normal« sein wird. Als solche Zeichen aber erbitten und erhoffen wir sie aufgrund dessen, was unser Herr uns geboten und verheißen hat.
Damit ist auch deutlich gemacht, dass Krankenheilung nie ein menschliches Unternehmen werden kann. Wir sind damit an Gott und seine Freiheit gewiesen, in der er uns seine überwindende Macht zeigen, sie aber auch vor uns verbergen kann. Keinerlei »Machbarkeit« steht uns im Sinn. Da aber Gottes Freiheit nach dem Zeugnis der Bibel in Einheit mit seiner Treue steht, gehört die Bitte um Erweis seiner Kraft mit zu den Aufgaben, die uns für unseren Dienst gegeben sind. Zur Verkündigung der Herrschaft Gottes gehört auch die Bitte, dass er die Gegenwart seiner Herrschaft bezeugen möge. Das tritt nicht zusätzlich zum Auftrag der Kirche hinzu, sondern ist wesentlicher Bestandteil ihres Dienstes. Ein Thema wie das der Krankenheilung lässt sich nicht isoliert abhandeln. Es führt in weite Zusammenhänge, die mit berücksichtigt werden müssen. Vor allem geschieht das da, wo nach einer Erneuerung dieses Dienstes für unsere Gegenwart ernsthaft gefragt wird. Erneuerung, soll sie wirklich verheißungsvoll sein, muss eine umfassende Angelegenheit werden. Darum stieß die Arbeit zu Überlegungen vor, die man auf den ersten Blick unter diesem Thema nicht vermuten wird.
Die vorliegenden Ausführungen sind bewusst nur ein »Zwischenergebnis«. Sie wollen nicht mehr sein. Darum wird um Hinweise, Anfragen und Kritik gebeten, aber auch um Bestätigung und Ergänzung, wo dies möglich und sinnvoll erscheint. Auf ein Problem soll noch besonders hingewiesen werden. Es gibt Themen, bei denen man »gefahrloser« gewagte Thesen äußern darf. Ein Buch, das von Krankheit und ihrer Heilung handelt, wird von Menschen gelesen, die selbst direkt davon betroffen sind. Wer von uns hat in seiner Nähe nicht Menschen, die uns die damit gestellten Probleme anschaulich genug vor Augen führen? Die Nähe von Krankheit zwingt zu konkreten Fragen, auf die konkrete Antworten gefordert sind. Ein Buch kann dafür nur sehr bedingt eine Hilfe sein. Jede Situation ist unauswechselbar. Eine Antwort, die für einen Fall zutreffen mag, kann für einen anderen Menschen falsch sein. Die vorliegende Arbeit will zunächst der Klärung der theologischen Fragen und der Suche nach Möglichkeiten einer erneuerten Praxis dienen. Dennoch sind in Kapitel 11 eine Reihe recht konkreter Fragen aus der Seelsorge zusammengestellt, die immer wieder in Gesprächen auftauchen. Die Antworten versuchen in die Richtung zu weisen, in die man für seine Situation zu sehen hat. Man bedenke jedoch: Solch ein Fragenkatalog kann nie komplett sein und kann auch nie auf die konkreten Probleme eingehen, in denen man selbst steht. Darum seien drei Bitten formuliert:
Bitte helfen Sie mit, den Fragenkatalog in Kapitel 11 zu ergänzen. Er soll möglichst alle Fragen enthalten, die allgemein bedeutsam sind. Bitte helfen Sie mit, indem Sie auf Lücken, Undeutlichkeiten und Missverständlichkeiten hinweisen.
Wer selbst unmittelbar betroffen ist, sei es in eigener Krankheit oder als Mensch, der einen Kranken begleitet, ist gebeten, sich einen Seelsorger zu suchen. In den bedrängenden Fragen der Krankheit sollte man nicht allein bleiben.
Für Mithilfe beim Lesen, kritische Durchsicht und Ermutigung habe ich manchen Menschen zu danken, vor allem meiner lieben Frau und Herrn Prof. Dr. Eduard Buess, dann Frau Dr. med. Verena Schlumpf, Pfr. Dr. Edgar Kellenberger sowie meinen Freunden Christoph Hilty, Pfr. Helmut Burkhardt, Pfr. Dr. Rainer Riesner, Dr. med. Stefan und Irmelin Kradolfer.
Möge das Buch dazu helfen, das Vertrauen in unseren Herrn zu stärken und von ihm zu leben. Jesus Christus ist heute derselbe, der er gestern war. Er wird auch in Ewigkeit derselbe sein.
Wolfgang J. Bittner, Liestal/Schweiz, August 1984
1. Einleitung
»Wenn ihr aber hingeht, so prediget: Das Reich der Himmel ist genaht. Heilet Kranke, wecket Tote auf, machet Aussätzige rein, treibet Dämonen aus!«
Matthäus 10,7f
»Und wo ihr in eine Stadt kommt und sie euch aufnehmen, da … heilet die Kranken, die darin sind, und saget ihnen: Das Reich Gottes ist zu euch genaht.«
Lukas 10,8f
Beide Aussagen der Bibel machen von Anfang an deutlich, dass es sich bei der Frage nach der Krankheit und ihrer Heilung keineswegs um ein Nebenthema handelt. Wir stellen damit die Frage nach dem Auftrag der Jünger und damit zugleich nach dem Auftrag der Kirche. Was hat Jesus seiner Gemeinde zu tun befohlen? Was soll sie im Namen ihres Herrn in dieser Welt ausrichten? Der Auftrag lautet: »Prediget und heilt!« Das Reich Gottes soll den Menschen im Wort der Verkündigung und in der Tat der Heilung nahe kommen. Es ist ein Auftrag, der sich in zwei Grundfunktionen teilt. Von diesen beiden Seiten des einen Auftrags ist die Gemeinde nie entbunden worden.
Teil I: Krankheit und Heilung in der Bibel
2. Krankheit im Alten Testament
2.1. Der Ausdruck »Krankheit« im Alten Testament
Der hebräische Ausdruck, der in unseren Bibelübersetzungen mit »Krankheit« wiedergegeben wird, ist in seiner Bedeutung weitreichend. Er meint ganz allgemein einen Zustand körperlicher Schwäche, die Abwesenheit der vollen Lebenskraft, die einem Menschen gewöhnlich zukommt. Damit sind also auch Zustände eingeschlossen, die wir kaum Krankheiten nennen würden, z. B. Müdigkeit und Erschöpfung. Ja, der Ausdruck umfasst jede körperliche und auch seelische Schwäche, organische Krankheiten und Verwundungen. Der alte Orient kannte bereits genaue Einteilungen von Krankheiten im Blick auf