Seewölfe - Piraten der Weltmeere 698. Sean Beaufort
sich die meerabgewandte Seite einer Düne in die Höhe, von stacheligem, braunen Gestrüpp schütter bewachsen, und versperrte die Sicht auf das Gelände weiter landeinwärts.
Hasard drehte sich um und blickte in die Gesichter Nanaks und Balshaks. Die Bärte waren gewachsen und ungepflegt, die Wangen waren, wie bei ihm und Dan auch, voller Bartstoppeln.
Es wurde Zeit, sagte er sich, einen Abend in einem Badehaus zu verbringen, in einer Anlage wie in Madras, eine halbe Nacht vor ihrem überstürzten Aufbruch. Die Fischer hatten, ohne zu murren, ihr Versprechen gehalten, und es sah nicht so aus, als hätten sie Angst, bei gutem Wind einige Tagesreisen nördlich ihrer bekannten Fischgründe zu verbringen.
Verdammt gute Männer, sagte er sich und wußte sich einig mit Dan O’Flynn. Sie benahmen sich wie die Arwenacks. Sie hatten ihr Boot jederzeit perfekt in der Hand und schienen den Engländern zeigen zu wollen, was gute Seemannschaft auf einem seetüchtigen, schmalen Fischerboot mit zwei Paar Riemen und einem Segel bedeutete, das halb Lateinersegel, halb Dschunkensegel war, und auch nicht mehr lange durchhalten würde. Die Sonne schien bereits durch das mürbe Stoffgewebe.
Nanak und Balshak nickten ihm gleichzeitig zu und grinsten, dann zuckten sie mit den braunen Schultern.
„Und wenn du zehnmal die Pockengöttin anrufst oder die Schwarze, vielarmige Kali“, sagte Balshak schließlich, „es wird nichts helfen. Wir finden dein Schiff, wenn es hier an der Küste ankert, verlaß dich drauf.“
„Ich wünschte, ihr hättet recht“, erwiderte er und stieg wieder hinter den Mast zurück.
Dan schlief und schnarchte, als müsse er die Planken durchsägen. Hasard setzte sich und drehte den Kopf wieder zum Ufer.
Das Boot passierte jetzt die Stelle, an der die Düne am höchsten aufragte wie der stumpfe Bug eines riesigen Schiffes. Nach Norden hin fiel der sandige Hang ab und ging in eine Landschaft über, wie sie entlang dieser Küste tausendmal beobachtet werden konnte: angeschwemmter Sand und Schlick, darauf Buschwerk und, weiter landeinwärts, Hügel und Wälder, ab und zu die Vierecke oder Rechtecke von Feldern und Weiden, und weit dahinter, nur selten aus dem Dunst und der flirrenden Luft hervortretend, das unbekannte, namenlose Gebirge im tiefen Inneren des südlichen Teiles von Indien.
Hasard richtete seinen Blick auf das Land. Es war ziemlich flach, nur wenige Hügel, ein paar Dutzend Fuß hoch, überragten die Schwemmzone und waren vom gleichen Gestrüpp und Buschwerk bewachsen wie das Land. Weiter im Norden erkannte er den dunklen Saum eines tiefgrünen Streifens Dschungel. Keine Hütte, kein Boot am Strand, kein anderes Lebenszeichen.
„Reichlich einsame Gegend hier“, sagte er enttäuscht.
Seine Augen durchforschten das Bild, das sich nur langsam veränderte. Auf die Vögel achtete er schon nicht mehr. Sie waren ein mehr als alltäglicher Anblick. Bis zu dem Punkt, an dem sich Wasser und Land im Hitzedunst versteckten und ineinander zu fließen schienen, gab es in der Linie der Uferwellen und ihrer Gischt keine Unterbrechung. Also auch keinen Kanal, keine Bucht, keine Flußmündung.
Wieder mußte Hasard mit den Schultern zucken. Er sah alles Erdenkliche, nur keine Schebecke oder Mastspitzen.
„Das hat man uns erzählt, vor langer Zeit. Andere Fischer und Händler. Nichts los an der Küste“, sagte Nanak brummig. „Bald wird’s anders aussehen.“
„Hoffen wir’s, verdammt.“
Die Männer schwiegen und beobachteten weiter. Die offene See bis zur Kimm war so leer wie stets während der Stunden seit Sonnenaufgang. An Land gab es nicht mal in weiter Entfernung eine Rauchsäule, die darauf schließen lassen können, daß da ein Haus oder ein Dorf stand. Das Boot glitt weiter nach Nordosten, die Sonne wanderte unendlich langsam über den strahlend blauen Himmel im letzten Monat des Jahres 1599.
Eine Stunde später richtete sich Dan langsam auf, schob den verbeulten Hut in den Nacken und blinzelte.
„Trostlos“, murmelte er und zog sich in die Höhe.
