Die Skrupellose - Schweden-Krimi. Inger Frimansson

Die Skrupellose - Schweden-Krimi - Inger Frimansson


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lagen nass im Nacken. Seine Verzweiflung wuchs.

      Du wirst mich doch niemals verlassen, dachte er und öffnete den Mund, um die Worte auszusprechen.

      Im gleichen Moment drehte sie sich zu ihm um.

      »Ich will, dass du es heute machst! Jetzt! Heute Vormittag!«

      Ihr Gesicht veränderte sich, als er sie ansah, es kam ihm vor, als würde sich sogar die Farbe ihrer Augen ändern. Barfuß ging sie zu ihm und legte ihre Hände an seine Wangen.

      »Du schaffst das. Ich weiß, dass du es schaffst.«

      Er fuhr nach Hässelby hinaus. Es war nicht seine Entscheidung, die Hände am Lenkrad steuerten ihn auf den Drottningholmsvägen, über die Tranebergsbrücke, am Brommaplan-Kreisverkehr vorbei und weiter den langen Champs-Elysées-ähnlichen Bergslagsvägen hinab.

      Er fühlte sich eigentümlich stark, in diesem Moment hatte er fast das Gefühl, unter Drogen zu stehen. Sie hatte ihm Kraft gegeben, aber er wusste, dass es damit jeden Moment vorbei sein konnte. Sie mochte es nicht, wenn man unschlüssig war, sie wollte einen schnellen und tatkräftigen Mann, das hatte sie immer wieder betont.

      Manchmal, wenn sie ihn verhöhnte, wenn sie ihn auf diese spezielle Art ansah, zum Beispiel, wenn es ihm einfach nicht gelingen wollte, die Aufmerksamkeit des Kellners auf sich zu ziehen, nachdem sie gegessen hatten und zahlen wollten, saß sie ihm gegenüber und beobachtete ihn. Dann zuckte es um ihre Nasenflügel und er bereitete sich vor und wartete auf die Explosion und verstummte. Schließlich erschallte ihre mächtige, tiefe Stimme: »Wir wollen zahlen!«

      Nachher brachte sie ihn dazu, Dinge zu tun, auf die er selber nie im Leben gekommen wäre. Und er tat alles, damit sie wieder gut gelaunt war. Das quälte ihn, aber gleichzeitig genoss er es auch fast.

      Er hatte Hässelby erreicht. Die Straßen waren menschenleer. Als hätte die Erde aufgehört, sich zu drehen, als wäre er der letzte Mensch. Er sah die Einfamilienhäuser mit ihren kleinen Gärten, die gepflegten Rasenflächen und die proper blühenden Blumenbeete in Gelb und Rot und Weiß. Intensive Sehnsucht nach einem geborgenen und gesitteten Leben in einem dieser kleinen Häuser regte sich in ihm, nach einem eigenen Haus mit einem Gartenweg, in den man Streifen harkte, vielleicht auch mit einem Hund. Er wollte so gerne alles auslöschen, was sie erlebt hatte, bevor sie sich kennen lernten, und noch einmal ganz von vorne anfangen. Sie könnten beispielsweise dort hinten in dem weißen Haus mit dem hohen schwarzen Dach wohnen, das eine Garagenauffahrt hatte, in der er das Auto abstellen würde, wenn er nach Hause gekommen war. Es konnte über Nacht draußen stehen bleiben, wenn das Wetter so war wie im Moment, und im Morgengrauen würde es taufeucht sein, in der Früh, wenn er im Bademantel nur vor die Tür trat, um die Zeitung ins Haus zu holen.

      Sein Gedankenspiel wurde jäh von Kinderstimmen unterbrochen. Es war eine ziemlich große Gruppe, vermutlich aus einem Kindergarten, die auf dem Bürgersteig ging. Zwei junge Frauen versuchten die Kinder zusammenzuhalten. Eine braunhaarige, etwas untersetzte Frau hielt zwei von ihnen an der Hand, und ein paar Jungen liefen einen Hügel hinauf und in den Wald. Die andere Frau, die blond war und etwas kindlich aussah, schob einen Kinderwagen, in dem ein schlafendes Mädchen lag.

      »Wartet auf uns!«, rief die braunhaarige Frau den Jungen hinterher.

      Sie bogen auf den Parkweg. Kennet blieb im Auto sitzen. Er beobachtete, wie sie sich dort oben verteilten, und sah sie in dem Wäldchen verschwinden. Sie waren zu ihm gekommen, es war so vorherbestimmt gewesen. Eine höhere Macht hatte dafür gesorgt, dass sie seinen Weg kreuzten.

      Ja.

      Er war jetzt stark, öffnete das Necessaire, das sie ihm gegeben hatte, und holte die Spritze heraus. Vorsichtig platzierte er es auf dem Beifahrersitz, bedeckte es mit einem Blatt Papier und atmete tief durch.

      Dann öffnete er die Autotür und stieg aus.

