Du bist dran. Mieze Medusa

Du bist dran - Mieze Medusa


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Räumen. Im Erdgeschoß riecht es nach Keller, weiter oben nach Essen. Unsere Wohnung liegt im ersten Stock. Sie gehört Nikos.

      Wenn man in die Wohnung kommt, sieht man im Gang erstmal nur Schuhe. Der Balkon ist schon voll, wenn Nikos rausgeht, um eine zu rauchen. Neben der Wohnküche liegt das Schlafzimmer von Mama und Nikos. Dann kommen die Zimmer von Dimitris und Eleni, den Zwillingen, und das Zimmer mit dem Schrank, in dem alles Platz haben muss, was für das feuchte Kellerabteil zu schade ist. Ich habe kein eigenes Zimmer. Ich hatte kurz eines, jetzt schlafe ich bei der γιαγιά. Das ist Griechisch für Oma und wird so ausgesprochen: Jaja.

      Mein altes Zimmer hat jetzt Eleni.

      »Ich schlaf nicht mehr im gleichen Zimmer wie Dimitris, ich bin ein Mädchen, und Mädchen schlafen nicht im gleichen Zimmer wie Dimitris«, hat sie erklärt, als sie von einem Schulausflug zurückkam, bei dem sie nicht mit Dimitris und ihrer besten Freundin in einem Zimmer schlafen durfte.

      »Dimitris ist dein Bruder und natürlich schläfst du im gleichen Zimmer«, hat meine Mutter geantwortet und Nikos hat zustimmend gebrummt. Aber Eleni ist wie meine Mutter: Es ist schwer auszuhalten, wenn sie Streit mit dir hat.

      Zu mir ist die γιαγιά meistens freundlich, zur Mama nicht. Sie hat sich mit unserer Gegenwart abgefunden. Sie liebt Eleni und Dimitris ausdauernd und auf eine großzügige Art und Weise, die schlecht für die Zähne ist. Ich glaube schon, dass die γιαγιά uns mag. Es ist nur so, dass sie sich von Mama überrumpelt gefühlt hat. Fast vierzehn Jahre ist es her, dass Mama sich besonders sorgfältig zurecht gemacht hat. Ich war damals fünf. Alt genug, um für ein paar Stunden am Abend alleine zu bleiben. Mama hat das dunkelgraue Seidenkleid angezogen, das sie im Internet bestellt und von dem sie die Etiketten nur ganz vorsichtig abgelöst hat, damit sie es in der nächsten Woche wieder zurückschicken kann. Ihre Hand hat ein bisschen gezittert, als sie die Lippen nachgezogen hat.

      »Wünsch mir Glück, Agnesa, wünsch uns Glück«, hat sie geflüstert und dabei ihr Spiegelbild fixiert, als könnte sie darin die Zukunft sehen. Als sie heimgekommen ist, war das Kleid zerdrückt und hatte Rotweinflecken, aber das sei egal, meinte sie mit einer Stimme, die zitterte wie vorher ihre Hand beim Schminken. Eine Woche später sind wir bei Nikos eingezogen. Mamas Bauch wuchs und wuchs. Monate später und nach einem genauen Blick auf die Zwillinge vergaß sogar die γιαγιά, auf einem Vaterschaftstest zu bestehen.

      Vor Nikos sind wir oft umgezogen. Mama war aus Stein und ich irgendwie daran schuld. Meine Mama liebte einen Mann und hoffte, mit einem Kind würde daraus eine Familie. Der Mann suchte nach einem Blick auf mich das Weite. Nicht, dass Mama mich nicht lieben wollte. Doch ich hatte schon in den ersten Wochen alle Erwartungen enttäuscht. Der Mann war weg. Das Kind war da. An Spaziergänge war nicht zu denken.

      Also legte sich die Mama auf das Sofa. Die Haut so dick, daraus hätte man Mauern bauen können. Sie ist tagelang auf dem Sofa gelegen: »Schatz, geh spielen!«

      Ich habe mich so gesehnt nach etwas, das Mamas Stahlbetonhaut durchdringt. Aber wer weiß schon, wie das funktioniert mit dem Einreißen von Mauern.

      Eines Tages im Supermarkt entdeckte Mama ihr Lächeln wieder. Sie schenkte es Miroslav, der gab ihr im Tausch dafür die Schlüssel zu seiner Wohnung. Wir packten unsere Sachen. Vielleicht hätten wir sowieso aus der alten Wohnung rausmüssen. Wohnen kostet Geld, und wie hätte Mama das verdienen sollen, wenn sie die ganze Zeit auf dem Sofa lag?

      Die Sache mit Miroslav war nicht für immer. In schneller Folge wohnten wir dann bei Alois, Karim und noch ein paar anderen. Ich habe die Umzüge gehasst. Jedes Mal musste ich die Mama neu auswendig lernen. Die Alois-Mama liebte ihr Weizenbier zum Kartoffelsalat. Die Miroslav-Mama trank selten ein Glas Wein, dafür gab’s täglich einen Spaziergang und am Wochenende eine Tour durch den Wienerwald. Die Karim-Mama brachte mich meistens zu Karims Mutter, damit sie Zeit hatte, sich ganz auf Karim zu konzentrieren.

