Flucht in die Finsternis. Arthur Schnitzler
etlichen Tagen mit Bestimmtheit wusste — unheilbarem Wahnsinn verfallen sei und in spätestens drei Jahren unter der Erde liegen werde. Robert lehnte sich zuerst gegen die Zumutung auf, in dem jungen Kavallerieoffizier, der ein solches Bild ungetrübter, ja gesteigerter Gesundheit bot und der zudem sein Freund war, einen Gezeichneten, einen Verurteilten zu erblicken. Als er sich aber endlich den Fachkenntnissen seines Bruders gegenüber bescheiden musste, begann ihm Wesen und Benehmen, ja die ganze Erscheinung seines Freundes unheimlich und immer unheimlicher zu werden; er vermied es, das Wort an ihn zu richten, ja hatte geradezu Angst, dass jener sich wieder zu ihm wenden und vielleicht den Arm unter den seinen schieben würde, und ohne Abschied verschwand er aus der Gesellschaft. Schon wenige Tage darauf erlitt Höhnburg einen Tobsuchtsanfall und musste einer Anstalt übergeben werden.
Bei der nächsten Begegnung mit Otto, ohne vorherige Absicht, wie einer ganz plötzlichen, unwiderstehlichen Eingebung folgend, stellte Robert die Forderung an den Bruder, dieser möge, wenn er irgendeinmal, sei es morgen oder in ferner Zukunft, die Vorzeichen einer Geisteskrankheit an ihm entdecke, ihn ohne weiteres auf rasche und schmerzlose Weise, wie sie dem Arzte ja immer zu Gebote stünde, vom Leben zum Tode befördern. Otto verspottete ihn zuerst als unverbesserlichen Hypochonder, Robert aber gab nicht nach und erklärte, dass brüderliche Liebe einen solchen Dienst nie und nimmer verweigern dürfe, da ja in jedem andern Fall der Kranke selbst nach Belieben seinen Leiden ein Ende machen könnte, während eine Geistesstörung den Menschen zum willenlosen Sklaven des Schicksals erniedere. Otto brach unmutig das Gespräch ab. Im Laufe der nächsten Wochen aber kam Robert mit solcher Beharrlichkeit immer wieder auf seine Forderung zurück, unterstützte sie mit so ruhig vorgebrachten und eigentlich unwidersprechlichen Gründen, dass Otto, um nur das unleidliche Geschwätz endlich loszuwerden, sich das erbetene Wort entreissen liess. Doch auch damit gab Robert sich noch nicht zufrieden; er schrieb an seinen Bruder einen Brief, darin er ihm trocken, gradezu geschäftsmässig, den Empfang jenes Versprechens bestätigte und ihm überdies riet, diese Bestätigung sorgfältig aufzubewahren, um sich vielleicht später einmal Anklägern oder Zweiflern gegenüber mit der unwiderleglichen Rechtfertigung einer notwendigen Tat ausweisen zu können.
Nach Absendung seines Briefes fühlte Robert sich beruhigt, und es war von nun an, wie im gegenseitigen Einverständnis, zwischen den Brüdern von jener Abmachung mit keinem Worte, ja nicht einmal andeutungsweise mehr die Rede gewesen. Robert aber fühlte sich wie von einem Bann befreit; ja ihm war, als wäre nun von allen Möglichkeiten, die sein Dasein bedrohen könnten, grade jene düsterste ein für allemal aus der Welt geschafft. Auch als er sich im letzten Frühling gezwungen sah, jeder Beschäftigung zu entsagen, weil sein Gedächtnis versagte — als er sich aus der Gesellschaft zurückzog, weil ihn die gleichgültigsten Worte ärgerlich oder gar schmerzlich berührten, als er sogar sein geliebtes Klavierspiel aufgeben musste, weil es ihn selbst manchmal bis zu Tränen rühren konnte, deren er sich dann schämte —, auch damals hatte er keineswegs den Ausbruch des Wahnsinns gefürchtet, so wenig eine solche Befürchtung ihn während der ganzen Reise gequält hatte; und er wusste untrüglich, dass gestern abend im Eisenbahnwagen vor dem Einschlafen das schicksalsvolle Wort für ihn zum erstenmal aus seiner Buchstabentotheit wieder zu lebendiger Bedeutung erwacht war. Damit aber schien ihm der Vertrag zwischen ihm und seinem Bruder neu in Kraft getreten, und jenes Schreiben, das Otto gewiss sorgfältig aufbewahrt hatte, war zum Schuldschein geworden, gegen dessen stumme Unerbittlichkeit es in einer herandrohenden Stunde keinen Einspruch gab. Doch bedurfte es überhaupt eines solchen Scheins? War Otto nicht der Mann, einen Verlorenen aus der Welt zu schaffen, auch ohne durch einen bindenden Vertrag der Verantwortung enthoben zu sein — einfach aus Menschenliebe? Und Robert zweifelte nicht, dass sich kluge und edle Ärzte zu einem Vorgehen solcher Art viel öfter entschliessen, als im allgemeinen bekannt zu werden pflegt; auch ohne Rechtfertigungsbriefe in der Hand zu haben, wie Otto einen besass.
