Der behauste Mensch. Kurt E. Becker

Der behauste Mensch - Kurt E. Becker


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der Welt«. Die Wissenschaft beraubte und beraubt die Welt ihres Zaubers und damit auch ihrer Götter. Das zauberhaft-irrational Göttliche wird ins Abseits gedrängt und fristet ein eher kümmerliches Dasein gegenüber der dominanten nüchtern-anonymen Ratio, die – wie in alten Zeiten die Religion – alle Wirklichkeiten unserer Zivilisation durchdringt und auch im Sozialen auf alle Strukturen und Funktionen Einfluss nimmt. Weber zufolge transformieren »die kalten Skeletthände der rationalen Ordnung« die westlichen Gesellschaften bis auf ihre Fundamente. Die vereinigten Kräfte aus Kapitalismus, Wissenschaft, Bürokratie und Rationalisierung werden zur schicksalhaften Macht, vor der es kein Entrinnen gibt. Genuiner Ursitz dieser Macht ist die Stadt, in ihrer »ganzen Organisation darauf eingerichtet, Eigenwilligkeit und Selbständigkeit abzutöten«, wie uns der US-amerikanische Architekturkritiker Lewis Mumford wissen lässt. Er analysiert demaskierend: »Auszuwählen, zu unterscheiden, Klugheit, Mäßigung oder Vorsicht zu üben, Selbstbeherrschung bis zur Enthaltsamkeit zu treiben, andere Maßstäbe als diejenigen des Marktes zu besitzen, sich andere Grenzen als diejenigen des alsbaldigen Verbrauchs zu setzen – das alles ist böse Ketzerei, die den ganzen Mythos von Megalopolis in Frage stellen und ihre Wirtschaft zum Erliegen bringen würde.«

      Die Wirtschaft in der Stadt: ausgerichtet auf Konsum in Permanenz, unbeschränktes Wachstum und einen totalen Markt, vom Einzelnen bedingungs- und bewusstlos Konformität einfordernd. Wo kann in einem solchen Szenario, in dem das Individuum zum Appendix quasi ausschließlich kommerziell-ökonomischer Mechanismen und Interessen wird, Hoffnung keimen?

      Mumford, nonkonformistischer Autor eines epochalen zweibändigen Werkes über »Die Stadt«, antwortet wie folgt: »Eine brauchbare Lösung dieses Problems, um das sich die ganze Zukunft unserer städtischen Kultur dreht, hängt davon ab, dass wir das Bild einer organischeren Welt entwickelten, welches allen Dimensionen der lebendigen Organismen und der menschlichen Persönlichkeit gerecht wird.« Und weiter: »Daher müssen wir uns jetzt die Stadt nicht in erster Linie als einen Ort vorstellen, wo man Geschäfte macht oder regiert, sondern als wichtiges Organ, das der neuen menschlichen Persönlichkeit Ausdruck verleiht und Geltung verschafft. Der Persönlichkeit des ›Menschen in der einen Welt‹.«

      Vielfalt der Perspektiven

      Es sind die immer wiederkehrenden und immer brachialer werdenden Krisen, welcher Provenienz diese auch immer sein mögen, die mit den Fragen nach ihrer Lösung auch immer wieder die »globale« Welt thematisieren, eine universale Hoffnung verbindend mit den Geboten einer menschheitlichen Ethik verbindlichen Hausens. Wissen, Ethik und Hoffnung im Verein malen kein neues Bild vom Menschen in seinem Behaustsein, eher ein seit Jahrtausenden bekanntes. Eines allerdings, das viel Spielraum für Entwicklungen lässt – positive wie negative.

      Die Vielfalt der Perspektiven beim Blick auf menschliches Behaustsein in der Geistesgeschichte ist auf jeden Fall bemerkenswert. Fast alle Themen, die uns Heutige interessieren, haben zu ihrer Zeit auch unsere Vorfahren beschäftigt. Die Ästhetik der Architektur findet dabei genauso ihren Platz wie deren Gewichtung nach Form und Funktion oder deren soziale Aspekte, genauso wie ihre Wirkung in der Stadt oder in der Natur (als von der Architektur einzelner Objekte oder eines Dorfes beherrschte Landschaft). Ökonomische Aspekte sind mit dem Behaustsein per se verbunden, denn am Anfang aller systemischen Wirtschaft, wie wir sie kennen, steht der oikos, Haus und Herdfeuer also, neben der Kleidung Überlebensgarant des Mängelwesens Mensch. Auch die Frage nach dem Sozialen und dem Für und Wider von Eigentum, verbunden mit religiöser oder politischer Einflussnahme, hat die Menschen von Epoche zu Epoche begleitet und immer wieder zu neuen Antworten herausgefordert und inspiriert. Die Psychologen haben sich auf die Spurensuche nach dem seelischen nervus rerum des Behaustseins begeben wie die Philosophen nach dessen Warum und Sinnhaftigkeit.

