Das einfache Leben. Ernst Wiechert
still und leer sei der Wald. Außer dass die Toten umgingen aus Land und Meer, aber darüber wisse er nichts.
Der Mond stand noch tief, vor ihnen, und sie sahen nur sein Licht. Der Himmel war sanft beglänzt, wie aus einem fernen Tor, und mitunter blitzte es im Walde auf, ein einzelner Strahl, der durch eine Lücke im Geäst auf feuchte Rinde fiel. Eulen riefen, und vom Wasser schrie ein unbekannter Vogel. Es war, als frage jemand nach dem Wege.
Der Fußpfad senkte sich, und dann war das Wasser zu sehen. Es lag als eine matte Scheibe in einem dunklen, vielfach gesprungenen Rahmen. Es dehnte sich, weit hinaus, und in der Ferne wurde es grauer und matter, bis es mit der Schwärze verfloss. Eine schmale Mondbahn lief bis zu ihren Füßen, und in der Höhe, zwischen dunklen, leise treibenden Wolken, standen die Sterne. Nichts bewegte sich, nicht einmal die Brücke des Mondlichts, und die Schilfhalme standen wie Speere mit glühenden Spitzen am Ufer. Und doch war es wieder, als ginge jemand leise durch den Wald und über das Wasser hin, verstohlen und atemlos, bald zur Rechten und bald zur Linken.
»Dort ist sie«, sagte der Förster leise.
Thomas sah die Insel, einen Büchsenschuss weit. Sie lag in vollkommener Schwärze auf der matten Scheibe, nur um die Wipfellinie war ein fließender, weißer Schein, und die trockenen Äste der Eichen standen wie Gittermasten gegen den Mond. Dunkle, schwere Vögel saßen regungslos in ihrem Netzwerk.
»Hier ist der Kahn«, sagte der Förster.
Aber Thomas wollte nicht fahren. Er wusste, dass es hier war, wo er leben und wahrscheinlich auch sterben würde. Seine Augen sahen es, und mehr noch sagte es sein Herz. Aber er wollte nicht hingehen wie in einem Zauber. Zu viel stand auf dem Spiel. Er war fünfundvierzig Jahre alt und brauchte den Tag, um dies zu sehen. Auch am Morgen würde es noch da sein, und es würde gut sein, wenn es regnete und ein harter Wind ginge, dass alles grau und wirklich aussähe. »Nein, morgen früh«, sagte er.
Sie standen noch eine Weile und sahen hinaus. Einer der großen Vögel über der Insel richtete sich auf und schlug mit den Flügeln. Ein heiserer Ruf kam über das Wasser herüber. Dann war alles wieder wie zuvor.
»Das sind die Reiher«, sagte der Förster. »Der General liebt sie nicht, aber es sind edle Vögel, und außer ihnen haben Sie niemand auf der Insel.«
»Ich hoffe, dass das gut sein wird«, sagte Thomas.
Dann gingen sie den gleichen Weg wieder zurück.
Das Haus war dunkel, und Thomas stieg mit einer Kerze die Treppe hinauf.
»Nebenan war sein Zimmer«, sagte Gruber. »Sie lässt keinen hinein. Aber es ist ganz still dort, und Sie brauchen sich nicht zu fürchten.«
Thomas stand noch am offenen Fenster. Nein, er fürchtete sich nicht. Alles würde gut sein, wie er es gesehen hatte. Er wusste, dass es auf ihn gewartet hatte, sonst würde er ja weitergefahren sein, die breite Straße zur Stadt. Man musste nur gehorsam sein.
Er ließ das Fenster offen und sah noch im Dunkeln zur niedrigen Zimmerdecke auf. Der große Vogel … wie er die schweren Flügel geöffnet hatte … und dann wieder in Schlaf versunken war … der Mond fiel in ihre geschlossenen Augen … die Sterne kreisten … alles war gut und ruhig dort … er wollte aussteigen dort und arbeiten … nie war er allein gewesen … Schiffe, Menschen, Häuser … er hatte keinen Ehrgeiz mehr und wenig Glauben … wie ein Geschwätz … aber dort wollte er sich bereden, so einsam wie die großen Vögel …
Dann schlief er ein.