      Bei wem hat Mama vor dem Anschneiden mit dem Brotmesser drei Kreuze auf den Brotlaib gezeichnet? Ich erinnere mich nur an die Ohrfeige, die ich bekam, als ich Mama vor ihrem damaligen Mann fragte, warum sie das mache. Meine Mama hat ihre Meinungen und ihr Lieblingsessen gewechselt. Sie hat ihr Lachen und ihre Kleider umgefärbt. Nur ihre steinerne Miene, die ist immer die Gleiche geblieben. Wenn die steinerne Miene sich zu verfestigen begann, dann wurde es bald wieder Zeit für einen Umzug.

       Die unerträgliche Leichtigkeit von 0 und 1

      Das Panel »Wesentliche Erfolgsstrategien für das Agile Testing« langweilt mich. Es fühlt sich an, als würden Ameisen auf meiner Haut krabbeln. Soll ich mir die Spitze des Bleistifts ins Auge rammen, nur damit etwas passiert?

      Die IT-Fachmesse ist gut besucht. Ein paar Strahlen Tageslicht kämpfen sich in die Halogenwelt. Auf der Bühne redet einer. Sein Mund bewegt sich so langsam, als hätte ihn jemand auf Zeitlupe gestellt. Spucketropfen schweben vor seinem Mund. Agiles Testen ist nicht so schwierig, wie er es darstellt. Man muss halt nach jedem Iterationsschritt ein paarmal testen, und dazwischen auch.

      Als er endlich fertig ist, gehe ich nach vorne. Neben der Bühne steht die Messetechnikerin. Sie hat Augen, die man sich merkt. Ich gebe ihr meinen Laptop. Sie steckt ihn an und fragt nach dem Video-Anschluss: »HDMI oder VGA?«

      Sie checkt, ob der externe Bildschirm aktiviert ist, das ist er natürlich. Alles klappt problemlos.

      »Brauchen Sie sonst noch etwas?«

      Ihre Stimme ist so angenehm wie ihre Haarfarbe. Ihre kinnlangen Haare glänzen im Licht. Die Kurve von ihrem Hals zu ihren Schultern würde ich gern berechnen. Ich verliere mich in einer If-else-Schleife. If ich mich traue, then kann ich sie später fragen, ob wir was essen gehen wollen, else kann ich sie irgendwann per Mail kontaktieren oder nie.

      Sie lächelt mich an. Es ist ein professionelles Lächeln, aber immerhin.

      Ich zähle vorsichtig von zehn runter. Wenn ich bei drei bin, frage ich sie einfach. Ich komme bis zur Null, sage aber nichts.

      »Wollen Sie den Laptop gleich hierlassen oder bringen Sie ihn mir später nochmal?«

      Ich lasse meine Geräte nicht gern aus den Augen. Vor meinem Talk will ich noch aufs Klo gehen, das entspannt einfach. Wenn ich den Laptop jetzt bei ihr lasse, dann hat sie alle Zeit der Welt, um Malware zu installieren. Andererseits hat sie die auch jetzt schon gehabt. Es ist also egal. Wenn ich heimkomme, setze ich den Laptop ohnehin neu auf. In diesem Moment werden wir von einem Kollegen im zerknitterten Anzug unterbrochen. Er übersieht sie absichtlich und fragt mich mit tiefer Stimme nach dem Techniker. Als hätte er sich noch nie überlegt, dass sein Online-Buddy gandalf_2x45 nicht unbedingt der weiße, mitteleuropäische Mann mittleren Alters sein muss, für den er ihn hält: Ich verstehe ihren grantigen Gesichtsausdruck. Falls wir einen gemeinsamen Moment gehabt haben, dann ist er jetzt vorbei.

      Ich verschwinde Richtung Kaffeeautomat und himmle sie aus der Ferne an. Auch hier: Gesprächsfetzen, die Kompetenz vermitteln sollen und doch nur idiotisch wirken.

      »Ich hab haptisch null Guidance Mode. Das heißt: Ich muss hinschauen! Verstehst?«

      »Ich mein, schau dir die ESC-Taste an!«

      »Naja.«

      »Ich find, der hat außerdem voll das komische Ruhe-Wach-Hybernation-System.«

      Um welches Gerät es da geht? Ist doch egal. Morgen gibt es ein neues.

      Zeit für meinen Vortrag. Ich nehme Blickkontakt mit der Technikerin auf. Sie nickt mir zu. Ich lächle sie an und deaktiviere den Ruhezustand meines Laptops. Ein paarmal räuspern: eins, zwei, Sprechprobe. Die Leute im Publikum begrüße ich mit einem vorbereiteten Witz. Im Publikum grinst jemand. Immer die gleiche Angst: Lachen die Menschen über meine Witze oder meine Stimme? Jahrelang war es mir ein Gräuel, vor Menschen zu sprechen. Wie ferngesteuert rede ich weiter. Irgendwann ist es Zeit für die Fragen aus dem Publikum.

      »Wieso verwenden Sie nicht Office fürs Erstellen der Rechnungen?«, will einer wissen. Sein dunkelblauer Anzug ist von weißen Schuppen beschneit.


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