      Sehr persönliche Zugänge zum Behaustsein in unterschiedlichen familialen und sozialen Umgebungen verschaffen uns die auf Lebenserinnerungen basierenden Gespräche. Jüngeren Datums sind die in dieser Einleitung skizzierten Fragen nach Ökologie und Nachhaltigkeit, beherrschend in der Vergangenheit dagegen eher die Fragen nach der Versorgung, auch der energetischen, und der Sicherung menschlichen Existierens schlechthin. Überhaupt sind mit der Frage der Existenz Vertreter aller wissenschaftlichen Disziplinen befasst, mündend naturgemäß auch und speziell in den Themenkomplex des Miteinanderumgehens in familialen, dörflichen und städtischen Konstellationen des Sozialen, vulgo: die Ethik. Generell erweist sich die Frage nach der Ethik im Hausen als Essenz auch unserer Gegenwart und mehr noch unserer Zukunft: Welche Lehren für unser Selbstverständnis in dieser Zeit, für den Umgang miteinander, vor allem aber auch für den Umgang mit der Natur und deren Ressourcen müssen wir ziehen, um in Würde überlebensfähig zu bleiben?

      Die Corona-Pandemie hat uns Segen und Fluch unserer Art des Hausens vor Augen geführt und uns einmal mehr mit der unabweisbaren Tatsache konfrontiert, dass wir, unserer Ratio-Gläubigkeit zum Trotz, Entscheidungen ins Ungewisse hinein treffen und dafür Verantwortung übernehmen müssen. Nach Corona ist das zivilisatorische Grunddilemma denen, die auf die wesentlichen Fragen unserer Existenz zu antworten versuchen, deutlicher vor Augen als vorher: Unsere gesamte Lebensweise überall auf diesem Planeten, speziell aber unser Behaustsein, steht auf dem Prüfstand. Corona hat gezeigt, dass ein transnationales Gemeinsames (mit Ausnahme des globalen Betroffenseins von der Pandemie) noch nicht vorhanden ist. Die erhoffte, gewünschte, beschworene oder auch nur herbeigeredete »eine Welt« ist letztlich nur die eine von der Pandemie betroffene Welt; transnationaler Gemeinsinn, auch ein konzertiertes Handeln über Ländergrenzen hinweg, ist dagegen eine Utopie.

      Utopie einer besseren Welt

      Eine Utopie, ja, gewiss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Denn jede große Hoffnung basiert letztlich auf einer Utopie von einer besseren Welt, einem besseren Leben und einem besseren Behaustsein auf unserem blauen Planeten. Und zwar für alle Menschen. Denn letztlich liegt es an der Spezies selbst, ob die Erzählung von der Menschheit ihren Platz in der Erd- und Weltgeschichte als Dystopie oder als Utopie finden wird – unter stillschweigendem Einbezug der Tatsache, dass es eine Fortschreibung der Erd- und Weltgeschichte nur unter utopisch-visionären Gesichtspunkten geben kann. Denn eine dystopische Realität wäre, menschheitlich betrachtet, das Ende von allem, auch das Ende aller Erzählungen. Aber »der Mensch hofft, solange er lebt«, wie wir von Theokrit vor mehr als zwei Jahrtausenden gelernt haben. Und in den Text vom Sinn seiner Existenz, der jedem Menschen eingeschrieben ist, ist auch die Hoffnung miteingeschrieben, in der Bedrohung mehr denn je.

      Was für den Menschen generell gilt, gilt auch für den Menschen als Behausten: Er trägt seinen Zweck und damit auch seine Hoffnung in sich. Die Entelechie – der Endzweck – des Behaustseins hat sich über die Zeiten hinweg nicht verändert. Als Behaus­ter ist der Mensch ein im Haus mit seinesgleichen Schutzsuchender und -findender. Dabei gewinnt das englische Sprichwort »My home is my castle« speziell vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie eine vieldimensionale Bedeutung. Die auch digital hochgerüstete Behausung mit ihren technischen Vehikeln sichert einerseits vielen Menschen den Arbeitsplatz durch vernetzte, örtlich und zeitlich grenzenlose Heimarbeit unter gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer zumindest virtuellen Teilhabe am sozialen Leben, birgt andererseits aber auch die Gefahr, sich dem »Allzeit-Jetzt«, dem »Rund-um-die-Uhr«-Diktat der digitalen Welt auszuliefern, um wenigstens zwei von zahlreichen real sich ergebenden und im konkreten Beispiel einander bedingenden Phänomenen zu erwähnen.

      Nicht vernachlässigt werden darf auch die Frage nach einer gesunden Behausung – Gesundheit definiert in einem umgreifenden Sinn des Wortes von den medizinischen Herausforderungen über die psychologischen bis hin zu den sozialen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die These, dass in unserem zivilisatorischen Gewordensein ein gesundes Leben künftig ausschließlich als Ergebnis – im besten Sinn des Wortes – nachhaltigen Hausens möglich sein wird. Hinzuweisen ist last but not least aber auch auf die Relevanz wissenschaftlicher Forschung und ein damit verbundenes Fortschreiten zur Entlastung menschlichen Lebens auf diesem Planeten. Denn nur wissenschaftliche Erkenntnis im Verbund mit »guter« Technologie liefert uns die Vision eines menschengemäßen zukünftigen Lebens und Hausens. Wie auch immer: Dass die essentielle Schutzfunktion der Behausung unter den Bedingungen einer zunehmenden, quasi apokalyptischen Gefährdung unserer Welt auch weiterhin höchste Relevanz beanspruchen muss, ist das bleibende Vermächtnis nicht zuletzt jener Persönlichkeiten


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