Wo der Hund begraben liegt. Pavel Kohout
gern gesehen waren, vielleicht als Touristenattraktion. Der bizarren Menge, von der goldenen Nachtigall Karel Gott auf der Licht- und dem derzeit in einer Brauerei schuftenden Václav Havel auf der Schattenseite flankiert, zwischen denen Devisenwechsler, Polizeiagenten, Photomodelle, Zuhälter und vor allem Neugierige aller Art sich drängelten, präsidierte donnernd der Schauspieler Pavel Landovský, damals noch als Godfather, überzeugt, daß er sich alles erlauben konnte.
«Ich lade euch morgen in den ‹Revisor› ein», sagte er uns an diesem Tag befehlshaberisch, «es spielt ihn wieder der Oleg!»
Oleg Tabakow, der jüngere meiner beiden russischen Olegs und nach dem Weggang von Jefremov zum Thalia-Tempel Mchat jetzt selbst der Chef des berühmten Moskauer Theaters «Sovremennik», hatte bereits vor sechs Jahren im Prager Schauspielclub Gleiches gespielt. In jener Zeit, in der die heutigen «Junior»-Jungs ihre Progressivität durch Ablehnung alles Russischen genauso vehement demonstrierten, wie sie jetzt kollaborierten, war dieses russische Solo inmitten einer jungen tschechischen Truppe ein riskantes Unternehmen. Daß es so vollendet gelang, war das Verdienst des ganzen Ensembles, doch vor allem zweier gottbegnadeter Schauspieler – Tabakow als Chlestakov und Landovský als Hauptmann.
Jetzt, als auch Böhmen durch das Verdienst eigener Hauptleute wiederum periphere Provinz des russischen Reiches geworden war, wiederholte sich der Triumph auf andere Art und Weise: Die Groteske war diesmal von grausamer Wirklichkeit durchtränkt. Sie wurde zur Hommage für den unsterblichen Genius der Kunst, der weder so zerstörbare Völker wie das tschechische noch so alles- und selbstzerstörerische wie das russische geistig verkümmern läßt. Ein Sternabend des Theaters.
Der berühmte sowjetische Künstler lockte die erste Garnitur der Kulturbeamten des Regimes zu der Premiere. Landovský setzte seine Freunde neben sie. Zum ersten Mal trafen hier außerhalb diplomatischen Bodens diejenigen, deren Schicksale die sowjetischen Panzer überrollt hatten, mit denen zusammen, die diese Panzer gerufen oder zumindest willkommen geheißen hatten.
In dem winzigen Kellerfoyer des Theaters «Činoherní klub» konnte man sich nirgendwo verstecken, und wenn man sich durch die engen Reihen der Sessel drängte, war es nicht möglich, auszuweichen. Nicht einmal wegtreten konnte man: Die Staatsmannschaft durfte dem sowjetischen Gast nicht den Rücken zeigen. Daß sie ihn uns jetzt nicht einmal technisch zukehren konnte, deprimierte sie zutiefst.
Wer der Macht täglich ins Auge schauen mußte, hatte damit keine Probleme. Schon während meiner Selbstverpflegungs-Mittagessen im Schriftstellerklub erlernte ich einen Blick, den ich «Krawattenblick» nannte. Jan Pilař, der Direktor des Schriftstellerverbands-Verlags, war es, dessen Schamlosigkeit mich zum erstenmal zwang, mit einem auf den Knoten seiner Krawatte geheftetem Blick an ihm vorbeizugehen. Die starren und doch nicht sehenden Augen nötigen unliebsame Bekannte zu bemerkenswert komischen Reaktionen, einem unvollendeten Niesen ähnlich.
Es war, als ob ein umkämpfter Schützengraben durch den Zuschauerraum liefe. Die einen fesselte sowohl das mitreißende Spiel als auch die reizvolle Situation, die anderen schluckten vor Wut und vor augenblicklicher Ohnmacht. Sie zeugte vom schlechten Gewissen und von der Angst, die Renegaten auch in Epochen bedrückt, welche sich als tausendjährig betrachten.
Als sich Tabakow abgeschminkt hatte und ins Foyer kam, wählte er Zet für die erste Umarmung aus. Dann zog er uns beide in den schummrigen Zuschauerraum und ließ sich unsere Geschichten erzählen, während die Funktionäre des neuen Theaterverbandes am Buffet immer wütender warteten. Seine frische Präsidentin, Jiřina Švorcová, die einst in meinem Erstling Das gute Lied den verfrühten Höhepunkt ihrer Karriere gefeiert hatte, rächte sich jetzt an allen Kollegen, die sie wegen ihres nachlassenden Talents und ihrer zunehmenden Einfältigkeit in den Schatten stellten. Ihre Hauptrivalin Vlasta Chramostová hatte sie ganz persönlich auf dem Gewissen, andere Konkurrentinnen aus meinem alten «Weinberger-Theater» rettete nur bedingungslose Kapitulation.