Er stieg nach vorn und betrachtete lange und schweigend die Uferlandschaft. Über einem Gebiet, das er nicht einsehen konnte, kreisten Schwärme kleiner Vögel, über denen auffallend viele größere Tiere ihre lautlosen Spiralen zogen. Die Hitze ließ die Luft flimmern, und Dan kniff, während er sich konzentrierte, die Augen halb zu. Schließlich glaubte er vor dem Hintergrund eines dunklen Waldrandes etwas zu erkennen, das nicht dazugehörte.
„Hasard!“ sagte er halblaut. Seine Stimme wurde scharf, und er zeigte auf einen Punkt, zwei Strich Backbord voraus.
„Ja?“ Hasard junior schrak auf. Am Ausdruck von Dans Stimme hörte er, daß dieser glaubte, eins der verschwundenen Schiffe entdeckt zu haben. Auch er stand auf.
„Dort vorn, links vom dunklen Wandrand und teilweise davor. Ich bin fast sicher, daß ich die Masten der Schebecke sehe.“
Beide Fischer starrten zu der Stelle, zu der Dan O’Flynn deutete. Sie schwiegen, weil sie nicht recht glaubten, daß ihre lange Verfolgung tatsächlich von Erfolg erkrönt sei.
Während die beiden Seewölfe versuchten, den flüchtigen Eindruck festzuhalten und zu erkennen, ob sich an der bewußten Stelle überhaupt Wasser befand und sie nicht einem Trugbild ihrer überforderten Augen unterlagen, schob sich das Boot in quälender Langsamkeit entlang der Küste weiter. Der Schweiß lief in Strömen. Wieder killte das Segel und hing schwer durch.
„Ich glaube, du hast recht“, sagte Hasard schließlich. „Du hast doch die schärfsten Augen. Mit einem Kieker wären wir jetzt ganz sicher.“
Wenn sie recht hatten, dann gab es weiter als eine Seemeile voraus eine Bucht, die ziemlich tief ins Land reichte. Dahinter dehnten sich Wald und steppenartiges Gebiet aus.
Die Minuten verstrichen ebenso langweilig wie immer. Eine Bö sprang auf und füllte wieder das Segel. Das Boot nahm rasch Fahrt auf und steuerte nach Steuerbord hinüber, warf eine winzige Bugwelle auf, und hinter dem Heck fing das Kielwasser an zu gurgeln.
Der Windhauch trocknete den Schweiß. Die Männer holten tief Luft und wischten mit den feuchten Tüchern über ihre Gesichter und die Schultern. Auch der Süßwasservorrat nahm unverhältnismäßig schnell ab.
Ein Stück Uferwald schob sich zwischen das Ziel und das Boot. Als die Nußschale die Ansammlung von Palmen, Büschen und abgestorbenen Mangroven passiert hatte, war auch der Dunst gewichen, und die Luft flimmerte nicht mehr so stark. Das anvisierte Ziel war weiter nach Backbord querab ausgewandert.
Jetzt peilten alle vier Bootsinsassen hinüber und sahen überrascht, daß die Vogelschwärme noch immer, anscheinend aufgeregt, in der Nähe der Bäume und der Masten kreisten, von denen die Gaffelruten schräg, mit festgezurrter Leinwand, auf die Nachmittagssonne deuteten.
„Verdammt! Das sind sie“, sagte Dan fast mit sichtbarer Erschütterung. „Wir haben sie, Hasard.“
„Stimmt. Bei allen Göttern“, sagte Balshak. „Das ist euer Schiff.“
Sie starrten hinüber und schwiegen. Ganz langsam waren sie in der Lage, alle Einzelheiten, die sie sahen, zu einem sinnvollen Bild zu verbinden und dessen Bedeutung zu erkennen. Zuerst entdeckten sie, daß die „Stern von Indien“, die verfluchte Galeere, offenbar spurlos verschwunden war. In der Bucht lag sie nicht, und sie segelte weder südlich davon noch östlich oder, soweit man das feststellen konnte, im nördlichen Sektor.
Dan O’Flynn faßte die Gedanken und Befürchtungen zusammen und erklärten: „Die ‚Stern‘ ist weg. Einerseits beruhigt diese Tatsache. Andererseits wissen wir wie sooft gar nichts. Sind unsere Leute noch an den Riemen? Wo steckt dein Vater? Was ist mit diesem schuftigen falschen Sultan passiert? Wer befindet sich auf der Schebecke?“
Hasard junior ließ die drei Masten – mehr war wegen der Büsche noch nicht zu erkennen – nicht aus den Augen, als er erwiderte: „Also, wer sich auf der Schebecke befindet, das haben wir schnell herausgefunden.“ Er wandte sich an Nanak und Balshak. „Wahrscheinlich könnt ihr uns absetzen und heimsegeln, Freunde.“
„Ich meine“,