Flucht in die Finsternis. Arthur Schnitzler

Flucht in die Finsternis - Arthur Schnitzler


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Nun erst streckte sich Robert, den das Umherwandern in den unebenen und schlecht gepflasterten Strassen der alten Hafenstadt ermüdet hatte, auf sein Lager hin und suchte im Herzen nach dem frohen Vorgefühl, das ihn noch heute morgen während seines Spazierganges bewegt und beinahe beglückt hatte. Aber was er fand, war nicht Freude mehr, sondern eine sonderbare Bangigkeit, als fahre er einer bedeutungsvollen, ernsten Entscheidung entgegen. Kündigte die Nähe der Heimat in so unerwünschter Weise sich an? Sollte es ihm bestimmt sein, ebenso bedrückt, wie er fortgereist war, wieder heimzukehren, und brach nun nach manchen guten und freien Stimmungen der letzten Monate jenes Unbegreifliche, kaum in Gedanken, nimmer in Worte zu Fassende über ihn herein, das dunkel drohend noch Schlimmeres anzumelden schien?

      Hatten die Ärzte sich geirrt oder ihn mit Absicht getäuscht, die von einer sechsmonatigen zerstreuenden Reise vollkommene Genesung für ihn zu erwarten behaupteten? Doktor Leinbach, sein Freund aus Jugendtagen, war freilich immer geneigt, Beschwerden, die man ihm klagte, leicht zu nehmen, und es konnte kaum als sehr beruhigend gelten, dass er alle irgendeinmal schon am eigenen Leib verspürt haben wollte. Aber dass auch Otto, wenn er ihn für ernstlich krank gehalten, die Verantwortung auf sich genommen hätte, den einzigen Bruder für ein halbes Jahr, ohne jede Begleitung, in die Welt hinauszuschicken, das war in keinem Fall anzunehmen. Zugleich aber musste Robert sich fragen, und nicht zum erstenmal, ob er sich dem Bruder auch ohne Rückhalt aufgeschlossen und nicht vielmehr in sonderbarer Scheu noch in der letzten Unterredung ihm gegenüber seinen Zustand als harmloser dargestellt, als er selbst ihn empfunden hatte, in der unbewussten Hoffnung, auf diese Art ein gelinderes Urteil zu erfahren?

      Urteil: dies war das Wort, das sich ihm innerlich aufdrängte; und es was das richtige. Denn von Jugend auf hatte er sich dem älteren Bruder gegenüber bei äusserlich glänzenderen Eigenschaften als einen Menschen von geringerem Wert erkannt, und er verhehlte sich nicht, dass sein eigener bürgerlicher Wandel von Otto zwar mit Nachsicht, oft aber mit Ungeduld und Unmut betrachtet wurde. Und Robert begriff das sehr gut. Ottos pflichtenschweres Dasein, der Ernst seines Berufes, bei dessen Übung es um so wesentliche Dinge wie um Leben und Gesundheit ging, sein sicheres und zugleich opfervolles Ruhen in der Familie, all das stellte sich für Robert in so hehrem Lichte dar, dass ihm dagegen seine eigene Existenz, wenn sie auch in den Rahmen eines Amts gespannt war, oft genug wie ohne rechte Würde und ohne tieferen Sinn erschien.

      Von seinem Bruder als ein Genesener, ja als ein Gebesserter vielleicht, mit Herzlichkeit begrüsst zu werden, dünkte ihn das Beste, was die Heimat zum Empfang ihm bieten konnte. Und dass die freudige Erwartung eines guten Wiedersehens sich allmählich in eine immer unruhevollere Bangigkeit gewandelt hatte, das musste verborgene Ursachen haben, denen Robert zögernd, aber widerstandslos nachgrübelte. Und er fühlte, wie aus den Gründen seiner Seele dumpf, doch unverscheuchbar, eine Erinnerung emportauchte, als wollte sie sich nicht länger in ihrem jahrelangen trügerischen Schlummer halten lassen; ein Wort fing an in ihm zu klingen, das sich vorerst seinen eigenen Sinn nicht einzugestehen wagte; und mit Absicht flüsterte er dieses Wort einmal, zehnmal vor sich hin, als vermöchte er es auf diese Weise seiner Bedeutung wie seiner Kraft zu berauben. Und wirklich begann es allmählich leerer und nichtiger zu werden, war am Ende nichts als ein zufälliges Nacheinander von Buchstaben, willkürlich aneinandergereiht, nicht sinnvoller als unter dem heimrasenden Zug das Singen der Räder mit dem es sich vermischte und in dem es sich endlich für den mählich Entschlummernden völlig verlor.

