Der behauste Mensch. Kurt E. Becker
Lebensgefühl der Trümmergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg, die mit ihren Behausungen auch ihre Heimat verloren hatte, in Ruinen leben und aus den Ruinen ein neues Behaustsein schaffen musste. Unbehaust lebt freilich auch der Obdachlose in einem Zustand des Mangels an einem Dach über dem Kopf, aber durchaus an einem ihm angestammten Platz, der auch verteidigt wird – entweder vorübergehend oder auf Dauer. Aber auch »mobile« soziale Gruppierungen, wie wir sie etwa bei den Nomadenvölkern oder in der US-amerikanischen Wohnwagenkultur finden, gehören in die Kategorie des »Unbehaustseins« ohne spezifische Sesshaftigkeit, die identität- und heimatstiftende »mobile« Behausung quasi von Ort zu Ort bewegend. Im Rückgriff auf literarische Texte von Goethe über Rilke bis Kafka analysiert Holthusen die Situation des modernen Menschen in seinem Geworfensein schlechthin, verbunden mit einer zwangsläufigen Loslösung von alten geistigen Ordnungen. Der »unbehauste Mensch« steht insofern auch als Symbol für die Zerbrechlichkeit behausten Existierens. »Hausen« ist keine Selbstverständlichkeit. Das verdeutlicht der als Flüchtling Unbehauste genauso wie der im Krieg ausgebombte Unbehauste oder der Obdachlose als – in der Regel – Opfer der modernen Leistungs-, Überfluss- und Konsumgesellschaft.
Behaustsein ist das Ergebnis eines umfassend-schöpferischen Prozesses in und an den Wirklichkeiten unserer Welt und wird so als Wirkung wiederum selbst zum kulturellen, sozialen, politischen, ökonomischen und ökologischen Element des Wirklichen. Diese Wirkung kann auch beschrieben werden als umfängliche Arbeit des Menschen an der Welt; sie beinhaltet im Ergebnis das So-und-nicht-anders-Sein des Menschen in einer Zeit und an einem Ort. In diesem existentiellen Sinn schreibt Martin Heidegger: »Bauten behausen den Menschen.« Und weiter: »Das althochdeutsche Wort für bauen, ›buan‹, bedeutet Wohnen. Dies besagt: bleiben, sich aufhalten … Die Art, wie du bist und ich bin, die Weise, nach der wir Menschen auf der Erde sind, ist das Buan, das Wohnen. Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen.« Schließlich erwächst aus dem Hausen aber, Heidegger folgend, auch eine doppelte Verpflichtung zum Bewahren der Schöpfung vor Schaden und zur Vermeidung von Bedrohungen: »Der Grundzug des Wohnens ist … Schonen. Er durchzieht das Wohnen in seiner ganzen Weite. Sie zeigt sich uns, sobald wir daran denken, dass im Wohnen das Menschsein beruht, und zwar im Sinne des Aufenthalts der Sterblichen auf der Erde.« Und diese Erde gelte es zu bewahren, nicht zuletzt vor Missbrauch durch den Menschen und seine Technik.
»Heuristik der Furcht«
Die Arbeit an der Welt, das Herrichten der Erde zur Basis menschlicher Behausungen, hat uns die Möglichkeit globalen Betroffenseins von Katastrophen vor Augen geführt und damit der Globalisierung eine bizarre Dimension des Schreckens verliehen. Aus jenen kollektiven Bedrohungen, die die Menschen selbst hervorgebracht haben, leitet Hans Jonas eine »Heuristik der Furcht« ab, die in der Tat neue Wertsetzungen und Orientierungen ermöglichen könnte. Es geht um eine Re-Humanisierung der Technik, deren verantwortungslose Verselbständigung und Ent-Humanisierung sicherlich nicht in der Absicht ihrer Erfinder angelegt war. Das damit verbundene Paradoxon ist das bizarre Symbol unseres zivilisatorischen Gewordenseins schlechthin. Dem Menschen als »Mängelwesen« (Arnold Gehlen) – ohne Kleidung, vier Mauern um sich herum und ein Dach über dem Kopf überhaupt nicht überlebensfähig – ist es dank seines Genius einerseits, wegen seiner Hybris andererseits gelungen, sich zunächst seine Existenz gegenüber den Unbilden der Natur zu sichern, sich anschließend aber in eine existenzbedrohende Krise hineinzumanövrieren. Und letztlich als Initial dieses »Manövers« steht der oikos – im Griechischen das Haus oder auch das Herdfeuer, seit Aristoteles der Ursprung aller Ökonomie, die nichts anderes war als »Hauswirtschaft«, die Bewirtschaftung der einzelnen Behausung zum einen und die Bewirtschaftung der kollektiven Behausung, der polis, zum anderen.
