Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel. Luzia Pfyl
Gegenteil, Miss Frost. Die Römer waren ziemlich cool. In Amerika gibt es nichts derart Altes, das von Menschen errichtet worden ist.« Payne sah bewegt an der Säule hinauf.
»Okay, genug bewundert. Wir haben Arbeit vor uns.« Frost zog ihn am Ärmel von der Säule weg.
Vor ihnen ragte das Münster auf. Das große Eingangsportal im Mittelschiff war weit geöffnet, so dass die Besucher des Festivals ungehindert ein- und ausgehen konnten. Frost ließ die imposante Kirche jedoch links liegen und steuerte in die nächste Straße. Bis zur Mauer war es nicht mehr weit.
In einer verwinkelten Gasse mit mittelalterlichen Häusern blieben sie stehen, um den Stadtplan zu konsultieren. Bei den vielen Menschen und den engen Straßen konnte man schnell die Orientierung verlieren.
»Frost.«
»Was? Ich versuche gerade herauszufinden, wo wir sind.«
»Wir haben Gesellschaft.«
Frost schaute auf und folgte Paynes Blick. An der Ecke, um die sie eben gebogen waren, lungerte Inspektor Flannagan herum und beobachtete sie. »Dieser verdammte …«
»Sparen Sie sich die Energie«, meinte Payne und zündete sich eine Zigarette an. »Wir wussten, dass er uns folgen würde.«
»Trotzdem geht er mir auf die Nerven.« Frost bemühte sich, die brodelnde Frustration in ihrem Bauch zu unterdrücken. Sie durfte den Inspektor nicht so nahe an sich heranlassen. Nach einem tiefen Atemzug schaute sie sich um. Die Gasse war voller Menschen, die sich im Schritttempo an Läden und Imbissständen vorbeizwängten. Laut der Karte war die Mauer nicht mehr weit. »Wir könnten ihn in dem Gedränge abhängen.«
Payne nickte und folgte ihr sogleich. Ohne sich noch einmal umzudrehen, schlängelten sie sich an den Menschen vorbei. Frost machte sich dabei automatisch klein und sah, dass auch Payne schräg hinter ihr den Kopf einzog.
Als Frost hinter einem Stand eine schmale Öffnung in der Häuserwand sah, griff sie nach der Hand des Pinkertons und zog ihn mit sich. »Wir nehmen eine Abkürzung.«
»Lassen Sie meine Hand los, ich kann alleine gehen«, murrte Payne, folgte ihr jedoch bereitwillig in den engen Durchlass. Es war kaum Platz für zwei Personen nebeneinander. In der Mitte floss ein trübes Rinnsal in einer offenen Abwasserrinne.
Frost antwortete nicht, sondern rannte los. Ihre Schritte hallten von den hohen Mauern wider, und jedes Mal, wenn sie in das Rinnsal trat, spritzte das Wasser auf. Sie malte sich besser nicht aus, was für Wasser das war.
Nach zwei Abzweigungen standen sie plötzlich an der Stadtmauer. Der Weg endete abrupt vor dem grasbewachsenen Hang. Die Mauer war hoch und breit und oben mit dicken Zinnen bestückt. Ihr Bau reichte bis zu den Römern zurück und war im Laufe der Jahrhunderte erhöht, verbreitert und stärker befestigt worden.
Hundert Meter rechts von ihnen befand sich einer der runden Türme, die in die Mauer eingelassen waren. Frost wollte nicht wieder zurückgehen und einen anderen Weg zum Turm suchen. Der gute Inspektor würde ihnen ein paar unbequeme Fragen stellen, wenn er sie einholte. Ihr Ehrgeiz war geweckt. Flannagan sollte ruhig schmoren.
Kurz entschlossen ging sie den Hang hinauf und folgte dem Lauf der Mauer. Der Hang war rutschig, denn der Boden war aufgeweicht. Hinter sich hörte sie Payne fluchen, als er den Halt verlor.
»Das nennen Sie Abkürzung?«
»Seien Sie nicht so wehleidig, Payne. Ich bin mir sicher, Sie haben Schlimmeres erlebt.«
»Ich gebe zu, mich an halbwegs saubere Stiefel gewöhnt zu haben.«
Frost schnaubte belustigt. Vorsichtig ging sie Schritt für Schritt weiter, die linke Hand immer am Mauerwerk. Als sie den Turm erreichte, schaute sie grübelnd nach oben zu den Zinnen. »Jonahs Interpretation des Rätsels zufolge befindet sich der Hinweis im Turm«, meinte sie, während sie zur Kontrolle Dr. Nevilles Notizblatt aus der Tasche kramte.