      10. Angelica

      Wie ein Kokon oder eine Puppe, du weißt doch sicher, was das ist, man wird dann ein Schmetterling, ein Schmetterling, stell dir vor, es wäre so, du musst so tun, die ganze Zeit so tun! Erst musst du hier nur liegen und wachsen, denn deine Flügel sind noch dünn, viel zu dünn, um dich zu tragen, aber dann, wenn du fertig bist, wenn der Tag gekommen ist, ja, dann kannst du zwischen den Blumen hin und her flattern wie all die anderen Schmetterlinge, die du gesehen hast, das habt ihr doch bestimmt im Kindergarten gelernt, ihr lernt doch solche Sachen, oder etwa nicht? Und du kannst natürlich jederzeit wieder zurückgehen und das ganz normale Mädchen werden. Wie heißt du? Ich frage mich, wie du heißt.

      Sie wurde getragen wie ein Paket. Es waren liebe, behutsame Hände, aber sie konnte die Arme nicht bewegen und hatte einen staubigen Geschmack im Mund. Sie wollte weinen, aber es ging nicht, sie war tief, ganz tief in sich selbst und reichte an keine Tränen heran, auch nicht an Angst. Sie schaukelte sanft und in den dichten Kokon eingeschlossen hin und her.

      Du bekommst natürlich einen anderen Namen, wenn du wiedergeboren wirst, es wird ein schöner Name sein, das kann ich dir versprechen, das kann sie nämlich gut, sich Namen einfallen lassen, und dann wirst du vergessen, wie du heißt, ich würde es dich trotzdem gerne sagen hören, vielleicht später, wenn du geschlafen hast, vielleicht wenn ich mir dein kleines, feines Gesicht anschauen kann, aber du brauchst keine Angst zu haben, denn dir passiert nichts.

      Einmal hörte sie einen Automotor. Da dachte sie, dass ihr Papa gekommen war, und die Erleichterung übermannte sie, und sie schlief ein, und als sie wieder aufwachte, war es nass und kalt zwischen ihren Beinen und sie begriff, dass sie in die Hose gemacht hatte. Da wollte sie von neuem weinen.

      Sie wurde getragen und lag zusammengekauert. Da waren Laute, die sie nie zuvor gehört hatte, ein Knirschen, und sie zuckte mit dem Körper, um zu zeigen, dass sie wach war und sich bepinkelt hatte, aber nichts geschah, der Kokon umhüllte sie weiter und sie war eingeschlossen und stumm. Sie musste ruhen, ruhen, warten.

      Als sie das nächste Mal aufwachte, war etwas passiert. Die Umhüllung war weicher, und sie versuchte die Augen zu öffnen, hatte aber nicht die Kraft dazu. Sie nahm einen fremden, seltsamen Geruch wahr. Da fiel es ihr ein: Rumänien. Hatte Papa sie mitgenommen? War sie in Omas und Opas Haus? Er hatte es ihr beschrieben, es gab dort Hühner, die jeden Morgen braune Eier legten, und sie würde mitgehen und sie holen dürfen. Und das Kaleidoskop, das ihre Oma gemacht hatte, es hieß tatsächlich so, es war ein kleines Rohr, eine Röhre mit Spiegeln. Papa sagte so viele komische Sachen, wenn er anfing zu erzählen, jedenfalls erschienen Sterne in der Röhre und Muster, immer neue Muster.

      »Die Oma hat so ein Kaleidoskop für dich gemacht. Sie wird es dir schenken, wenn du sie besuchst. Sie hat Sehnsucht nach ihrem kleinen, schwedischen Mädchen.«

      Sie dachte daran, und der Geruch stieg auf und war süß und warm und würzig.

      Dann war jemand traurig. Es war ein Mann, und er war ganz in ihrer Nähe. Ja genau, es war die gleiche Stimme wie zuvor, aber sie klang jetzt anders und das störte sie.

      Der Mann. Er hatte sie getragen, und sie hatte sich seltsam geborgen bei ihm gefühlt. Aber jetzt hörte sie seine heftigen Atemzüge, nahm den Geruch von Schweiß und Angst wahr, hörte sein immer verzweifelteres Schluchzen.

      Dann hörte sie die Tantenstimme, zugleich leise und durchdringend, sie hatte etwas Kaltes und Heiseres, und plötzlich löste sich der Nebel auf und Angelica bekam Angst. Sie öffnete die Augen, aber ein Schleier aus Stoff oder Dunkelheit hinderte sie daran zu sehen, und sie versuchte die Arme zu heben, aber es ging nicht, sie lag auf ihnen, und sie waren eingeschlafen, ihr ganzer Körper war taub, und sie wimmerte ein wenig, aber das war nicht zu hören, sie hörte ihre eigenen Laute nicht, wer sonst sollte sie dann hören können?

      11. Daniel

      Er stand auf dem falschen Bahnsteig. Erst als er den Zug kommen hörte, erkannte er, dass er den anderen Aufgang hätte nehmen müssen, denn er musste doch in die Stadt, nicht nach Hässelby hinaus. Jetzt konnte er genauso gut hier einsteigen. Er wusste ja eh nicht, wo er hin sollte, also konnte er sich ebenso gut in den Zug setzen und für den Rest seines Lebens zwischen


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