Näher als du denkst - Ein Schweden-Krimi. Mari Jungstedt
Jetzt war sie in eine leise Unterhaltung mit Kriminalkommissar Thomas Wittberg vertieft. Der sah eher aus wie ein Surfer als wie ein Polizist, mit seinem blonden Schopf und seinem durchtrainierten Körper. Ein Partylöwe von siebenundzwanzig mit hohem Frauenverschleiß, der seine Arbeit jedoch tadellos verrichtete. Seine Begabung, was zwischenmenschlichen Kontakt anging, war ihm immer wieder nützlich – als Vernehmungsleiter war er großartig.
Lars Norrby auf der anderen Seite des Tisches war Wittbergs genauer Gegensatz. Groß, dunkel und sorgfältig, an der Grenze zur Pedanterie. Knutas fühlte sich bisweilen von Norrbys Art, aus allem ein Problem zu machen, an den Rand des Wahnsinns getrieben. Sie hatten gleichzeitig bei der Polizei angefangen und waren vor langer Zeit zusammen auf Streife gegangen. Jetzt gingen sie auf die fünfzig zu und kannten die kriminelle Szene auf Gotland ebenso gut wie einander.
Kriminalkommissar Norrby war außerdem Pressesprecher der Polizei und stellvertretender Chef der Kriminalpolizei, eine Lösung, mit der Knutas nicht immer ganz zufrieden war. Der Techniker des Teams, Erik Sohlman, war intensiv, temperamentvoll und eifrig wie ein Spürhund, zugleich aber auch ungeheuer systematisch.
Am Tisch saß schließlich noch Gotlands Oberstaatsanwalt, Birger Smittenberg. Er kam ursprünglich aus Stockholm, war aber schon lange mit einer Gotländerin verheiratet. Knutas wusste Smittenbergs Fähigkeiten und sein Engagement sehr zu schätzen.
Knutas eröffnete die Besprechung:
»Bei dem Opfer handelt es sich um Henry Dahlström, genannt Blitz, geboren 1943. Er wurde gestern Abend um sechs in einem Kellerraum, den er als Dunkelkammer nutzte, tot aufgefunden. Wenn jemand das noch nicht wissen sollte, es handelt sich um den heruntergekommenen Trinker, der früher mal Fotograf war. Er trieb sich meistens unten in Öster herum, und sein besonderes Kennzeichen war die Kamera, die er immer um den Hals trug.«
Am Tisch herrschte tiefes Schweigen, und alle hörten aufmerksam zu.
»Dahlström wurde mit zahlreichen Verletzungen am Hinterkopf aufgefunden. Wir haben es hier eindeutig mit einem Mord zu tun. Sein Leichnam wird heute zur Gerichtsmedizin nach Solna gebracht.«
»Habt ihr die Mordwaffe gefunden?«, fragte Lars Norrby.
»Noch nicht. Wir haben Dunkelkammer und Wohnung durchsucht. Beide wurden auch abgesperrt. Weitere Absperrungen wären sinnlos, da der Leichnam eine Woche unten gelegen hat und Gott weiß wie viele Menschen in dieser Zeit im Treppenhaus unterwegs waren. Dahlström wohnte im Erdgeschoss in einer Eckwohnung. Genau neben dem Fußweg nach Terra Nova. Wir werden die gesamte Umgebung durchkämmen. Die Dunkelheit hat diese Arbeit erschwert, aber sowie es hell wurde, ist die Suche wieder aufgenommen worden. Tja, aber das ist ja noch nicht lange her.«
Er schaute auf die Uhr.
»Wer hat uns verständigt?«, fragte der Oberstaatsanwalt.
»Der Leichnam wurde von einem der vier Hausmeister entdeckt. Dieser hier wohnt im Aufgang gegenüber von Dahlström. Ove Andersson heißt er. Er berichtet, dass gestern Abend gegen sechs ein Mann, der sich als guter Freund des Opfers ausgab, an seiner Tür geschellt hat. Der Mann sagte, er habe Dahlström seit einigen Tagen nicht mehr gesehen und mache sich langsam Sorgen um ihn. Wie wir wissen, haben sie Dahlström dann im Keller gefunden. Aber als der Hausmeister in seine Wohnung ging, um die Polizei zu verständigen, ist der Freund verschwunden.«
»Vielleicht handelt es sich bei ihm ja um den Mörder«, schlug Wittberg vor.
»Warum sollte er dann den Hausmeister alarmieren?«, hielt Norrby dagegen.
»Er wollte vielleicht in die Wohnung, um etwas zu holen, was er dort vergessen hatte, wagte aber nicht, einzubrechen«, meinte Karin.
»Na ja, ausgeschlossen ist das sicher nicht, aber es hört sich doch ziemlich unwahrscheinlich an«, sagte Norrby. »Warum hätte er eine ganze Woche warten sollen? Das Risiko, dass der Leichnam entdeckt würde, bestand doch die ganze Zeit.«
Knutas runzelte die Stirn.