      III

      Als Robert in strömendem Regen am Bahnhof in den Wagen stieg, gab er dem Kutscher zuerst die Adresse seiner früheren Wohnung, die er vor der Abreise aufgegeben hatte; dann erst, sich besinnend, nannte er den Namen des alten Gasthofes, in dem er Quartier bestellt hatte. Hinter einer Kirche, zwischen hohen, düsteren Häusern der inneren Stadt gelegen, bot er nicht den freundlich-festlichen Anblick dar, mit dem neuentstandene den Anlangenden willkommen zu heissen pflegen; Robert aber hatte grade diesen gewählt, nicht nur, weil seine Geldmittel, wenn auch noch leidlich zusammengehalten, ihm einen längeren Aufenthalt in einer der moderneren Fremdenherbergen nicht gestatteten, sondern auch, weil er grade hier in einem Zimmer des vierten Stockwerks vor vielen Jahren in Gesellschaft eines längst verstorbenen Freundes, dessen Geliebte hier wohnte, manche fröhliche Stunde verbracht hatte. In seiner Erinnerung hatte er das Bild des Gasthofes sonderbarerweise wie das eines kleinen, alten Palastes aufbewahrt und suchte nun vergeblich nach den Spuren verblichener Pracht, die damals eine solche Täuschung hervorgerufen oder begünstigt haben mochten. Weder gab es die kunstreichen Zierate an dem eisernen Treppengeländer, noch waren an den Flurdecken die barocken Reliefs zu sehen, die er zu finden erwartet hatte; und der Stiegenteppich, schmal und zerschlissen, schimmerte in einem verblassten und ärmlichen Purpurrot. Doch das Zimmer, das man ihm anwies, hochgewölbt, mit zwei breiten Fenstern, behaglich eingerichtet und mit dem Ausblick auf die grünpatinierte Kirchenkuppel, versöhnte ihn mit dem trübseligen ersten Eindruck. Er liess sein Gepäck heraufschaffen und machte sich sofort daran, mit Hilfe einiger Kleinigkeiten aus eigenem Besitz, die er auch auf Reisen stets mit sich zu führen pflegte, wie Briefmappe, Papiermesser, Aschenschale und dergleichen, dem Gasthofzimmer einen leisen Schein von Häuslichkeit zu verleihen. Nachher begab er sich in das Badezimmer, dem wohl anzumerken war, dass es nur nach der widerwillig anerkannten Forderung einer neuen Zeit aus irgendeinem unbenützten Bodenraum für seine jetzige Bestimmung umgewandelt worden war. Eine gelbliche, in die Decke eingelassene Lampe verbreitete spärliches Licht in dem fensterlosen Raum, und durch den länglichen Spiegel, der in einem glatten, alten Goldrahmen an der Wand hing, ging ein Sprung von unten bis oben. Seiner Gewohnheit nach blieb Robert ziemlich lange im Bad, dann, den rauhen, weissen Mantel um die Schulter geschlagen, trat er vor den Spiegel hin und fand sein bartloses, schmales Gesicht recht frisch, ja sogar für seine dreiundvierzig Jahre von ziemlich jugendlichem Aussehen. Schon wollte er sich befriedigt abwenden, als aus dem trüben Glas in rätselhafter Weise ein fremdes Auge ihn anzublicken schien. Er beugte sich vor und glaubte zu bemerken, dass das linke Lid tiefer herabsinke als das rechte. Er erschrak ein wenig, prüfte mit den Fingern nach, zwinkerte, presste die Lider fest aneinander und öffnete sie wieder — doch der Unterschied gegenüber der rechten Seite blieb bestehen. Er kleidete sich rasch an, trat vor den grossen Wandspiegel zwischen den beiden Fenstern, öffnete die Lider, so weit er vermochte, und musste feststellen, dass das linke Lid seinem Willen nicht so rasch gehorchte wie das rechte. Doch das Auge selbst blickte klar, die Pupille antwortete dem Lichtreiz ohne Zögern; und da Robert sich überdies erinnerte, dass er die Nacht hindurch auf der linken Seite gelegen hatte, schien immerhin eine genügende Erklärung für die Schwäche des Lids gegeben. Trotzdem nahm sich Robert vor, morgen Doktor Leinbach oder Otto zu Rate zu ziehen oder, lieber noch, es darauf ankommen zu lassen, ob sein Bruder die Ungleichheit der Lider von selbst entdecken würde. Zugleich aber fühlte er diesen Vorsatz wie von einer unbestimmten Angst durchzittert, ungefähr so, als wenn er etwas Unrechtes begangen hätte und zumindest eines Verweises, wenn nicht gar einer Strafe gewärtig sein müsste. Zuerst wehrte er sich dagegen, diese Regung zu verstehen; dann streckte er beide Arme aus, wie um einen nahenden Feind abzuwehren, entfernte sich von seinem Spiegelbild und trat zum Fenster hin, an das die schweren Regentropfen klatschten. Sein Blick fiel auf die Marmorstatue des heiligen Christophorus, die gegenüber in einer Mauernische der Kirche stand, gradeso wie vor zwanzig Jahren. Nun erst merkte er, dass er sich in demselben Zimmer befand, das die Geliebte seines Freundes Höhnburg vor so vielen Jahren bewohnt hatte; nur die Möbel waren neu, und statt der schweren dunkelroten Plüschportieren fiel von der Messingstange des Alkovens in leichten Falten ein lichter, geblümter Kretonnevorhang herab, der zu der Farbe der neuen Tapete abgestimmt war. Sollte er diese Veränderung ins Helle, Freundliche als günstige Vorbedeutung ansehen? Er versuchte es vergebens. Denn mit grausamer Deutlichkeit stieg vor Roberts Sinnen der längst vergangene Frühlingsabend wieder auf, an dem nicht nur des Freundes, sondern — wie er tief erschauernd fühlte — vielleicht schon sein eigenes Schicksal geheimnisvoll sich angekündigt hatte. Und er erlebte ihn wieder.

      Mit seinem Bruder Otto, dem Leutnant Höhnburg und anderen guten Bekannten war er nach einem Wettrennen in der Freudenau in einem menschenüberfüllten Pratergarten eingekehrt. Höhnburg war unter ihnen allen der Lauteste und Lustigste gewesen, noch lauter und übermütiger, als er sonst zu sein pflegte, und es war nicht sonderlich aufgefallen, als er dem Kellner ein Trinkgeld in ungewöhnlicher Höhe überreichte. Auf dem Heimweg aber hatte Otto den Bruder


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