Die Skrupellose - Schweden-Krimi. Inger Frimansson
Eigenleben. Eines Tages würden sie Erwachsene, Bankdirektoren, Bibliothekare, Kosmetikerinnen sein, die mit hängender Zunge ihre Kinder in den Kindergarten brachten. Und sie selbst würde eines Tages wohl auch Mutter werden. Aber das hatte noch Zeit, sie war erst 23. Früher hatte sie davon geträumt, Journalistin zu werden, aber nicht ganz verstanden, dass man sich mächtig ins Zeug legen musste, um einen Studienplatz zu bekommen. Sie hätte einfach mehr lernen und den Lehrern um den Bart gehen müssen, hätte versuchen müssen, bessere Noten zu bekommen. Nein, sie war die Schule jahrelang leid gewesen und hatte gejobbt, statt sich weiterzubilden. Außerdem hatte sie das Geld gebraucht.
Im Unterholz, zwischen den Wurzeln, konnte man etwas Weißes sehen, ein paar dünne, blasse Buschwindröschenstiele. Sie ließ sich auf die Knie sinken, und der Boden piekste, denn er war mit Tannennadeln und Resten alter Tannenzapfen übersät. Als sie die Blume pflückte, fielen die Blütenblätter ab und lagen wie Schuppen im Gras.
»Shit«, murmelte sie.
Sie wollte gerade wieder aufstehen, als sie den Schrei hörte, den schrillen Schrei eines zu Tode erschreckten Kindes. Er kam aus der Gruppe weiter unten. Sie rührte sich nicht und lauschte.
»Magda«, rief Kattis und ihre Stimme klang angespannt. »Wo bist du? Komm bitte schnell her!«
Sie sprang auf die Füße und rannte los, die Haare wurden ihr aus der Stirn geweht. Dann war sie bei den anderen, die Kleinen klammerten sich mit feuchten, erdigen Fingern an sie. Auf dem Waldboden lag Jens. Sein Fuß war verdreht, und er schrie so, dass ihm die Luft wegblieb.
»Was ist los?«, keuchte sie. »Mein Gott, was ist denn passiert?«
Kattis starrte Magda an.
»Er sagt, da war eine Schlange«, flüsterte sie.
Magda ging neben dem brüllenden Kind in die Hocke, zog den Jungen an sich, wiegte ihn. Seine Kopfhaut roch nach Schweiß. Nach süßem, klebrigem Kinderschweiß.
»Wir wollen mal schauen, Jens, ist ja gut, ist ja gut, beruhige dich, dann gucken wir mal nach.«
Sie zogen ihm Schuhe und Strümpfe aus. Seine Knöchel waren glatt, es gab keine Wunden oder Abdrücke.
»Mein Gott, im ersten Moment habe ich gedacht, er hätte sich was gebrochen«, sagte Magda. Ihr T-Shirt war am Rücken ganz feucht. Kattis nickte.
»Ich auch.«
»Hast du eine Schlange gesehen, Jens?«, fragte sie dann und hielt den Kopf des Jungen, der sich ein wenig beruhigt hatte und kaum noch schluchzte. »Meinst du wirklich, es war eine Schlange?«
Magda blickte auf, die Kinder hatten sich um sie versammelt, ihre Gesichter waren ausdruckslos und wachsam. Bis auf das von Johan. Er hielt etwas hinter seinem Rücken versteckt, und sein kleines Gummigesicht war vor unterdrücktem Lachen ganz verzerrt.
»Johan!«, sagte Magda. »Was hast du da in der Hand?«
Daraufhin öffnete sich sein Mund zu einem Lachanfall, der den Jungen geradezu wimmern ließ. Er holte den Arm mit einem Ruck nach vorn: Seine Hand umklammerte ein Stück von einem alten Fahrradschlauch, das hin und her pendelte. Der Junge prustete los.
»Hier ist meine Schlange! Und die kann richtig beißen.«
Vor Erleichterung fühlte sie sich ganz matt.
»Also gut. Jetzt müssen wir aber voran machen!« Sie sprach schnell und entschlossen, musste es ihren kleinen Gehirnen eintrichtern: »Wir sind hergekommen, um Blumen für euren Kindergarten zu pflücken, der heute Geburtstag hat. Genau wie ihr manchmal. Und heute Nachmittag feiern wir dann, wenn alle Mamas und Papas kommen.«
Sie gab ihrer Stimme einen anspornenden Tonfall, und es klappte. Sie kamen wieder in Bewegung, schossen los wie bunte Bälle.
Unvermittelt dachte sie: Angelica!
Ja, genau.
Angelica.
Sie musste zurückgehen, um den Wagen zu holen, und sie musste sich beeilen. Das Mädchen war vielleicht aufgewacht, hatte Durst und musste etwas trinken, in dem Korb unter dem Wagen war Saft.
