Du bist dran. Mieze Medusa

Du bist dran - Mieze Medusa


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wird Mama. Die Mama kämpft für Eleni, als wäre Eleni ein seltenes Tier, das vom Aussterben bedroht ist … Schließlich springt sie auf und rennt ins Nebenzimmer. Zurück kommt sie mit Elenis Schultasche. Mit sicherem Griff holt sie ein neutral eingebundenes Heft raus.

      »Siehst du das nicht?« Langsam und betont zählt sie die Noten ihrer Tochter auf: Eins, Zwei Plus, noch eine Eins. Und ein handschriftlicher Kommentar der Lehrerin, der Eleni für ihre Genauigkeit lobt!

      Ich denke daran, wie Mama auf dem Sofa gelegen ist, wenn ich ihr einen Brief von der Lehrerin gezeigt habe. Plötzlich sehe ich, wie sich der Bildschirm in meinem Kopf aufteilt und viele Szenen gleichzeitig gezeigt werden. Mama liegt auf dem Sofa. Alle paar Minuten überprüfe ich, ob sie noch lebt. Eine andere Szene zeigt mich, wie ich mich nach einem Umzug auf dem Weg in die Schule verlaufe und schon wieder zu spät komme. Ich sehe mich, über Hausaufgaben gebeugt. Wie ich Mama meine Schularbeiten hinlege und hoffe, dass es sie endlich mal aufregt. Aber sie war ja immer beschäftigt. Mit sich selbst, mit Nikos und seinen Vorgängern, mit der Schwangerschaft und dann mit den Zwillingen!

      Ich schnappe mir Kopfhörer und Handy und will mich in meinem Zimmer verstecken. Auf dem Fensterbrett hockt Dimitris. Seine Hand verschwindet im Mund. Schwer zu sagen, ob er Daumen lutscht oder auf allen Nagelbetten gleichzeitig kaut. Wenn ich auf dem Fensterbrett hocke, hängt ein Teil von mir in der Luft. Wenn er drauf sitzt, ist sogar noch ein wenig Platz für mich übrig. Dabei ist er gar nicht mehr so viel kleiner als ich, nur weniger dick.

      »Was los, Dimitris?«

      Mit dem Ellbogen deutet er Richtung Lärm. Nikos schreit so laut, dass man ihn auch hier noch gut verstehen kann. Ich habe festgestellt, dass es im Kopf einen Schalter gibt. Wenn man den umlegt, hört man das Geschrei so gedämpft wie die Geräusche vor dem Fenster. Als ob der Lärm einen nichts anginge. Dimitris schaut nicht so aus, als hätte er den Schalter schon gefunden.

      Ein Teil von meinem Hintern passt neben Dimitris aufs Fensterbrett. Ich nehme mein Handy aus der Hosentasche. Stöpsel mir das eine Ende der Kopfhörer ins Ohr, das andere geb ich Dimitris.

      »Was willst du hören?«

      Er zuckt mit den Schultern.

      Ich scrolle mich durch meine Playlist, lande bei Nazar. Dimitris feiert den. Ich finde, dass er gut aussieht. Mit den Songs kann ich nicht viel anfangen. Egal, es geht ja gerade um Dimitris. Wir hören Nazar, bis Dimitris die Hand aus dem Mund nimmt. Dimitris hat die schönsten Augen der Welt. Ewig lange Wimpern.

      »Weißt du«, sagt er dann, »ich will doch gar nicht weiter Schule gehen. Lieber schnell Geld verdienen. Erst woanders, und irgendwann übernehme ich das ›Poseidon‹. Oder ich arbeite gleich im ›Poseidon‹ … Weiß nicht, warum sich Papa so aufregt. Soll doch die Eleni Schule gehen, wenn sie will. Die interessiert das wenigstens.«

      »Wo ist Eleni überhaupt?«

      »Draußen. Im Park.«

      Ich schaue schweigend aus dem Fenster. Draußen regnet es, nicht stark, aber es regnet.

      Plötzlich lacht Dimitris: »Weißt du, Eleni interessiert sich nicht nur fürs Lernen.«

      Ich lächle zurück.

      »Sollen wir was spielen?«

      »Nein, ich glaub, ich schau auch noch raus.«

      Er verschwindet, bevor ich ihn fragen kann, wofür genau sich Eleni eigentlich interessiert, da draußen auf der Straße. Egal, ich bin ihre Halbschwester, nicht ihre Mutter.

      Ich warte, bis die Tür hinter Dimitris zufällt. Dann stecke ich mir auch den anderen Kopfhörer ins Ohr. Lade ein Video von Beyoncé. Who run the world? Girls! Vor dem Fenster ist das Wetter so unentschlossen wie ich.

