Transfer im schulischen Drittspracherwerb des Spanischen. Lukas Eibensteiner
sekundär
Tab. 7:
Das spanische und französische Verbalsystem (in Anlehnung an Coseriu 1976: 92–96; vgl. auch Dessì Schmid 2014: 33)
Es handelt sich bei Coseriu also um ein dreistufiges System, das aus einem Grundsystem (d. h. den Zeitebenen und der primären Perspektive) besteht, das die einfachen Tempora beschreibt. Im System der sekundären Perspektive werden die periphrastischen Formen dargestellt und schließlich spricht er von einem System, das die Bestimmung spezieller aspektiver Werte für jeden Zeitpunkt betrifft. Dieses umfasst die Kategorien der Dauer, der Wiederholung, der Vollendung, des Resultats, der Schau und der Phase (vgl. Coseriu 1976: 115). Da das dritte System formal den verschiedenen romanischen Periphrasen entspricht und diese in der vorliegenden Arbeit bis auf wenige Ausnahmen nicht weiter behandelt werden, wird es nicht näher beschrieben (für einen Überblick vgl. ebd.: 96–108).
Coseriu versucht, diskursive Erklärungsansätze (d. h. die Unterscheidung zwischen aktueller und inaktueller Zeitebene) mit zeitrelationalen (d. h. der primären und sekundären Perspektive) zu verbinden. Dieses Zusammendenken der beiden Ansätze und die Beschreibung der zahlreichen aspektiven Werte führen dazu, dass Coserius System relativ schwer zu fassen ist (vgl. Coseriu 1976: 33; Haßler 2016: 189). Dennoch wird seine Beschreibung vor allem in der deutschsprachigen Romanistik weiterhin viel rezipiert.
2.3.4.1 Das Französische
In diesem Kapitel wird die Unterscheidung von perfektiv/imperfektiv im Französischen dargestellt. Da sowohl das passé composé als auch das passé simple zum imparfait in Opposition treten, werden die drei Formen kurz beschrieben und voneinander abgegrenzt. Im Anschluss wird sowohl der conjunction test durchgeführt als auch das Kleinsche System auf das Französische angewandt. Am Ende des Kapitels wird auf die Periphrase être en train de und die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten für die habituelle Semantik eingegangen.
Das Französische kennt die Unterscheidung zwischen perfektiv und imperfektiv nur in der Vergangenheit (vgl. Chevalier et al. 1988: 339–348; Dethloff/Wagner: 2014: 253–257, 263–268; Garey 1957; Mitko 2000; Smith 1997: 193–226; Viguier 2012). Der imperfektive Aspekt wird mithilfe des imparfait ausgedrückt; das passé simple und das passé composé bilden „den perfektiven Pol der Aspektopposition“ (Mitko 2000: 193). Ersteres wird für Ereignisse verwendet, die keinen Bezug zum Sprechzeitpunkt aufweisen. Es stellt eine Handlung als in sich abgeschlossenes Ganzes und als vergangen dar:
Le passé simple […] exprime un fait complètement achevé à un moment déterminé du passé, sans considération du contact que ce fait, en lui-même ou par ses conséquences, peut avoir avec le présent (Grevisse 1986: 1292).
Das passé simple „ist auf den schriftlichen Bereich beschränkt und eignet sich besonders gut zum Einsatz im narrativen Bereich, wo es die Ereignisse in der Handlungssequenz darstellt“ (Mitko 2000: 193). Aber auch in Bereichen der mündlichen Kommunikation, in welchen eine konzeptionelle Schriftlichkeit vorliegt, kann es verwendet werden (z. B. in Radiobeiträgen oder im Fernsehen).