»Ich geh nur schnell Angelica holen«, rief sie Kattis hinterher.
Der Wagen stand noch genauso da, wie sie ihn verlassen hatte. Jedenfalls kam es ihr so vor. Im Schatten, das Verdeck halb hochgeklappt. Ja. Der Wagen stand noch so da, wie sie ihn zurückgelassen hatte.
Aber nicht ganz.
Das Mädchen, das in ihm gelegen hatte, war nicht mehr da.
Es war verschwunden.
2. Daniel
Zur Not konnte man immer noch unter den Brücken schlafen. So lange es Sommer war, würde das hervorragend gehen. Daniel hatte Spuren von Leuten gesehen, die das taten. Aufgeschlagene, etwas zerrissene Zeitungen, ein paar Stofffetzen. Einen Pappkarton, in den man den Kopf stecken konnte, wenn es einem zu hell wurde. Wie das Verdeck eines Kinderwagens. So würde sich die Wohnungsfrage lösen lassen.
Allerdings natürlich nur, wenn nicht schon alle Plätze besetzt waren. Er hatte keine Lust auf Handgreiflichkeiten. Es gab sicher auch solche und solche Brücken, einige waren bestimmt weniger beliebt als andere. Die Brücke, die nach Solna hinüberführte, war doch zum Beispiel fast schon eine Vorortbrücke. Dort würde man bestimmt kampieren können. Zumindest jetzt, im Sommer.
Aber was war im Winter?
Er nahm die Rolltreppe am Fridhemsplan und lief durch die U-Bahn-Station. Er ging mit langen Schritten, so als könnte er jeden Moment gezwungen sein zu laufen. Intensiver Uringeruch schlug ihm entgegen. Es gab Leute, die hier unten übernachteten, das war natürlich auch ein Ausweg. Er wusste, wer sie waren, er erkannte sie. Aber er konnte nicht behaupten, dass er sich nach ihrer Gesellschaft sehnte.
Ach was. So weit brauchte es ja nicht zu kommen. Vielleicht überlegte Ulrika es sich noch einmal anders und ließ ihn weiter bei sich wohnen. Sie hatte auch früher schon versucht, ihn hinauszuwerfen, ihn dann aber immer wieder bei sich aufgenommen. Sie brauchte ihn. Er würde es ihr zeigen: Du brauchst mich, wir sind füreinander bestimmt.
Er kam zu einem der großen Mietshäuser in der Industrigatan, in dem er das Treppenhaus und die Aufzüge putzte. Man verdiente nicht viel damit, aber immerhin etwas. Außerdem war es relativ leicht verdientes Geld. Im Sommer war es nicht besonders dreckig, schlimmer war es da schon im Frühling, wenn die Leute Lehm und Hundekot ins Haus trugen.
Tragen, trug, getragen, dachte er auf Deutsch.
Er gab den Türcode ein und betrat das Haus. Er nahm die Hintertür. Hier unten lagen der Fahrradkeller, die Waschküche und eine eigene Tür für die Müllabfuhr, damit die Männer nicht um das ganze Haus herumgehen mussten. Jetzt hatten sie schon eine Weile nicht mehr geleert, und der ganze Flur stank nach Ruß und faulen Eiern.
Er öffnete die Tür zu seiner kleinen Abstellkammer, in der die Putzsachen aufbewahrt wurden. Der Schlüssel hakte ein bisschen, das hatte er schon immer getan. Der Vermieter hatte ihn angewiesen, den Schlüssel nachschleifen zu lassen, aber das gehörte zu den Dingen, aus denen nie etwas wurde. Im Grunde fand er, war es Sache des Vermieters, dafür zu sorgen, dass seine Angestellten ordentliche Schlüssel bekamen. Er als Arbeitnehmer brauchte sich um so etwas doch wohl nicht zu kümmern! Es machte ihn wütend, daran zu denken. Seine Bewegungen wurden ruckhaft. Wasser in den Eimer, ein wenig Schmierseife, ganz gewöhnliche Schmierseife, aber nicht so viel, dass der Boden glatt wurde und irgendeine verdammte alte Schachtel hinflog und sich einen Oberschenkelhalsbruch holte. Aber genug, um die grauen Flecken eingetrockneten Drecks wegzukriegen.
Er begann mit dem Aufzug, schrubbte erst und wischte anschließend mit dem Aufnehmer nach. Es war immer das Gleiche, irgendwer drückte immer genau in dem Moment den Knopf, sodass er manchmal mehrmals auf und ab fuhr, während er in dem kleinen Aufzug stand und putzte.
Leute stiegen ein und aus, aber nicht alle grüßten ihn. Anfangs hatte er noch versucht, höflich zu sein, hatte locker Hallo gesagt oder auch guten Tag,