»Eine Alternative wäre, dass er verschwunden ist, weil er Angst hatte, in Verdacht zu geraten. Er war vielleicht mit auf dem Fest, denn in der Wohnung ist gefeiert worden, das ist ganz klar. Aber egal, wir müssen ihn so bald wie möglich ausfindig machen.«
»Wie sah er aus?«, fragte Wittberg.
Knutas schaute in seine Papiere.
»Mittleres Alter, um die fünfzig, meint der Hausmeister. Groß und kräftig. Schnurrbart, dunkles Haar, zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Dunkler Pullover, dunkle Hose. Auf die Schuhe hat der Hausmeister nicht geachtet. Ich finde, das hört sich an wie Bengt Johnsson. Der ist wohl der einzige von den Parksäufern, auf den diese Beschreibung zutrifft.«
»Ja, das muss Bengan sein. Die beiden waren doch unzertrennlich«, sagte Wittberg.
Knutas wandte sich dem Techniker zu.
»Erik, du kannst die technischen Details übernehmen.«
Sohlman nickte und begann mit seinen Ausführungen.
»Wir haben Wohnung und Dunkelkammer untersucht, sind aber noch längst nicht fertig damit. Wenn wir mit dem Opfer und den Verletzungen anfangen wollen, dann müssen wir uns jetzt Bilder ansehen. Aber ihr müsst damit rechnen, dass die ziemlich scheußlich sind.«
Sohlman löschte das Licht und warf per Beamer die digitalen Bilder auf die Leinwand.
»Henry Dahlström lag ausgestreckt auf dem Boden, und er hatte umfassende Schlagwunden am Hinterkopf. Der Täter muss einen stumpfen Gegenstand verwendet haben. Ich tippe auf einen Hammer, aber das wird uns die Gerichtsmedizin demnächst genauer sagen können. Er wurde mehrere Male auf den Kopf geschlagen. Die vielen Blutspritzer rühren daher, dass der Täter ihm zuerst den Schädel eingeschlagen und dann die blutige Oberfläche weiter bearbeitet hat. Bei erneutem Ausholen mit der Waffe verspritzte jedes Mal Blut.«
Sohlman griff zu einem Zeigestock, um auf die Blutspritzer auf Boden, Wänden und Decke hinzuweisen.
»Vermutlich hat der Täter Dahlström niedergeschlagen und sich dann über ihn gebeugt und weiter gemacht, als er bereits am Boden lag. Was den Zeitpunkt des Todes angeht, so nehme ich an, dass der Mord von heute an gerechnet vor sechs oder sieben Tagen geschehen ist.« Sohlmann schaute in die Runde.
»Das Gesicht des Opfers war gelbgrau und spielte ins Grünliche. Die Augen waren von dunklem Braunrot und die Lippen schwarz und eingetrocknet. Der Verwesungsprozess hatte bereits eingesetzt«, fügte Sohlman ungerührt hinzu. »Ihr seht hier die kleinen braunen Blasen am Körper, aus denen bereits Leichenflüssigkeit austritt. Die sickert jetzt auch aus Mund und Nase.«
Die Kollegen am Tisch verzogen angewidert das Gesicht. Karin fragte sich, warum es Sohlman immer schaffte, über blutige Opfer, Leichenstarre und verwesende Körper zu reden wie über Wind und Wetter oder die letzte Steuererklärung.
»Alle Möbel sind umgeworfen, Schränke und Schubladen durchwühlt worden. Der Mörder hat offenbar irgendetwas gesucht. Das Opfer weist auch Abwehrverletzungen an den Unterarmen auf. Hier seht ihr Blutergüsse und Kratzer. Dahlström hat also versucht, Widerstand zu leisten. Der Bluterguss am Schlüsselbein kann durch einen verfehlten Schlag verursacht worden sein. Wir haben Proben genommen, von Blut, Haaren und einer im Flur gefundenen Kippe, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vom Opfer stammt. Alles wird nach Linköping geschickt, aber es kann natürlich dauern, bis wir Antwort erhalten.«
Er trank einen Schluck Kaffee und seufzte.
Die Antwort vom SKL, dem Staatlichen Kriminaltechnischen Labor in Linköping, traf frühestens nach einer Woche ein, meistens dauerte es drei.
Sohlman schaute auf die Uhr und redete weiter:
»Was Spuren angeht, so haben wir im Beet vor dem Kellerfenster Schuhabdrücke gefunden. Leider hat der Regen dafür gesorgt, dass wir sie nicht identifizieren können. Dagegen haben wir Schuhspuren aus dem Gang vor der Dunkelkammer, die uns möglicherweise weiterhelfen werden. Dieselben Schuhabdrücke finden wir in der Wohnung, in der sich übrigens Flaschen, Aschenbecher, Bierdosen und