Die Skrupellose - Schweden-Krimi. Inger Frimansson
Sie ist nicht hier.«
»Was heißt, nicht hier?«
»Du siehst es doch selbst!«
»Aber sie kann doch nicht einfach verschwunden sein.«
Die Straße!
Der Gedanke schnürte ihr den Magen zu. Was, wenn sie herausgeklettert und zur Straße hinuntergelaufen war.
»Bleibt hier!«, schrie sie und lief los. Auf der Mitte des Hangs rutschte sie aus und fiel aufs Steißbein, was höllisch wehtat. Sie schluchzte kurz, kam wieder auf die Beine und übersprang mit einem Riesensatz den staubigen Straßengraben.
Die Straße war fast leer. In der Ferne ging eine Frau mit zwei Hunden, einem kleinen und einem großen.
Magda rannte los. Da vorn war ein Mensch, den sie fragen konnte. Sie lief so schnell, dass ihr Brustkorb schmerzte.
Als sie näher kam, hielt die Frau die Hunde kürzer an der Leine. Der kleinere war nur ein Welpe.
»Ich suche ein Mädchen, vier Jahre alt, dunkle Haare und gelbes Kleid. Haben Sie es vielleicht gesehen?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Sind Sie sicher?«
»Was ist denn los, ist sie etwa verschwunden?«
»Jaaa«, sagte Magda jammernd.
»Nein, tut mir Leid, ich habe kein Kind gesehen. Aber ich werde die Augen offen halten, das verspreche ich Ihnen.«
»Sie hat auch noch Fieber! Sie ist krank!«
Die Frau warf ihr einen traurigen Blick zu.
»Ich werde wirklich die Augen offen halten.«
Sie musste umkehren und zurücklaufen, den ganzen langen Hang hinauf, so schnell sie konnte. Auf der Hügelkuppe warteten Kattis und die anderen Kinder.
»Nein«, keuchte sie. »Da war sie nicht. Oh Gott, was sollen wir nur tun?«
»Ich dachte, sie schläft«, sagte Kattis.
»Das hat sie auch. Sie ist doch krank, sie hat Fieber. So ein Mist! Wenn Eva sie zu Hause behalten hätte, wäre das nie passiert.«
»Aber sie muss hier doch irgendwo sein. Man verschwindet nicht einfach so. Vielleicht hat sie sich versteckt, um uns einen Streich zu spielen.«
»Ach was, Angelica doch nicht, so etwas würde sie niemals tun.«
Magda packte einen Jungen und schüttelte ihn.
»Habt ihr sie gesehen? Wenn ihr sie gesehen habt, müsst ihr es uns erzählen! Sofort! Auf der Stelle! Sonst bringe ich euch um! Und es gibt kein Fest, das kann ich euch versprechen!«
Sie wirkten verängstigt, wussten aber offenbar nichts.
»Wir müssen sie suchen«, schrie sie. »Verteilt euch! Sucht hinter allen Bäumen und Sträuchern, sucht überall!«
Hinterher fragte sie sich, was am schwersten gewesen war. Hinterher, als sie in ihrer Wohnung saß und einen Tee zu trinken versuchte. War es der Moment gewesen, in dem sie den verlassenen Kinderwagen entdeckt hatte? Ihr Körper hatte mit wachsender Übelkeit reagiert.
Ich habe sie als Letzte gesehen. Ich war für sie verantwortlich.
Oder war es noch schlimmer gewesen, als sie erkannten, dass sie das Mädchen nicht finden würden? Sie hatten überall nach Angelica gesucht und die Kinder hatten ihnen geholfen. Sie waren sehr bedrückt gewesen und einige hatten geweint.
Sie dachte: Das Fest.
Mitten in dem ganzen Chaos dachte sie an das Fest und daran, dass es nun kein Fest geben würde.
Die Kinder hatten sich so auf diesen Tag gefreut.
Oder war es am schlimmsten gewesen, in den Kindergarten zurückzukehren und Carita Auge in Auge gegenüberzustehen?
»Was zum Teufel sagst du da?«, fragte sie mit ihrem schleppenden, finnischen Akzent.
Sie hatte es noch einmal wiederholen müssen. Es ist etwas Schreckliches passiert, es geht um Angelica, sie ist verschwunden.
