Die Skrupellose - Schweden-Krimi. Inger Frimansson
ruhig, Kleines, hab keine Angst.«
Sie lag da, und es roch nach Auto, und etwas Spitzes stach in ihr Bein. Tränen traten ihr in die Augen, und sie versuchte zu schreien, erkannte ihre eigene Stimme aber nicht mehr wieder.
Etwas floss wie Sirup in ihrem Körper.
Danach erinnerte sie sich an nichts mehr.
6. Magda
Sie konnte nicht schlafen. Sie hatte versucht, wie jeden Abend ins Bett zu gehen, sich an die alltäglichen Gewohnheiten zu halten. Aber nichts funktionierte mehr wie sonst. Sie war völlig überdreht, Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. Schließlich schlug sie die Decke zur Seite und stand auf. Das Nachthemd war feucht, und trotz der Wärme bekam sie eine Gänsehaut.
Angelica, was habe ich nur getan, was machen die mit dir?
Die Polizei war gekommen, sie hatte gesehen, wie die Streifenwagen auf dem Wendeplatz parkten. Sie hatte Angst bekommen, war aber gleichzeitig erleichtert gewesen. Immer wieder hatte sie erklären müssen, wie sie den Wagen im Schatten des Baumes stehen gelassen hatte und dass sie sich nur für kurze Zeit entfernt hatte. Wenn sie den Beamten erzählen sollte, wie es war, als sie zurückkehrte, musste sie jedes Mal weinen. Eine Polizistin tätschelte ihre Hand. Ihre Augen waren voller Mitleid.
»Haben Sie eine Vermutung, was passiert sein könnte?«
Florian, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie sprach den Namen nicht aus, schüttelte nur den Kopf. Tränen liefen ihr den Hals hinab, und der Pullover wurde nass.
Auf dem Hof stand Carita und nahm die Eltern in Empfang. Bedauerte, erklärte und tröstete. Es waren keine lauten Stimmen zu hören, sondern nur ein säuselndes Murmeln, eine ungewohnte, plötzliche Stille. So leise war es sonst nie in den Räumen des Kindergartens, nicht einmal, wenn Mittagsschlaf gehalten wurde.
Der Arm der Polizistin war sonnengebräunt und von kurzen, feinen, blonden Härchen bedeckt. Ihr Kajal war ein wenig verlaufen, vielleicht wegen des grellen Sonnenlichts.
»Sollte Ihnen doch noch etwas einfallen, egal was, rufen Sie uns bitte an! Hier ist die Nummer. Sie können mit mir sprechen oder mit ihm dort er heißt Greger. Im Grunde können Sie natürlich mit jedem unserer Kollegen sprechen, aber fragen Sie ruhig erst nach uns. Tun Sie das bitte!«
Die Polizisten nahmen sie mit in den Wald. So machte man es auch mit Tatverdächtigen, das wusste sie, man führte sie herum. Wie Kühe. Sie hatte eiskalte Fingerspitzen, musste ihnen alles zeigen.
»Hier habe ich den Kinderwagen abgestellt, da unten waren Kattis und die anderen Kinder. Und da drüben bin ich reingerobbt, weil ich dachte, ich hätte ein paar Buschwindröschen gesehen, Sie können es selber sehen, ich glaube, die Stiele, die ich abgebrochen habe, liegen noch da.«
Es tauchten weitere Polizisten auf, die einen Hund dabei hatten, einen Rottweiler. Im Nachbarhaus gab es auch einen, der allerdings kleiner war als dieser Polizeihund. Sie hörte, dass die Beamten den Hund Rex nannten. Man hatte ihm eine Art Zaumzeug angelegt, und er begann eifrig zu schnüffeln, wo der Wagen gestanden hatte.
Immer wieder musste sie alles erzählen.
Die Polizisten sprachen auch mit den Kindern, den ganzen Nachmittag wurden sie verhört. Sie hörte das Geräusch eines Hubschraubers.
Sie zog sich an. Von dem Schlag, den sie bei ihrem Sturz abbekommen hatte, tat ihr das Kreuz weh. In gewisser Weise geschah es ihr nur recht. Es war eine Art Strafe dafür, dass sie Angelica allein gelassen hatte. Je mehr es schmerzte, desto besser würden die Chancen stehen, dass das Mädchen unverletzt gefunden wurde.
Eine Begegnung mit Eva, Angelicas Mutter, war ihr Gott sei Dank erspart geblieben. Sie war mit den Polizisten im Wald gewesen, als Eva eintraf. Sie hatte Kattis fragen wollen, was sie gesagt, wie sie es aufgenommen, was sie getan hatte. Aber sie hatte nicht die Kraft dazu gehabt.
Sie verstellte die Jalousien so, dass sie hinausschauen konnte. Es war halb zwölf und mittlerweile ziemlich dunkel. Sie wohnte in der Grundtvigsgatan in Blackeberg in einem dreistöckigen Backsteingebäude. Ihre Wohnung lag im Souterrain. Die Miete war in Ordnung. Aber die Kosten für ein weiß lackiertes, schmiedeeisernes Einbruchsgitter hatte sie selber übernehmen müssen. Es sah recht gut aus, versuchte sie sich einzureden, wie erstarrte oder gefrorene Spitze.