»Sind Sie sicher, dass dies der richtige Turm ist?« Payne schob den Hut in den Nacken und schaute sich skeptisch um. Ein paar hundert Meter rechts von ihnen stand das Münster dominierend über der Stadt, daneben befand sich eine Art Park. Die alte Stadtmauer umschloss ihn. Von ihrem Standpunkt aus konnte man einen zweiten Turm ausmachen.
»Erst einmal müssen wir einen Weg hineinfinden.« Frost ging an der Mauer des Turms entlang. Auf der anderen Seite des Halbrunds entdeckte sie eine niedrige Holzpforte. Sie rüttelte an der Tür, doch nichts bewegte sich. »Abgeschlossen.« Frost bückte sich, um das Schloss zu begutachten, wurde jedoch enttäuscht. Es gab keines.
»Lassen Sie mich mal.« Payne schob sie beiseite und trat mit einem kräftigen Tritt die Pforte ein. Holz splitterte, und die Tür knallte gegen die Innenseite des Turms.
»Ich bin mir sicher, dass Sie gerade Kulturgut beschädigt haben«, meinte Frost bissig.
»Was soll ich sagen? Ich bin Tourist. Nach Ihnen, Miss Frost.« Payne grinste über das ganze Gesicht.
Sie traten ein und schauten sich um. Sie standen in einem gewundenen Treppenturm, der nach oben offen war und das Tageslicht einließ. Die Mauern waren von jahrhundertelanger Feuchtigkeit mit Moos und Algen überzogen. Keinerlei Geräusche drangen von draußen herein, trotz des offenen Daches. Nach einem kurzen Blick nach oben beschied Frost, dass ihr Ziel höchst wahrscheinlich unten lag.
Sie ging voran über die stellenweise glitschigen Stufen. Immer tiefer wand sich die Treppe, bis kaum noch Licht von oben herabfiel. Als sie den Grund des Turmes erreichten, konnte Frost kaum noch die Hand vor Augen sehen. Payne zog sein Feuerzeug hervor. Sie hörte das vertraute Klicken, das für sie mittlerweile einfach zu Payne gehörte, und eine helle Flamme leuchtete auf. Das Licht reichte gerade aus, um nicht zu stolpern oder gegen die Wand zu laufen.
Frost ging voran in den Tunnel, der sich vor ihnen wie ein schwarzer Schlund öffnete. Paynes kleine Flamme flackerte. »Das Gemäuer hier unten ist viel älter als der Rest der Mauer«, sagte sie und berührte mit der Hand den kalten Stein. Vermutlich war der Tunnel zur Zeit der ersten Mauer von den Römern angelegt worden.
Irgendwo tropfte Wasser. Ihre Schritte hallten als Echo wider, als sie den Mauern folgten. Nach etwa fünfzig Metern öffnete sich der Tunnel zu einem kreisrunden Raum mit hohen Decken.
»Wir müssen im nächsten Turm sein«, vermutete Frost. Ihr Herz pochte vor Aufregung. Hier musste der Hinweis versteckt sein. Sie holte das Buch des Alchemisten und Jonahs Notizen aus der Tasche. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Boden trocken war, legte sie sie zusammen mit dem Stadtplan aus. »Payne, Licht!«
Payne ging Frost gegenüber in die Hocke und hielt sein Feuerzeug über die Papiere. »Wie finden wir den Hinweis?«
»Jonah schreibt, dass wir nach einer römischen Katakombe suchen sollen. Ich glaube, wir haben sie gefunden.« Sie warf einen schnellen Blick in die Runde. Paynes Licht vermochte nur einen Bruchteil des Raumes zu erhellen. »Dort sollen wir nach dem ›Gesicht der Fortuna‹ suchen. Was auch immer das heißen soll.«
»Fortuna war eine der beliebtesten Göttinnen der Römer«, meinte Payne und stand auf. »Vielleicht gibt es hier Fresken oder Mosaike.«
Nach wenigen Minuten wünschte sich Frost, dass sie eine Laterne mitgenommen hätten. Nur mit Paynes Feuerzeug bewaffnet dauerte es ewig, bis sie alle Wände abgesucht hatten. Fresken und behauene Steine gab es zuhauf, doch nichts sah aus, wie sie sich das Gesicht der Fortuna vorstellte.
»Wir werden morgen noch hier sein«, ächzte sie auf.
»Hier drüben«, hörte sie Payne nach einer Weile sagen und folgte dem Lichtschein. »Ich glaube, das ist es.«
Frost schrak zurück, als eine schattenhafte Fratze sie anstarrte. Payne hob das Feuerzeug. Die Fratze verwandelte sich in ein steinernes Gesicht. Die ganze Wand schien aus Gesichtern zu bestehen, großen und kleinen, jeder Stein der Mauer trug eines.
»Suchen Sie bis knapp über Augenhöhe, Payne. Es muss ein Frauengesicht sein. Fortuna ist