Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi. Mari Jungstedt

Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi - Mari  Jungstedt


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Schmutzränder auf der Fensterscheibe deutlich zu sehen. Vor dem Fenster stand ein einsamer Topf mit einem längst vertrockneten Usambaraveilchen.

      Henry Dahlström kam langsam zu Bewusstsein, als aufdringliches Telefonklingeln die tiefe Stille in der Wohnung durchschnitt. Es hallte zwischen den Wänden in dem verwohnten Zweizimmerappartement wider, drängte sich auf, um am Ende den Sieg über den Schlaf davonzutragen, bevor es endlich verstummte. Gedankenfetzen führten Henry unerbittlich zurück in die Wirklichkeit. Er empfand ein abstraktes Glücksgefühl, konnte sich aber nicht an dessen Ursache erinnern.

      Die Kopfschmerzen schlugen zu, als er die Beine über die Bettkante schwang. Vorsichtig setzte er sich auf. Sein Blick irrte vage über das verschwommene Muster des Bettbezuges. Durst zwang Henry, aufzustehen und in die Küche zu taumeln. Der Boden schwankte. Er lehnte sich an den Türrahmen und betrachtete das Chaos.

      Der Küchenschrank stand weit offen, und die Anrichte war überladen mit schmutzigen Gläsern, Tellern voller Essensreste und der Kaffeemaschine mit eingetrocknetem Kaffee in der Kanne. Irgendwer hatte einen Teller auf den Boden fallen lassen. Henry konnte zwischen den Porzellanscherben Reste von gebratenem Hering und Kartoffelpüree erkennen. Auf dem Küchentisch drängten sich Bierdosen und leere Schnapsflaschen, ein überquellender Aschenbecher und ein Stapel Wettzettel vom Rennen.

      Plötzlich wusste er wieder, worüber er sich freuen konnte. Er hatte als einziger Gewinner eine V-5 geholt. Und damit eine, zumindest in seinen Augen, Schwindel erregende Summe gewonnen. Über achtzigtausend waren ihm bar ausgehändigt worden, direkt auf die Hand. Noch nie im Leben hatte er so viel Geld besessen.

      Gleich darauf erkannte er, dass er keine Ahnung hatte, wo das Geld war. Die Angst, es könne verschwunden sein, ließ seinen Magen brennen. Am Vorabend war er offenbar sternhagelvoll gewesen.

      So verdammt viel Geld!

      Seine Blicke liefen unruhig an den halb leeren Fächern des Küchenschranks auf und ab. Er hätte doch Verstand genug haben müssen, um das Geld zu verstecken. Wenn nur niemand von den anderen ... nein, das konnte er nicht glauben. Aber wenn es um Schnaps und Geld ging, wusste man ja nie.

      Er verdrängte diesen Gedanken und versuchte, sich zu erinnern, was er gemacht hatte, nachdem er am Vorabend vom Rennen nach Hause gekommen war. Wo zum Teufel ...

      Aber sicher, natürlich, der Besenschrank. Mit zitternden Fingern zog Henry die Staubsaugerbeutel hervor. Als er die Geldscheine unter seinen Fingern spürte, atmete er erleichtert auf. Er ließ sich auf den Boden sinken, hielt dabei die Beutel in der Hand wie eine kostbare Porzellanvase, und gleichzeitig flimmerte ihm die Frage durch den Kopf, was er mit dem Geld anfangen sollte. Nach Gran Canaria fliegen und Cocktails trinken. Vielleicht Monica oder Bengan einladen – oder warum nicht alle beide?

      Dann sah er das Bild seiner Tochter vor sich. Eigentlich müsste er ihr etwas schicken. Sie war mittlerweile erwachsen und wohnte in Malmö. Kontakt hatten sie schon lange nicht mehr.

      Henry stopfte die Staubsaugerbeutel zurück in den Schrank und erhob sich. Vor seinen Augen tanzten tausend Lichtblitze.

      Nun meldete sich das dringende Bedürfnis nach etwas Trinkbarem zurück. Die Bierdosen waren leer, die Schnapsflaschen auch. Er zündete eine der längeren Kippen aus dem Aschenbecher an und fluchte, als er sich die Finger verbrannte.

      Dann entdeckte er unter dem Tisch eine Flasche Wodka, die noch einen ordentlichen Schluck enthielt. Den goss er sich gierig in den Rachen, und das Karussell in seinem Kopf verlangsamte sich. Er trat hinaus auf den Balkon und atmete die feuchtkalte Novemberluft ein.

      Auf der Schilfmatte lag entgegen aller Erwartung eine ungeöffnete Dose Bier. Er leerte sie und fühlte sich eindeutig besser. Im Kühlschrank fand er ein Stück Wurst und einen Kochtopf mit eingetrocknetem Kartoffelpüree.