Sie verließ diese erniedrigende Premieren-Party türenknallend, um dann nach einer Weile doch zurückzukehren und zu versuchen, sich den illustren Gast zu erkämpfen. Sie kam im Zuschauerraum auf uns zumarschiert, vor Erregung grüßte sie mich sogar zuerst. Mit der gekränkten Stimme des Ewigen Mohren, dem schon wieder Unrecht geschieht, fragte sie Tabakow, wann er Zeit für sie habe.
«Morgen, Irinka!» sagte er lieb und wandte sich wieder uns zu; sie ging fast weinend, während die Direktion zitterte, das Ensemble sich in die Fäustchen lachte und Landovský strahlte.
Am nächsten Tag ging Tabakow mit uns ins Klosterrestaurant essen, beteuerte uns sein Vertrauen und seine Freundschaft und versprach, obwohl von mir gewarnt, zum Zentralkomitee seiner Partei zu gehen, um dort offen über die Schweinereien zu berichten, die hier im Namen und auf Kosten seines Vaterlands geschahen. Er lud uns auch zu seiner Abschiedsfeier nach der letzten Vorstellung ein: Einmal im Leben aß Zet Kaviar mit dem Suppenlöffel. Weder das eine noch das andere werde ich ihm je vergessen. Und wer weiß, ob ihm nicht auch seine Heimat einmal dankbar sein wird, daß er zu den ersten Mutigen gehörte, die ihren schlechten Ruf zu verbessern suchten? Auf den Abgang der Eismänner sollten die Sowjetunion und die Welt noch ganze zehn Jahre warten ...
Als er abreiste, hinterließ er in uns ein Gefühl, für das er sogar den Beifall Dr. Černýs verdient hätte: daß die Welt fast in Ordnung und nichts zu fürchten sei, so daß wir auch unbesorgt nach Hamburg reisen könnten.
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Böhmen, noch Winter 1974
Der Strom guter Nachrichten hielt an. Dr. Černý besuchte uns nach höflicher Voranmeldung persönlich, um uns mitzuteilen, daß die Paßbehörde jetzt ebenfalls unserer Forderung entsprochen habe: Wir sollten dreimal im Jahr zurückkehren dürfen, damit Zet ihre Eltern und ich meine Kinder sehen konnte. Dir, mein sexbesessener Dackel, öffnete allein das Impfzeugnis alle Grenzen, und mit deinem stolzen Zuchttitel konntest du dich durch bloßes Decken am leichtesten von uns dreien ernähren. Mit Sicherheit am angenehmsten.
In der Erwartung eines Besuchs des großen Magiers ließ ich mir eine einmalige Übertretung gegen bürgerliche Ehrenhaftigkeit zuschulden kommen: Ich versteckte ein leistungsfähiges Tonbandgerät im Kamin und nahm das Gespräch zur Sicherheit auf. Wenn dann später Dr. Černý wie andere vor und nach ihm plötzlich spurlos verschwinden würde, blieb ein hörbarer Beweis, daß ich nicht mit einem Phantom gesprochen hatte.
Vier Jahre später wird diese Aufzeichnung der zweistündigen Lügereien eines hohen Staatsbeamten ein einzigartiges Zeitdokument darstellen. Und doch: Obwohl es nur um einige Dutzend Meter Tonband ging, verglichen mit den Hunderten von Kilometern, auf denen sie mich heimlich konserviert haben, fühlte ich schon damals Verlegenheit, die mich nie wieder verließ. Ein weiterer Beweis, daß man sich überlegen sollte, ob Kinderstube und Tugenden wirklich das Beste sind, seine Nachkommen für diese Art von Welt auszurüsten.
Von meinen Forderungen warteten nur noch zwei darauf, erfüllt zu werden: das Einreisevisum für meinen Kasseler Verleger Eric Spiess und eine Änderung in der sturen Haltung der tschechoslowakischen Theater- und Literaturagentur Dilia. Obwohl sie sich als die einzige gesetzliche Vertreterin des gesamten heimischen Schaffens verstand, hatte sie es nach dem Verbot meiner Stücke in der Čssr zusätzlich abgelehnt, ihre Aufführung zumindest im Ausland zu legalisieren.
Eine Woche vor Weihnachten erhielt mein Bühnenverleger nach drei Jahren wieder ein Visum und reiste sofort nach Prag, um den Entscheidungstermin nicht zu verpassen – Freitag, den 20. Dezember. Zwischen uns und der Großen Reise stand fast nichts mehr, und wir zitterten vor unserem eigenen Mut. Denn jetzt konnten wir nur mehr fahren oder aber sang- und klanglos zugeben, daß wir den Risiken nicht gewachsen waren. Dann aber hielt die Falle, die man uns doch gestellt hatte, den Druck nicht mehr aus und krachte zusammen.
Die Vorwarnung kam wieder einmal aus Moskau. Oleg Tabakow hatte gleich nach seiner Rückkehr sein Versprechen gehalten und war zur ideologischen Abteilung der Partei gegangen, um seinen Bericht vorzutragen. Dort erwartete ihn schon die Retourkutsche, er habe durch seine öffentlichen Affären mit Revisionisten in Prag in unerhörter Weise alle tschechischen Patrioten und Kommunisten brüskiert. Das brachte ihm eine Rüge und ein längeres Verbot von Auslandsreisen ein. Die Patriotin Jiřina Švorcová