3
Er erwachte davon, dass der Regen auf das Dach rauschte und dass nebenan, hinter der dünnen Wand, jemand ging. Er erriet es nur daraus, dass in regelmäßigen Abständen eine Diele leise knarrte. Es war ein seufzender Ton, als wenn im Walde zwei Bäume sich aneinander rieben. Ein ganz schwacher Schein stand schon hinter dem Fenster, aber es musste noch Nacht sein. Die Dinge des Zimmers zeigten noch keinen Umriss.
Er richtete sich auf und lauschte. Die Schritte musster langsam und ganz regelmäßig sein, auch glaubte er, als seir Atem ruhiger ging, das Knistern eines Seidenkleides zu hören. So war es die Frau, die im Zimmer ihres Sohnes war. Er wusste nicht, ob sie dort zu schlafen pflegte.
Der Regen rauschte, kein Wind ging, und der Wald empfing bewegungslos die strömenden Tropfen. Ein einziger tiefer Ton stand um das Haus, groß und tröstlich wie Meeresrauschen. Aber nun hob sich eine Stimme dazwischen auf, tief und ganz leise, die mit geschlossenen Lippen eine Melodie erklingen ließ. Die Frau sang, so leise wie über einem schlafenden Kind, aber das Lied sonderte sich doch ab von dem eintönigen Rauschen des Regens, weil es Höhe und Tiefe hatte, einen Gang der Töne, der anders geordnet war als das Fallen der Tropfen, eine menschliche Bewegtheit, die nicht einmal die der Klage war, sondern fast wie ein leiser Marsch vor sich hinging, selbstvergessen wie ein Kind auf abendlicher Straße.
Thomas war es, als kenne er das Lied, ja er wusste, dass er es kannte, so genau, wie man seinen Namen kennt, aber in dem Zwielicht des dämmernden Morgens und in der Unwirklichkeit alles Geschehens konnte er sich nicht erinnern. Traum und Morgen verwischten sich ihm, und während er lauschte, war er geneigt zu meinen, dass auch dies dazugehöre zu dem neuen Leben, die singende Frau wie der Regen, dass der Kummer sich hier nicht verberge wie in den Städten, sondern singend durch die Nacht gehe und es ihn nicht berühre, ob ein Mensch zuhöre, ein Fremder gar. den es aus dem Schlafe wecke.
Nun verstummte das Lied oder es verschmolz mit dem Regen, und auch die Bewegung der Diele klang nun weit her, als seien es doch zwei Kiefern im Walde, die in der Morgenluft erschauernd sich rührten. Schließlich war es, als lache es leise hinter der Wand, ein Mensch, der mit sich allein wäre, ganz allein, und eine Erinnerung riefe den leisen Ton in seiner Brust herauf.
Doch war Thomas wohl schon eingeschlafen, als dies geschah.
Am Morgen dann fand er niemanden in der Stube unten, aber neben seinem Frühstück lag ein Zettel des Försters, dass er auf die Insel fahren (der Kahn liege unten am Ufer) und ihn dort oder wieder im Hause erwarten möge. Die Schrift war fest und gerade, und Thomas dachte wieder an das Lied in der Nacht und wie seltsam es wohl aussehen würde, wenn die Frau die Worte in ihrer Schrift darunter setzen wollte. »Sieben Jahre, mein lieber Herr …«
Leise ging er aus dem Haus. Der Regen hatte fast aufgehört, aber die Wolken zogen noch dunkel, in langen Zügen über den Wald. Aus den Bäumen tropfte es unaufhörlich in das welke Laub, und bei jedem Windstoß rauschte es schwer und sprühend herab. Es war immer noch warm, und die Walderde roch bitter und schwer.
Dünne Nebel zogen über den See, und die Insel lag düster über dem grauen Wasser. Das Haus war nun zu sehen, nicht mehr als eine große Hütte, und es war eigentlich nur ein schweres