      Es war Montagabend, nach sechs Uhr, und der staatliche Alkoholladen hatte geschlossen. Er musste irgendwo Schnaps auftreiben.

      Er fuhr mit dem Bus in die Stadt. Der Fahrer war so nett, ihn gratis mitzunehmen, obwohl Henry sich einen Fahrschein nun doch wirklich hätte leisten können. Beim Östercentrum stieg er aus. In der Luft hing Regen, und draußen war es dunkel und ziemlich menschenleer. Die meisten Läden hatten schon geschlossen.

      Auf einer der Bänke bei »Alis Grillkiosk« saß Bengan mit diesem Örjan, der neu vom Festland gekommen war. Ein unangenehmer Typ; blass, mit dunklen, nach hinten gekämmten Haaren und stechendem Blick und mit einem Bizeps, der keinen Zweifel daran ließ, wie er sich bis zu seiner kürzlich erfolgten Entlassung im Knast die Zeit vertrieben hatte. Er hatte angeblich wegen schwerer Körperverletzung gesessen. Sein Brustkorb war mit Tätowierungen bedeckt, die unter seinem verdreckten Hemdkragen hervorschauten. Henry fühlte sich in Örjans Gegenwart alles andere als wohl, und die Sache wurde auch nicht besser dadurch, dass Örjan immer seinen knurrenden Kampfhund bei sich hatte. Weiß mit roten Augen und viereckiger Schnauze. Hässlich wie die Sünde. Örjan protzte damit, dass der Hund im Stadtteil Östermalm mitten in Stockholm einen Zwergpudel totgebissen hatte. Die kackvornehme Oberklassenkuh, der die Töle gehört hatte, war durchgedreht und hatte Örjan mit ihrem Regenschirm geschlagen, schließlich war die Polizei aufgetaucht und hatte sich ihrer angenommen. Örjan war mit der Mahnung davongekommen, sich eine kräftigere Leine zuzulegen. Sogar das Fernsehen hatte von diesem Zwischenfall berichtet.

      Als Henry sich näherte, stieß der Hund zu Örjans Füßen ein dumpfes Knurren aus. Bengan grüßte mit einem verwackelten Winken. Der Freund war reichlich zugedröhnt, das war schon von weitem zu sehen.

      »Na, wie sieht’s aus? Noch mal einen Herzlichen, meine Fresse, scheißtoll.«

      Bengan richtete seinen trüben Blick auf den Freund.

      »Danke.«

      Örjan zog eine Plastikflasche mit farblosem, unidentifizierbarem Inhalt hervor.

      »Einen Schluck?«

      »Aber sicher.«

      Der Fusel roch scharf. Nach einigen tiefen Zügen zitterten Henrys Hände nicht mehr.

      »Kommt doch gut, so ein Schluck, was?«

      Örjan stellte diese Frage, ohne dabei zu lächeln.

      »Absolut«, sagte Henry und setzte sich neben die beiden anderen auf die Bank.

      »Und wie geht’s selbst?«

      »Na ja, Kopf oben und Füße unten eben«, antwortete Örjan obenhin.

      Bengan beugte sich zu Henry hinüber und pustete ihm ins Ohr.

      »Verdammt, hömma, die ganze Kohle«, zischte er. »Dolle Kiste. Hassu denn damit vor?«

      »Keine Ahnung.«

      Henry schaute kurz zu Örjan hinüber, der sich eine Zigarette anzündete und in den Anblick des Stadtteils Östergravar vertieft war. Er schien nicht zugehört zu haben.

      »Darüber reden wir später«, flüsterte Henry. »Und halt die Klappe, was die Kohle angeht, davon soll niemand etwas wissen. Okay?«

      »Alles klar«, versprach Bengan. »Selbstverständlich, Kumpel.«

      Er klopfte Henry auf die Schulter und wandte sich wieder Örjan zu.

      »Schmeiß mal ’nen Schluck rüber.«

      Dann riss er die Flasche an sich.

      »Jetzt übertreib mal nicht, Mann. Piano.«

      Typisch Örjan, dachte Henry. Der redet immer so komisch. Wieso denn Piano?

      Er wollte nun nur noch den Schnaps haben und dann weg hier.

      »Habt ihr was zu verkaufen?«

      Örjan wühlte in einer abgenutzten Reisetasche aus Kunstleder. Schließlich zog er eine Plastikflasche voll Schwarzgebranntem heraus.

      »Fünfzig Ecken. Aber du kannst vielleicht ein bisschen drauflegen?«

      »Ne. Ich hab bloß einen Fuffziger.«

      Henry zog den Schein hervor und packte die


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