Vor Scham und Entsetzen war ihr ein Schauer über den Rücken gelaufen.
Carita hatte ausgesehen, als würde sie ihr am liebsten eine Ohrfeige geben. Sie hatte Kattis angebrüllt: »Steh hier nicht dumm rum, sieh lieber zu, dass die Kinder etwas zu essen bekommen! Die Essenszeit ist längst vorbei, sie müssen ja nicht auch noch verhungern.«
Anschließend hatte sie die Bürotür so heftig zugeschlagen, dass ein kleines Keramikbild vom Haken fiel und in zwei gleich große Teile zersprang.
»Du kommst also her und sagst mir allen Ernstes, dass eines unserer Kinder verschwunden ist? Begreifst du eigentlich, was du da sagst? Begreifst du, was das bedeutet? Begreifst du, dass wir, du und ich, für diese Kinder verantwortlich sind?«
So viel überflüssiges Gerede. Magda hatte an der Wand gelehnt und gedacht, hör auf. Hör auf, du verdammte Hexe, es war nicht meine Schuld und auch nicht die von Kattis. Keiner von uns ist schuld, es hat keinen Sinn, nach Sündenböcken zu suchen.
Aber Carita hatte nicht aufgehört.
»Habt ihr auch wirklich überall gesucht?«
»Ja, natürlich haben wir das.«
»Wie konntest du den Wagen einfach so stehen lassen? Wie konntest du dich nur so verantwortungslos verhalten?«
»Aber ich habe dir doch schon gesagt, dass es nur für ein paar Minuten war. Ich dachte, ich hätte sie die ganze Zeit im Blick.«
Caritas Mund wurde runzlig, verengte sich zu einem kleinen Loch.
»Dachtest du!«
»Wenn Jens nicht geschrien hätte, wenn Johan nicht diesen Fahrradschlauch gefunden hätte.«
»Wenn das Wörtchen wenn nicht wär, wär mein Vater Millionär.«
Caritas Fenster stand einen Spaltbreit offen. Eine Bachstelze trippelte draußen auf den Steinplatten herum und schnappte nach einer Fliege. Magda beobachtete sie, ohne wirklich etwas zu sehen. Sie hatte das Gefühl, ein Band hätte sich um ihren Kopf gespannt, ein Band, das immer fester gezogen, das pochend und rot über ihre Lider gezerrt wurde.
»Bitte, Carita«, sagte sie mit belegter Stimme, »ruf jetzt bitte die Polizei. Das ist das Einzige, was wir noch tun können.«
4. Daniel
Er entschied sich für einen französischen Wein, der fünfzig Kronen kostete und Le Bistro hieß. Er kaufte auch eine Plastiktüte, obwohl das eigentlich nicht nötig gewesen wäre. Für einen Donnerstagnachmittag waren erstaunlich viele Leute im staatlichen Alkoholgeschäft. Er hatte Wartenummer 152 gezogen, und als er eintrat, wurde gerade Nummer 87 bedient. Folglich würde er eine Zeit lang warten müssen, aber das machte nichts. Er brauchte ohnehin etwas Zeit, um die Kraft zu sammeln, Ulrika gegenüberzutreten.
In der Ferne hörte man Sirenen, es musste etwas Größeres passiert sein, ein Verkehrsunfall oder ein Brand. Das Geräusch wurde lauter und leiser, wie die Rufe entfernter Vögel.
Als er von der Bank aufstand, klebte seine Hose an der Unterseite der Oberschenkel. Er dachte, dass er duschen musste, denn sonst würde sie sich über seinen Geruch aufregen.
Ein Despot war sie.
Eine Despotin.
Aber hatte er denn eine Wahl?
Sie hatten sich vor knapp einem Jahr bei einer Fete kennen gelernt. Sie hatte ihm Leid getan. Ihr Aussehen sprach gegen sie, sie war groß und plump, saß wie ein grober Klotz auf ihrem Stuhl. Als sie aufstand, fiel der Rock wie ein Zelt um sie herum.
»Wir tanzen!«, entschied sie, und am liebsten hätte er Nein gesagt, aber sie packte ihn am Hosenbund und zog ihn mit sich.
Sie