Aber kam es nicht auch vor, dass Ärzte sich täuschten. Können sie nicht selbst irrsinnig werden und einen geistig Gesunden für geisteskrank halten? Und ist auf solche Art nicht einer dem andern rettungslos ausgeliefert — der Kranke dem Gesunden, wie der Gesunde dem Kranken? An dieser Stelle aber riss Robert sich gewaltsam zurück. Er wollte sich’s nicht länger gefallen lassen, dass krankhafte Grübeleien ihn wehrlos in das trübe Land schwankender Möglichkeiten trieben, wo das Höchstwahrscheinliche und das kaum Vorstellbare in unlauterer Nähe beisammenwohnten. Wieder warf er einen raschen Blick in den Spiegel. Einen Unterschied zwischen rechts und links vermochte er jetzt nicht mehr wahrzunehmen. Beide Augen blickten etwas trüb und ermüdet, doch war er auf dem linken von Jugend auf ein wenig kurzsichtig gewesen und hatte die Gewohnheit angenommen, es zuweilen zusammenzukneifen. Dazu kam, dass er heute nacht kaum geschlafen hatte. Er sah im ganzen, das war nicht zu leugnen, abgespannt und übernächtig aus. So entschloss er sich, den beabsichtigten Besuch vorläufig zu verschieben, um Otto nach einer gut verbrachten Nacht, erfrischt, in gehobener Stimmung und womöglich — denn auch dies erschien ihm nicht ohne Bedeutung — bei gänzlich aufgehelltem Wetter zum erstenmal wieder gegenüberzutreten.
IV
Bald darauf trat er aus dem Tor des Gasthofs, behagte sich in der Vorstellung, als Fremder in den Strassen einer unbekannten Stadt umherzuspazieren, und nahm mit Absicht sein Mittagessen in einem Gasthaus, in das er früher niemals eingetreten war. Dann begab er sich auf die Suche nach einer Wohnung, lief stundenlang in verschiedenen Häusern treppauf, treppab, besichtigte Dutzende von leeren und von bewohnten Räumen, störte irgendwo eine junge Dame beim Klavierspiel, unterbrach anderswo einen Lehrer beim Unterricht zweier Knaben, unterhandelte mit zuvorkommenden, gleichgültigen und mürrischen Vermietern und Hausbesorgern und konnte sich bei all dem niemals vorstellen, dass sein ganzes Unternehmen ernst gemeint sei und zu einem bestimmten Ziel führen sollte. Einmal geriet er in eine Strasse, wo Erinnerungen einer längstvergangenen Zeit ihn umschwebten; hinter jenem Eckfenster im zweiten Stock hatte er vor vielen Jahren glückliche oder doch zum mindesten angenehme Stunden erlebt; und nicht eben schmerzlich, sondern eher wie einer kleinen Unannehmlichkeit wurde er sich des Umstandes bewusst, dass er heute so einsam in der Welt stand wie kaum je zuvor. Flüchtig zog ihm wieder Alberta durch den Sinn; gleich darauf aber, farbig und scharf umrissen, tauchte sehr lebendig das Bild des Fräulein Rolf vor ihm auf, der er sich durch den Abschiedsblick von gestern näher verbunden fühlte. Er versuchte sich ihren Vornamen ins Gedächtnis zu rufen, was ihm vorerst nicht gelang. Übrigens wusste er wenig von ihr und ihrer Familie; es war ihm kaum mehr bekannt, als dass Mutter und Tochter sowohl daheim als auf Reisen meist ohne den Vater zu sehen waren, der, ein gesuchter, fast berühmter Advokat, wegen seiner unglücklichen Neigung zum Börsenspiel doch eines zwiespältigen Rufes genoss. Hiermit mochte es auch zusammenhängen, dass die einzige Tochter, die gewiss schon in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre stand, bisher unvermählt geblieben war; und dunkel glaubte sich Robert eines Gerüchtes zu erinnern, das sie mit einem berühmten, seither verstorbenen Musiker verlobt gesagt hatte. Während er so über sie nachdachte, wurde ihm ihre Gestalt immer rührender und erschien ihm wie von Geheimnissen umflossen.
Am Abend besuchte Robert ein Vorstadttheater. In behaglicher, etwas müder und traumhafter Stimmung folgte er dem heiteren, musikalischen Spiel und war kindlich erfreut, als ihm der erste Komiker mitten in einem Couplet von der Bühne herab vertraulich zunickte. Nach dem Theater nahm er den Weg in ein Kaffeehaus der inneren Stadt, wo sich seit Jahren allabendlich ein kleiner Kreis von Bekannten zu versammeln pflegte, mit denen Robert von der Reise aus, wenigstens anfangs, auf Ansichtskarten flüchtige Grüsse getauscht hatte. Als er eintrat, sah er in der gewohnten Ecke Herrn August Langer sitzen, Vetter seiner verstorbenen Frau, einen liebenswürdigen, älteren Herrn, höheren Bankbeamten, der durch Tracht und Haltung seine vielbemerkte Ähnlichkeit mit einem in Sportkreisen sehr populären Aristokraten zu unterstreichen suchte. Schon von weitem, aber ohne sich zu erheben und ohne die Zeitung aus der Hand zu legen, winkte Langer dem Eintretenden zu, drückte ihm dann freundlich die Hand und stellte sofort mit Befriedigung dessen vorzügliches Aussehen fest. Rudolf Kunrich trat heran, ein kleiner Hofschauspieler, und stimmte Herrn Langer zu. Beide, sowohl Kunrich als auch Langer, erschienen Robert in den sechs Monaten seines Fernseins um viele Jahre gealtert. Der Eintritt Leinbachs, der als Familienvater und vielbeschäftigter Arzt hier nur ein seltener Gast war, bedeutete für Robert eine angenehme Überraschung. Leinbach, den Freund erblickend, nahm ihn sofort für sich allein in Anspruch, stellte die üblichen Fragen,