       Kein Duckface

      Mitten in der Nacht wache ich auf. Die γιαγιά schnarcht leise. Ich starre an die Decke und habe eine Erleuchtung: Ich brauche eine eigene Wohnung. Dafür brauche ich Geld. Das ist ein Problem. Wenn ich etwas zum Anziehen brauche oder mit den Zwillingen ins Kino gehe, nehme ich mir Geld aus der Küchenschublade. Gelegentlich steckt mir Nikos einen Schein zu, wenn er mich besonders dringend im »Poseidon« braucht.

      Geld kann man verdienen. Ich brauch einen Job. Wo gibt es Jobs? Im Internet. Den Rest der Nacht wälze ich mich unruhig hin und her und träume davon, wie ich meine Wohnung einrichten werde. Zum Glück verschlafe ich nicht. Die Zwillinge sind schweigsam heute. Nachdem ich sie mit Frühstück und Schuljause versorgt habe, setze ich mich mit dem Laptop an den Esstisch und tue so, als würde ich Buchhaltung machen.

      Was für Jobs es gibt! HR, IT, Autobahnmeister … Nach einer halben Stunde weiß ich, was ich alles nicht kann. Bundzimmerer mit Kranschein. Kostenrechnung & Controlling. Nanny. Chef de Partie.

      Ich gehe ins Schrankzimmer und suche die Dokumentenmappe. Zwischen Geburtsurkunden, Meldezetteln und Impfpässen finde ich, was ich suche: mein letztes Zeugnis. Bei Mathematik steht eine Vier. Ich denke an Frau Reiter-Markowsky, meine Mathelehrerin, und daran, wie sehr sie es auf mich abgesehen gehabt hat. Wie sie immer gewartet hat, bis sie ganz sicher war, dass ich abgelenkt war, und mich dann zur Tafel gerufen hat. Während ich versucht habe, die Aufgabe zu lösen, hat sie extra laut mit den anderen in der Klasse geredet und mich nach ein paar Sekunden ungeduldig gefragt: »Na, Agnesa? Wird das heute noch was? Nein? Wieder nicht? Ich habe nichts anderes erwartet.«

      Mit dem Handy mache ich ein Foto und gehe zurück zum Laptop.

      Steuerberater (m/w), SPS-Programmierer/in, JAVA, Datenbanken/Mainframe, KonstrukteurIn. Was soll der Scheiß? Zurück zur Nanny. »Sie sind kinderlieb, bodenständig und haben Erfahrung in der Betreuung von Babys. Sie arbeiten gern in diesem Beruf und sehen diesen nicht als Zwischenlösung. Sie sind zuverlässig, engagiert und zeitlich flexibel. Sie verfügen über fließende Deutschkenntnisse (Muttersprache Niveau) und sind Nichtraucher.«

      Das kann ich. Aus dem Wohnzimmer höre ich den Fernseher. Ich werfe einen Blick ins Zimmer. Die γιαγιά legt Wäsche zusammen und schaut dabei eine Quizsendung. Mama und Nikos sind unterwegs. Entschlossen nehme ich mein Handy und gehe ins Zimmer. Ich drücke auf »Anrufen«. In meinem Bauch strudelt es vor Aufregung. Ich höre dem Läuten zu.

      Die Stimme der Frau klingt atemlos: »Hallo?«

      Im Hintergrund ist es ziemlich unruhig. Höre ich ein Kind schreien?

      »Moment!«

      Ein paar Schritte, das Geräusch einer Tür. Jetzt kann ich sie besser verstehen. Sie atmet tief durch.

      »Jetzt geht es besser. Wie kann ich helfen?«

      »Ich ruf an, weil Sie ein Kindermädchen suchen.«

      »Eine Nanny, ja!«

      Sie fragt nach meinem Namen, meinem Wohnort.

      »Oh, das klingt doch gut, da müssen Sie in der Früh nur den Gürtel überqueren und schon sind Sie bei uns.«

      Sie fragt nach meinem Alter. Ich lüge und mache mich zwei Jahre älter. Das Schweigen im Telefon zieht sich in die Länge.

      »Wissen Sie … Wir haben uns eigentlich jemand Älteren vorgestellt.«

      Sie beginnt sich für meinen Anruf zu bedanken. Ich lege auf.

      Ich rufe beim Möbelhaus an, das die Werbung mit der netten Oma hat. Die haben ein Restaurant und suchen eine Speisenträgerin. Küche wäre mir lieber, aber was soll’s. »Schicken Sie Ihre Bewerbungsunterlagen an die angegebene Mail-Adresse, wir melden uns dann bei Ihnen.«

      »Was sind Bewerbungsunterlagen?«, frage ich.

      Die Stimme seufzt.

      »Letztes Schulzeugnis, tabellarischer Lebenslauf, Motivationsschreiben … Am besten, Sie googeln einfach mal Bewerbungsschreiben und Muster.«

      Wieder schweigt es im Handy. Ich suche krampfhaft nach etwas, was das Gespräch verlängern könnte. Mir fällt nichts


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