Das passé composé hingegen „wird im Distanz- wie im Nähebereich verwendet und ist heute […] ambivalent zwischen einem Perfekt und einem Perfektivum der Vergangenheit“ (ebd.). Im klassischen Französisch wurde es für Handlungen gebraucht, die nicht vollständig vergangen waren bzw. einen gewissen Bezug zum Sprechzeitpunkt hatten. Heute ist diese ursprüngliche Differenzierung weitgehend verschwunden und sowohl das passé composé als auch das passé simple werden als bedeutungsgleich angesehen. Ähnlich wie beim deutschen Perfekt hängt beim passé composé die Relation zwischen der Topik- und der Äußerungszeit und damit die Frage, ob die perfektische oder die perfektive Lesart zu Tage tritt, vom kontextuellen Umfeld ab (vgl. ebd.: 89). In Beispielsatz 47 wird die Topikzeit durch die Ergänzung je n’ai plus faim maintenant simultan zum Sprechzeitpunkt gesetzt, wodurch die Perfekt-Lesart erzeugt wird. In 48 und 49 hingegen ist die Topikzeit wegen des Adverbiums hier vom Sprechzeitpunkt losgelöst und es setzt die perfektive Lesart ein:
(47) | J’ai déjà mangé; je n’ai plus faim maintenant. |
– – – – – – – < [ TU ] | |
(Beispielsatz aus Smith 1997: 209) |
(48) | Hier il a mangé une pizza. |
[– – – – – – ] < TU |
(49) | Hier il mangea une pizza. |
[– – – – – – ] < TU |
In seiner perfektiven Variante stellt das passé composé eine Handlung als begrenzt und als in sich abgeschlossen dar und tritt (gemeinsam mit dem passé simple) in Opposition zum imparfait (vgl. Mitko 2000: 85–87). Die Verwendung als Perfektivum ist wesentlich häufiger und hat somit einen höheren Stellenwert im französischen Verbalsystem (vgl. ebd.: 167). Dass die Perfektivität Teil der Semantik der zusammengesetzten Form ist, wird durch den conjunction test bestätigt. Ein Kontext, der die Situation bis in die Gegenwart andauern lässt, erzeugt eine unlogische Lesart. Dies trifft sowohl auf telische (Beispielsatz 50) als auch auf statische Prädikate zu (Beispielsatz 51):
(50) | *L’été passé ils ont construit une cabine ; peut-être qu’ils la construisent encore. |
(51) | *Jean a été malade hier soir et il est malade maintenant. |
(Beispiele aus Smith 1997: 194–195) |
Das imparfait hingegen betrachtet das Ereignis als unvollendet und betont dessen Unbegrenztheit: „L’imparfait montre un fait en train de se dérouler dans une portion du passé, mais sans faire voir le début ni la fin du fait“ (Grevisse 1986: 1290). Diese Unbegrenztheit ist dafür verantwortlich, dass das Imperfekt für eine korrekte Interpretation eines sprachlichen oder kontextuellen Ankers bedarf. Es handelt sich somit um ein primär anaphorisches Tempus (vgl. Mitko 2000: 120; Smith 1997: 204; Viguier 2012: 99–100). Diese Unbegrenztheit, aus der sich die Unfähigkeit ergibt, die für die Interpretation notwendigen Konturen sichtbar zu machen, zwingt den Sprecher, eine Innenperspektive einzunehmen. Die Fähigkeit der perfektiven Verbformen hingegen, die Grenzen sichtbar zu machen, ermöglicht es einerseits als Anker für das Imperfekt zu dienen und erzeugt andererseits ein Zurücktreten vom Sachverhalt (eine Außenperspektive), wodurch die Situation in den Vordergrund tritt und als Ganzes sichtbar wird. Daraus ergibt sich auch die „textlinguistische Funktion der Markierung von ‚Vordergrund‘ und ‚Hintergrund‘ einer Erzählung [und] ist damit die Folge der aspektuellen Struktur der Verbformen“ (Mitko 2000: 120; Hervorhebung im Original).
Mithilfe des Kleinschen Systems können das passé composé und das imparfait folgendermaßen voneinander abgegrenzt werden (vgl. auch Mitko 2000: 83–87). Zur Veranschaulichung wird auf die in Kapitel 2.2 genannten Beispiele in etwas modifizierter Weise eingegangen. Der Richter fragt beispielsweise, was der Zeuge zwischen 14 und 17 Uhr gemacht hat, woraus sich ein Topikzeit-Intervall von drei Stunden ergibt. Der Zeuge könnte das Folgende antworten:
(52) | J’ai pris un café avec des amis. |