Ihre Wohnung bestand aus einem zehn Quadratmeter großen, rechteckigen Raum, in dem ihr ganzer Hausrat Platz fand. Die Küche war nur eine Kochnische mit einem Kühlschrank und einem primitiven Herd. Wenn man den Ofen benutzte, funktionierte die größere der beiden Kochplatten nicht. Unter der Decke verliefen Rohre, in denen es fortwährend säuselte. Normalerweise fand sie das gemütlich, aber jetzt störte und quälte es sie.
Sie schaltete den Computer ein und öffnete eine Datei, der sie den Namen Mein Jetzt gegeben hatte. Es war eine Art Tagebuch. Manchmal schrieb sie auch Gedichte, oder vielmehr Entwürfe zu Gedichten, die sie in dieser Datei sammelte. Sie hatte die Texte bislang nur einer einzigen Person gezeigt.
Im Moment, schrieb sie, im Moment geht es mir sehr schlecht. Was geschehen ist, erscheint mir so grauenvoll, dass ich nicht einmal darüber schreiben kann. Wird das Leben jemals wieder normal sein? Woher soll ich die Kraft nehmen, mit allem weiterzumachen? Ich habe etwas Schreckliches getan. Ich habe zugelassen, dass ein kleines Kind verschwunden ist.
Sie konnte einfach nicht mehr in der Wohnung bleiben, hatte das Gefühl, die Wände würden auf sie herabstürzen und ihr die Luft zum Atmen nehmen. Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich ab. Der Schlüssel hakte ein wenig, sie vergaß immer, Schmieröl zu kaufen. Vor einer Woche hatte sie es mit Margarine versucht, eine Messerspitze davon in das Schloss gepresst, aber das hatte nichts genützt. Stattdessen hatte ihre neue Hose Flecken bekommen. Fettflecken bekam man nie mehr heraus. Das hatte Tante Gunilla ihr immer wieder gepredigt. Wie sich nun herausstellte, hatte sie Recht gehabt. Als sie auf den Hof hinaustrat, schoss eine Katze lautlos in die Sträucher. Magda zuckte zusammen. Das war Bruno, ein großer und bissiger Kater, der sie schon einmal fast angesprungen hätte. Damals hatte sie versucht, ihn von einer verletzten Taube wegzuscheuchen, die an der Wand hockte. Bruno kam und ging, wie er wollte, sein Besitzer ließ das Fenster immer einen Spaltbreit offen stehen, sogar im Winter. Der beißende Gestank von Katzenurin stieg direkt neben den Fahrradständern vom Boden auf. Sie dachte an Fredriksson, den Hausmeister. Sie hatte ihn einmal mit seinem lehmverschmierten Holzschuh nach der Katze treten sehen.
Erst konnte sie ihren Fahrradschlüssel nicht finden, aber dann lag er doch in der Jackentasche, wo sie schon nach ihm gesucht hatte. Es war ein kühler Abend. Sie fror ein wenig, zog den Reißverschluss bis zum Hals zu. Sie fuhr gerne Rad, es tat ihr gut, es kam ihr vor, als würde der Fahrtwind einen reinigen. Als ihre Tante letztes Jahr ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert und ein neues Fahrrad mit mehreren Gängen geschenkt bekommen hatte, übernahm Magda den alten Drahtesel. Es war ein Rad der Marke Crescent, das in den Sechzigern glänzend und neu gewesen war. Zum Sattel gehörte ein Regenschutz aus gepunktetem Wachstuch, den ihre Tante selber genäht hatte.
Seit dem Tag vor 22 Jahren, an dem ihre Eltern ins Meer gefallen und ertrunken waren, hatte sie bei Tante Gunilla und Onkel Olle gewohnt. Ihre Eltern hatten mit ihrer Motorsegelyacht Urlaub in den Schären von Sankt Anna an der schwedischen Ostküste gemacht. Vermutlich hatten sie zu viel getrunken, das hatte Magda sich anhand der Kommentare zusammengereimt, die sie im Laufe der Jahre aufgeschnappt hatte. Sie selbst war in ihrer Wiege in der schaukelnden Kajüte alleine zurückgeblieben. Das Boot trieb und trieb, bis sich schließlich der Seenotrettungsdienst seiner annahm. Sie besaß ein altes, verblichenes Zeitungsfoto, das einen Mann in einem Overall zeigte, der mit einem Säugling im Arm an Land ging. Dieser Säugling war sie gewesen.
Sie trat wie eine Wahnsinnige in die Pedale, und es rauschte in ihren Ohren. Im Zentrum von Blackeberg bog sie links auf den steilen Anstieg ab und fuhr auf den Fahrradweg. Sie kam an dem Kreisverkehr vorbei, in dem sie einmal einen Lastwagen umkippen und Feuer fangen gesehen hatte. Das war zu der Zeit gewesen, als sie noch ins Gymnasium ging, und sie hatten auf dem angrenzenden Sportplatz Brennball gespielt. Der Fahrer war bei dem Unfall ums Leben