Die Konsequenzen der daraus folgenden atemberaubenden Entwicklung sind bekannt. Sie führte in unserer Moderne zu einem steten Diskurs zwischen Ökologen und Ökonomen. Denn die ökonomische Eindimensionierung der zivilisierten Welt mit ihren Mechanismen zur Ausbeutung der Erde und der Spezies vor allem in der Dritten Welt hat das Ökosystem über alle Grenzen hinaus mit vielen irreversiblen Schäden belastet. Im Ausdruck »Anthropozän« für das vom Menschen geprägte Erdzeitalter klingt eine Bilanz des Schreckens mit an. In der Enzyklika »Laudato si’« aus dem Jahr 2015 bilanziert Papst Franziskus im ersten Kapitel unter der Überschrift »Was unserem Haus widerfährt« umfassend die Folgen von Umweltverschmutzung und Klimawandel in all ihren Facetten von der Abfall- und Wegwerfkultur über die Wasserfrage und den Verlust der biologischen Vielfalt bis hin zur generellen Verschlechterung der Lebensqualität und zum sozialen Niedergang. Seine Kritik gilt dem globalen Wirtschaftssystem, in dem Spekulation und Streben nach finanziellem Ertrag vorherrsche ohne Rücksicht auf die Auswirkungen auf die Menschenwürde und die Umwelt. Franziskus folgert: »So wird deutlich, dass die Verschlechterung der Umweltbedingungen und die Verschlechterung im menschlichen und ethischen Bereich eng miteinander verbunden sind.«
Speziell die Themenkomplexe Umwelt, Klimawandel, Atommüll, Müllbelastung, aber auch die demografische Entwicklung sind Gegenwartsrisiken und bereits bei Hans Jonas genauso inkludiert wie die daraus folgenden Konsequenzen notwendigen nachhaltig-ökologischen Wirtschaftens. Damit verbunden: die Frage nach der Urbanisierung unseres Planeten. Und so sind wir bei einer das menschliche Kollektiv betreffenden Fragestellung. Denn die Einzelnen und die Veränderung ihres Verhaltens sind zwar wichtig. Aber von entscheidender Bedeutung ist die Frage nach einer neuen kollektiven Ethik in dieser so und nicht anders gewordenen Wirklichkeit unserer Welt im ersten Jahrhundert des zweiten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung – und das ganz im Sinn des päpstlichen Schreibens »Laudato si’«. Was 2000 Jahre gutging (mit allerdings beständig zunehmenden Risiken vor allem im 20. und 21. Jahrhundert), kann nicht hoffnungsfroh in alle Zukunft linear fortgeschrieben werden. Denn die Risiken der Urbanisierung mit all ihren Implikationen, wie wir sie seit Jahren kennen und diskutieren, werden nicht kleiner, sondern größer. Denken wir exemplarisch nur an die CO2-Emissionen der privaten Haushalte oder die der Wegwerfgesellschaft geschuldeten Plastikabfälle, die den direkten Weg von der Stadt in die Ozeane finden. Nicht von ungefähr machte vor einigen Jahren das Wort von der »Risikogesellschaft« (Ulrich Beck) die Runde. Die Stadt der Menschen, einstmals eine Enklave in der nichtmenschlichen Welt, breite sich über das Ganze der irdischen Natur aus und usurpiere ihren Platz, schreibt Hans Jonas. Im Zusammenhang mit dieser Usurpation dürfen nicht unerwähnt bleiben – mehr noch: müssen in besonderer Art gebrandmarkt werden – die menschenverachtenden Verwerfungen des Hausens etwa in den brasilianischen Favelas, den südafrikanischen Townships oder den elendigen Flüchtlingslagern überall auf der Welt, sogar innerhalb der Verantwortung unserer europäischen Zivilisation, einen Skandal in Permanenz markierend. Fraglos steht unser Verständnis menschlichen Seins auf dem Prüfstand der Vernunft und der Menschlichkeit.
Die Natur wehrt sich. Das Wetter schlägt Kapriolen, die Erderwärmung schreitet unaufhaltsam voran und die Sturmfluten werden häufiger und heftiger. Aber auch die große Zahl neu aufgetauchter krankmachender Erreger, von HIV über Ebola bis zu den Coronaviren, dürfte mit großer Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen sein, dass die natürlichen Lebensräume der Tierwelt immer rascher zerstört werden. Tiere, deren eigene Behausungsterritorien der Urbanisierung zum Opfer fallen, weichen in die Nähe menschlicher Siedlungen aus und übertragen Erreger auf den Menschen. Wie notiert Hans Jonas bereits Ende der 1970er-Jahre mit prophetischer Weitsicht? Das Natürliche sei von der Sphäre des Künstlichen verschlungen worden, und gleichzeitig erzeuge das totale Artefakt, »… die zur Welt gewordenen Werke des Menschen, die auf ihn und durch ihn selbst wirken, eine neue Art von ›Natur‹, das heißt eine eigene dynamische Notwendigkeit, mit der die menschliche Freiheit in einem gänzlich neuen Sinn konfrontiert ist«.
Prozess der Rationalisierung
Als »Berufsmenschen ohne Herz und Genussmenschen ohne Geist«, als arbeitsteilige Fachidioten und hedonistische Konsumenten also, charakterisierte Max Weber den modernen Menschen im Zeitalter des entfesselten Kapitalismus, von ihm häufig auch als »Raubtier-Kapitalismus« bezeichnet. Verbunden war diese Art Kapitalismus Weber zufolge mit einem universalen Prozess der Rationalisierung, im Verbund ein »stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit« schaffend, in dem der Einzelne genauso wie das Kollektiv in die Zwangsjacke ökonomischer Zweckrationalität gesteckt wurde. Unter »Rationalisierung« verstand Weber den zivilisatorischen Modernisierungsprozess schlechthin in seinen vielfältigen Gestalten von